verstehen zu können, was ein anderer an Zeichen aufs Papier gebracht hatte.
Vielleicht war es so, als schaue man in den Kopf eines anderen hinein. Wie
der Großvater, wenn er lange gefastet hatte, dir in die Augen sah und jeden
deiner Gedanken kannte.
»Was steht da?«, fragte sie.
Attilio war erstaunt und belustigt über ihre Neugierde. ›Komplizierte
Sachen, die du nicht verstehen würdest‹, wollte er schon sagen. Doch dann
überlegte er es sich anders, dachte: ›Warum eigentlich nicht?‹, und begann
ihr vorzulesen.
»Das Rassenmanifest. Punkt eins: Es gibt Menschenrassen. Punkt zwei:
Es gibt große Rassen und kleine Rassen.«
»Das stimmt«, kommentierte Abeba überzeugt.
Attilio sah verblüfft von seiner Zeitschrift auf. Er fragte sich, was sie
verstanden hatte.
Abeba las die Frage in seinen Augen und antwortete darauf. »Die
Amharen sind eine große Rasse. Die Italiener sind eine große Rasse. Die
Galla sind eine kleine Rasse. Deshalb können sie auch nur Sklaven sein.«
Attilio starrte sie verblüfft an. Dann fuhr er zögernd fort.
»Punkt drei: Das Konzept der Rasse ist ein biologisches Konzept.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Das bedeutet, dass die Rasse im Blut liegt. Und man kann das gute Blut
nicht ändern und das schlechte auch nicht.«
Abeba lächelte vor Freude, den perfekten Ausdruck für das gefunden zu
haben, was sie schon immer dachte. »Ja! Das stimmt. Das sagt man auch bei
uns: Die Seele des Galla ist wie der Magen einer Kuh, nie ganz sauber.«
Attilio sah sie leicht befremdet an. Er bereute allmählich, dass er ihr
vorlas. Für Abeba war das Manifest kein Ausdruck für die Überlegenheit der
arischen Rasse, sondern die der amharischen! Wie würde sie wohl den
siebten Punkt kommentieren –›Es ist an der Zeit, dass die Italiener sich ohne
Scheu Rassisten nennen‹–, oder den neunten –›Die Juden gehören nicht der
italienischen Rasse an‹? Und vor allem den zehnten und letzten: ›Die
körperlich und psychologisch rein europäischen Charakterzüge der Italiener
dürfen auf keinen Fall wie auch immer verändert werden. Der rein
europäische Charakter der Italiener wird verändert durch die Kreuzung mit
jedweder außereuropäischen Rasse, die eine andere Kultur in die
tausendjährige Kultur der Arier hineintragen würde.‹
jeff_l
(Jeff_L)
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