Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

Als in dem kleinen Kino die Lichter wieder angingen, regte Attilio sich
nicht. Den Unterricht hatte er verpasst, da konnte er genauso gut warten, bis
es wieder dunkel im Saal war, um ungesehen hinauszugehen. In der Pause bis
zur nächsten Vorführung dachte er lange über das Schicksal von Fuß des
Windes nach. Er empfand Hass gegenüber dem oberblöden Wohltäter, der
diesen edlen Jungen aus seinem wahren Leben und seiner wahren Natur
gerissen und in solch ein Unglück gestürzt hatte. Die Moral des Films lag auf
der Hand. Ein Wilder muss unter Wilden leben, ein Weißer unter Weißen.
Die Wochenschau vor der nächsten Vorstellung begann. Auf der
Leinwand erschien ein Mann in schneeweißer Uniform mit langen Beinen
und dichten Haaren, die er nachlässig aus der Stirn gestrichen hatte, mit
kantigen, attraktiven Gesichtszügen. Attilio war froh, dass er noch geblieben
war. Das hier war sein persönlicher Held.
Die Größe und Stattlichkeit des nordischen Mannes, obwohl unweit von
Rom geboren, machten Rodolfo Graziani zur Idealbesetzung für die Rolle des
Übermenschen. Die italienischen Kinder teilten sich in zwei Hälften: die, die
ihm treu ergeben waren einerseits und die Fans von Marschall Badoglio
andererseits. Es war eine heiße und leidenschaftliche Rivalität, wie zwischen
den jeweiligen Fangruppen der Radrennfahrer Learco Guerra und Alfredo
Binda. Kein italienischer Junge konnte neutral bleiben. Otello zum Beispiel
hegte mehr Bewunderung für den Marschall, mit seinem grobschlächtigen
Äußeren des piemontesischen Bauern, den plumpen Händen, den Hosen eines
alten Bergsteigers, der fast zu viel vom Krieg gesehen hatte.
»Er macht nicht viele Worte und weiß, was er tut«, verteidigte er ihn mit
denselben Argumenten, die er von seinem Vater Ernani gehört hatte.
»Auch bei Caporetto?«, gab Attilio zurück.
Und Otello entgegnete: »In Vittorio Veneto hat aber Badoglio gewonnen,
nicht Graziani.«
Doch wenn Attilio den Riesen von General verteidigte, hörte er weder auf
Argumente noch auf Einwände militärischer Natur. Damit war er nicht allein.
Seine Ergebenheit Rodolfo Graziani gegenüber wurde von einem Großteil
seiner Altersgenossen geteilt, Säuglinge im Ersten Weltkrieg und Kinder
beim Marsch auf Rom. Wie viele seiner Generation hatte er das Gefühl, von
Kriegsruhm und faschistischen Heldentaten nur die letzten Krümel
abbekommen zu haben. Er brannte geradezu darauf, seinen eigenen Wert zu
beweisen, und General Graziani schien künftige, unsterbliche

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