Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

den flachen, weichen Teig der injera dachte, der mit soßennassen Fingern in
Stücke geteilt wurde. Doch seit Attilio das Brot als »dreckigen Lappen«
bezeichnet hatte, bereitete sie es nicht mehr zu, auch nicht wenn sie allein
war. Auch sie aß jetzt nur noch Nudeln, Passatelli, Tortelli und die
Fleischgerichte, die er so gern mochte, obwohl sie ihr schal und
geschmacklos vorkamen, wie der Hackbraten. Nur als Attilio sie gebeten
hatte, ihm Leber mit Zwiebeln zu kochen, hatte sie das mandelförmige
Gesicht zu einer angeekelten Miene verzogen.
»Ich koche dir doch kein Sklavenfutter!«, hatte sie ausgerufen.
Attilio war so überrascht über die Weigerung, die einzige in all ihren
gemeinsamen Jahren, dass er nicht mehr darauf zurückkam.
Gemeinsam verließen sie das Haus nur am Sonntag. Abeba ging in die
Kathedrale des Heiligen Georg, und Attilio begleitete sie, indem er zwei
Schritte vor ihr herlief. Dann setzte er sich in ein Café des neuen Viertels
Piazza auf dem Hügel und wartete, bis die Messe vorbei war.
Mehr als einmal beobachtete Attilio aber, dass Abeba die Kirche gar nicht
betrat, sondern auch dann noch draußen stand, als die Messe bereits
begonnen hatte, zusammen mit den vielen anderen Leuten, die sich immer im
Kirchhof drängten – die Attilio auch vor allen anderen Kirchen in Abessinien
gesehen hatte. Und wenn er zurückkam, stand sie ebenfalls draußen.
»Was macht ihr Abessinier da bloß vor euren Kirchen?«, fragte er eines
Tages auf dem Heimweg. »Immer stehen die ganzen Leute herum, wie auf
dem Marktplatz! Was ist das für eine Frömmigkeit, wenn ihr nicht einmal in
die Kirche hineingeht ...«
Abeba brach in Gelächter aus. An der koptischen Messe, erklärte sie,
durfte nur teilnehmen, wer rein war. Und wer am Vorabend nik-nik gemacht
hatte, war unrein und musste daher draußen bleiben. Viele von denen
wiederum, die draußen blieben, waren überhaupt nicht unrein, sondern taten
nur so. Sie schliefen mutterseelenallein mit ihren Flöhen, wollten es aber
nicht zugeben, damit niemand auf die Idee käme, an ihrer Manneskraft zu
zweifeln. Wie auch die Ehefrauen ab einem bestimmten Alter, die gerne
glauben machen wollten, dass ihre Männer sie noch begehrten.
»Die Kirche toleriert nicht einen Hauch von Freiheit!«, deklamierte
Attilio mit einem kleinen Lächeln.
Abeba verstand nicht, was er meinte, sah ihn aber auf eine Art an, die
seine Begierde entfachte.

Free download pdf