Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

Nie hatte sie sich so entblößt, vor allen. Sie dachte aber, keine Wahl zu
haben – sie waren umgeben von bewaffneten Askaris –, und hatte sich mit
verbissenen Lippen auf die Schmach eingestellt. Doch während sie ihren
Busen entblößte, war Attila – dessen Namen sie noch nicht kannte – zu dem
Mann gegangen und hatte etwas zu ihm gesagt. Der hatte das Gesicht hinter
seiner schwarzen Kiste gehoben und sie durch die dicken Brillengläser
abschätzig angesehen. Sie hatte innegehalten und kurz darauf hatte der Mann
ihr nervös zugewunken: weg, weg.
Lange danach, als sie schon seit einem Jahr mit Attila zusammenlebte,
fragte Abeba ihn, was er damals zu dem Mann gesagt habe, damit er sie
gehen ließ.
»Dass du zu schön bist. Viel schöner als eine italienische Frau.«
Sie spürte eine Wärme in ihrer Brust aufsteigen. »Schöner als eine
Weiße?«
»Ja, obwohl du schwarz bist.«
»Ich bin nicht schwarz. Ich bin rot.«
Er brach in Gelächter aus. »Rot! Du bist gut.« Er packte sie am Ellbogen.
»Und was ist mit diesem kaffeebraunen Arm?«
Sie hätte ihm gerne erzählt, was jedes amharische Kind wusste: dass
nämlich ursprünglich ihr Volk dieselbe helle Haut der talian gehabt hatte, die
sich aber unter der afrikanischen Sonne dunkel gefärbt hatte. Weiß konnten
sie sich nun nicht mehr nennen, aber schwarz waren die Sklaven: die Nuer,
die Berta, die Shangalla. Die Amharen nicht – sie waren rot. Doch Abeba
hatte geschwiegen. Von klein auf hatte sie die Kunst gelernt, nicht zu
widersprechen. Dennoch begriff sie weiterhin nicht, warum dem talian mit
der Brille ihre Schönheit nicht gefallen hatte.
»Weil du die italienischen Frauen hässlich dastehen lässt«, beantwortete
Attila ihre Frage.
Abeba hielt das für einen Witz und küsste ihn lachend.
Dabei war es wirklich so.
An jedem einzelnen Tag der Expedition hatte Cipriani zugeben müssen,
wie attraktiv die Abessinierinnen waren. Nichts zu machen, selbst nach dem
klassischen Kanon der Anthropometrie waren sie zum überwiegenden Teil
schön. Als Wissenschaftler mit einem Geist, der frei von den Fesseln der
Vorurteile war, stellte er fest, dass die Unterlegenheit der Rasse an manchen
dieser amharischen Mädchen wahrlich schwer festzustellen war im Vergleich

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