Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

ihrer Lieblingsenkelin gekommen war. Zu viele Geschichten hörte man auf
dem Markt über Frauen, die von den Italienern behandelt wurden wie
Sklavinnen oder noch schlimmer, denn einer Sklavin gibt der Herr
wenigstens genug zu essen, damit sie nicht umkommt. Von dem Residenten
eines Nachbarbezirks erzählte man sich, dass er gegen eine Handvoll teff den
Ärmsten, die nur Nahrung hatten, wenn andere sie wegwarfen, also fast nie,
ihre jüngsten Töchter abkaufte. Sieben- oder achtjährige Mädchen, denen er
Essen gab und sich von ihnen Papa nennen ließ, um dann Sachen mit ihnen
zu machen, die kein guter Christenvater jemals seinen Kindern antun würde.
Sie wusste aber, dass es auch andere talian gab, die den Frauen, die sie sich
nach Hause holten, schöne Stoffe für Kleider kauften, ihnen Fleisch und
Kräuter zu essen gaben an den Tagen, an denen nicht gefastet wurde, und die
sie nie oder selten schlugen. In solchen Fällen profitierte auch die Familie der
Frau davon: Früher oder später kann es immer nützen, jemanden zu kennen,
der die Macht hat; und sie hatten nun mal die Macht. Zudem war Abeba eine
geschiedene Frau, unfruchtbar und, mit fast siebzehn, entschieden nicht mehr
jung. Sie würde nur schwer noch einmal einen guten Mann finden. Natürlich,
sie konnte immer noch Prostituierte werden, doch obschon sie damit autonom
wäre und viele Vorteile hätte, war es doch ein sehr mühsames Leben.
Eine heikle Entscheidung.
Die Großmutter hatte die Bohnen geröstet, zermahlen, kochen lassen,
abgeseiht und den Kaffee, mit einem Rautenzweig umrührend, in die
Tässchen gegossen. Dabei hatte sie ihn die ganze Zeit angesehen. Der erste
Eindruck war nicht negativ. »Dieser talian ist mit sich selbst zufrieden, ein
Hinweis darauf, dass er nicht grausam ist. Und er ist eitel, was ebenfalls gut
ist: Er würde nicht wollen, dass die Leute denken, er behandelt sie schlecht.«
Attilio hatte einen Askari als Dolmetscher mitgebracht. Die Großmutter
verlangte, dass er den damoz eingehe, eine Ehe auf Zeit, die auch »Blut und
Schweiß« hieß, weil er diese vergießen sollte, um seine Frau standesgemäß
zu unterhalten. Abeba fiel es schwer, ruhig zu bleiben und den Mund
geschlossen zu halten. Sie war ganz in Weiß gekleidet, wie die Tradition es
verlangte, und ihre Großmutter legte ihr noch ein Bündel mit Gebeten um den
Hals. Zwei Zeugen überprüften, ob der talian alles verstand und die
Bedingungen akzeptierte: ihr so viel wie möglich zu essen zu geben, sie nicht
zu schlagen, ihren Kindern ein Vater zu sein. Die Großmutter sagte dem

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