Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

und des ganzen italienischen Volkes würde irreparabel beschädigt, wenn sie
am Ende durch gemeinsames Schlafen und Essen diese Negerinnen auch
noch mochten.
»Meine Negerin«, sagte sich der Richter mit der zufriedenen Verbitterung
desjenigen, der sich gern Schmerzen zufügt. Und schon hatte er ihr Bild vor
Augen. Wie sie in ihrem Haus in Asmara erwachte, wie sie eine Kelle Wasser
aus dem Holzbottich schöpfte und über sich goss, wie sie das lange Hemd
über den schwarzen Leib streifte. Die Sehnsucht ließ ihn die Augen
schließen. Einen Moment lang war er nicht mehr in seinem Büro in Addis
Abeba, an dem großen Schreibtisch aus Nussbaumholz mit der
Zeugenaussage des aktuellen Falls vor sich und den Rechtsbüchern im Regal
hinter sich. Er saß neben ihr auf der Veranda, mit ihrer Tochter
(»Lakritzbonbon! Schokolädchen!«), die unter dem Mückennetz leicht
zitternd atmete, und sie lauschten der fiebrigen Nacht der Hochebene. Für
einen Augenblick überkam ihn wieder die Ruhe des Gefühls, vollständig zu
sein.
Er riss die Augen auf. Schlug mit den Fäusten auf den Schreibtisch und
setzte sich auf.
Und wieder verordnete Richter Carnaroli sich, nicht weiterzudenken.
Seine Entscheidung war richtig, sagte er sich. Sie wusste es noch nicht,
aber in einem Jahr, wenn ihre Tochter im schulreifen Alter wäre, würde er sie
nach Italien schicken. In den Kolonien wehte ein immer üblerer Wind, wie
schon einmal vor fünfzehn Jahren, als er weggegangen war, sogar schlimmer.
Am Anfang war es nur eine leichte Böe, die aus den Fluren des
Schwurgerichts kam, doch dem Richter war längst klar, dass sie stärker
würde. Bis sie im Sturm endete. Also nichts wie weg, Schokolädchen, weg,
mein süßes Lakritzbonbon, dich wird niemand mehr so nennen, denn du wirst
fortgehen und deinen italienischen Namen mitnehmen. Fort aus Afrika, in ein
neues Leben mit neuer Identität. Deine Neue Welt wird Rom sein, ein
umgekehrtes Exil, weder Mutter noch Mutterland wirst du wiedersehen.
Mutterkontinent in deinem Fall.
Ihr hatte er noch nichts davon gesagt. Es brachte nichts, ihren
Trennungsschmerz vorwegzunehmen, solange sie sich noch in Asmara an
ihrem Mädchen erfreuen konnte. Jetzt erst recht, da man ihn von den beiden
abberufen hatte, an das neue Schwurgericht in Addis Abeba. Hier durfte
niemand von ihnen wissen.

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