Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

zielte mit der Metallöffnung nach unten auf die Körper, die an den Büschen
auf einem Felsband wenige Meter tiefer aufgekommen waren. Manche
bewegten sich noch. Ein Mann hatte die Augen geöffnet, lebte noch trotz des
roten Streifens, der ihm den Unterleib zerteilte, und rutschte langsam auf den
Abgrund zu. Attilio war es in diesem Moment unmöglich, in ihm die
gemeinsame menschliche Natur zu erkennen. Er drückte den Schalter des
Flammenwerfers. Eine kurze Feuerzunge schnellte hervor, erlosch aber sofort
und hinterließ nur die Andeutung von Hitze in der Luft. Wieder drückte er
auf den Knopf, mehrmals, doch es geschah nichts.
Sein Flammenwerfer war blockiert.
Attilio Profeti sah auf. Der Abgrund zu seinen Füßen öffnete sich ins
Leere, er ließ den Blick nach Westen hin schweifen. Die Täler fraßen sich in
Dunkelheit getaucht durch die Fläche des Hochlands, welches unter den
letzten Wellen des Lichts noch golden schimmerte. Eine Elster mit
nachtblauem Gefieder flog dicht an seinem Gesicht vorbei. Er hörte das
Rascheln der Flügel, die durch die Luft schlugen. Er folgte ihr mit den
Augen.
Außer mir.
Außer mir. Außer mir. Außer mir.
Die Elster wurde ein ferner Punkt in der klaren Luft und verschmolz mit
dem grünen Strahl der Sonne.


Zurück in der Hauptstadt erwarteten Attilio zwei Briefe. Lidio Cipriani
schlug ihm vor, ihm bei der Einrichtung der Übersee-Ausstellung zu
assistieren; seine Mutter fragte, ob er denn bald nach Italien heimkehre. Am
Tag vor der Abreise ging er zu Abeba. Nach dem Prozess war seine frühere
Madama in das Negerviertel gezogen, wo es keine Häuser aus Stein gab.
Er entledigte sich nicht einmal seiner Hose. Er nahm sie auf dem
Fußboden, ihr Handgelenk umklammert und die andere Hand auf ihrem
Gesicht. Zum ersten Mal tat er ihr weh. Doch danach röstete sie wie immer
die grünen Bohnen für ihn und kochte Kaffee, den sie mit einem Rautenstiel
umrührte. Attila nahm seine Tasse aus den Händen der Frau entgegen, die er
für unfruchtbar hielt und mit der er gerade einen Sohn gezeugt hatte.
»Ich reise ab«, sagte er, »aber mach dir keine Sorgen, ich komme wieder.
Ich komme immer wieder.«
Es war keine Lüge. Fünfundvierzig Jahre später sollte er wiederkommen,

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