Alle ausser mir

(Jeff_L) #1
Attilio las nicht mehr weiter.

Ein einziges Mal gingen sie gemeinsam auf den Markt von Teklehaimanot in
dem staubigen einheimischen Teil der Stadt. Attila wollte Abeba eine neue
shamma kaufen, und sie sollte sie sich aussuchen. Er wusste, dass es ein
Risiko war, sich mit seiner Madama in der Öffentlichkeit zu zeigen. Doch in
diese Gegend der Stadt kamen Italiener nur sehr selten, auch um nicht die
stinkigen, jahreszeitlich bedingten Flüsse überqueren zu müssen, die diesen
Stadtteil von dem italienischen Viertel trennten. Einmal mehr verließ er sich
auf sein Glück.
Abeba entschied sich für ein feines Tuch mit grünen und ockerfarbenen
Bordüren. Attilio fragte nicht nach dem Grund und erfuhr daher nie, dass sie
es als Heilmittel für ihr Heimweh auswählte – in den Farben ihres
Geburtsdorfes. Nach dem Kauf machten sie sich auf den Rückweg, er bahnte
ihnen – wie immer zwei Schritte vor ihr – den Weg zwischen den Händlern
hindurch, die auf dem Boden sitzend ihre Ware feilboten – einen Stapel Felle,
zwei lebende Hühner und ein paar Eier, einen Turm mit rostigen Töpfen,
kleine Baumwollwölkchen, die noch versponnen werden mussten. Plötzlich
sah Attilio eine Frau auf sich zukommen, die wie blindlings mit
unkoordinierten Bewegungen hin und her schwankte, als sei sie betrunken.
Ohne zu wissen warum, setzte sein Herzschlag kurz aus.
Um den Kopf trug die Frau eine Art Fellaureole, die wie ein Dornenkranz
aussah. Über das vorne offen stehende Hemd hing eine Unzahl roter,
ausgefranster Bänder, die sich bei jeder Bewegung regten wie blutige
Zungen. Schreie kamen aus ihrem aufgerissenen Mund, in dem offenbar kein
einziger Zahn fehlte, im Gegenteil, sie schien mehr zu haben als andere
Menschen. Hinter ihr scharwenzelte eine Schar Kinder einher, die sorgsam
darauf achteten, weder mit ihren Kleidern noch irgendwie sonst mit ihr in
Berührung zu kommen. Die Händler zogen die Ware beiseite, um sie
vorbeizulassen, die Ziegen trotteten unter Staubwolken davon, um ihr nicht
zu begegnen.
Sie konnte achtzig oder dreißig sein, sie konnte riesig groß und im
nächsten Moment winzig klein aussehen, sie stolperte, drehte sich um sich
selbst, wechselte zwischen kleinen Trippelschritten und weiten Sprüngen, bei
denen sie fast das Gleichgewicht verlor. Sie schien unter dem Einfluss
irgendwelcher Substanzen zu stehen, machte gleichzeitig einen martialischen

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