Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

Die neue imperiale Hauptstadt aus Hütten und eilig hochgezogenen
Palästen hatte nichts von der Anmut Asmaras, wo er als junger Richter
hingekommen war, um mit Herzblut an dem Aufbau einer neuen
Rechtskultur mitzuwirken. Es war nicht einfach, das römische Recht mit dem
Gewohnheitsrecht übereinzubringen; es brauchte Fingerspitzengefühl und
Scharfsinn, manchmal auch moralische Vorurteilslosigkeit. Wie in dem Fall,
der viel Erstaunen ausgelöst hatte, als eine Kunama von elf Jahren ihren
frisch angetrauten Bräutigam beschuldigte, sie geschüttelt und vergewaltigt
zu haben. Am Ende hatte Carnaroli den Mann freigesprochen, weil – so hieß
es in der Urteilsbegründung –›die Mädchen der Kunama so eifersüchtig über
ihre Jungfräulichkeit wachen, dass sie sich herabgesetzt fühlen, wenn sie
ohne den Anschein von Kampf entjungfert werden. Siehe auch Art.
331 / 1889 des Kodex Zanardelli, der festlegt, dass mit zwölf Jahren eine de
jure anerkannte Notzucht durch lokale Umstände gemildert werden kann.
Das einheimische Gewohnheitsrecht setzt das Alter, ab dem die Frau
rechtsgültig über den eigenen Körper verfügen kann, auf neun Jahre fest.‹
Als sein Lakritzbonbon geboren wurde, viele Jahre später, musste er
wieder an das Urteil denken. Er hatte sich gefragt, ob er noch einmal so
entscheiden würde, jetzt wo er selbst Vater einer Tochter war. Neun Jahre
erschienen ihm plötzlich viel zu wenig, um »rechtsgültig über den eigenen
Körper verfügen« zu können – auch wenn er kaffeebraun war. Der Gedanke,
seine eigene, nicht weiße Tochter müsste sich den Gesetzen für indigene
Körper beugen, beunruhigte ihn. Dass sie nicht den Schutz genoss, unter dem
die Körperteile der italienischen Frauen standen. Das schien ihm so
inakzeptabel, dass er seine Entscheidung gefällt hatte.
Er hatte sie anerkannt. Er hatte ihr seinen Nachnamen gegeben. Nun hatte
sein Schokolädchen einen italienischen Namen – Clara Carnaroli –, und in
Italien sollte sich ihr Leben abspielen.
Es war nicht zu früh gewesen. Wenige Monate später legte eine
Verfügung des Generalgouverneurs und Vizekönigs Graziani fest, dass
Eingeborene niemals und unter keinen Umständen in den Stand eines
italienischen Staatsbürgers erhoben werden konnten. Die Mutter seiner
Tochter blieb das, was sie immer gewesen war: eine untergebene Negerin.
Was früher Kolonie gewesen war, war nun Imperium. Niemand wusste
besser als ein Jurist, dass die Umbenennung des Status quo immer mit der

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