Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

»Amerikanismus« anzustecken. Einige Zeit zuvor war in Lugo der Film
Rothaut gelaufen.
Wie immer hatte Attilio auch an diesem Morgen das Haus lange nach
Otello verlassen, der gerne pünktlich zur Schule ging. Im Vorbeirennen sah
er auf dem Bürgersteig vor dem Kino das Filmplakat an einem Holzständer.
Darauf prangte das Gesicht eines jugendlichen Mannes, nicht viel älter als er,
mit brauner Haut und Adlernase. Er hatte eine Kopfbedeckung aus Federn,
und an seinem Ohrläppchen pendelte der Pelz eines kleinen Tierchens als
bizarres Schmuckstück. Attilio kramte in seiner Tasche und fand ein paar
Münzen. Sie waren beim Stoffkauf für eine neue Hose übrig geblieben, und
die Mutter hatte sie nicht zurückverlangt. Genug für eine Eintrittskarte. Die
Vormittagsvorstellung sollte gerade beginnen. Attilio wartete, bis die
Wochenschau vorbei war, dann ging er hinein. Wenn irgendein Bekannter
ihn während der Schulzeit im Kino erwischte, würde er dies vielleicht dem
Vater sagen. Als es dunkel war, huschte er in den Saal.
Er duckte sich in einen der Holzstühle auf der Empore, obwohl niemand
auf ihn achtete. Die Leinwand kam ihm näher vor als sonst, weil nur wenige
Zuschauer in der Vormittagsvorstellung saßen und nicht der dichte
Qualmteppich der rauchenden Männer aus dem Parkett aufstieg. Die kahlen
Umrisse einer trockenen Wüste aus riesigen Felsen zeichneten sich daher
überraschend klar ab. Attilio sperrte die Augen auf. Er war ein Kind der
flachen Ebene und hatte noch nie Berge oder Felswände gesehen, schon gar
nicht von so eigenartiger Form.
Der kleine Fuß des Windes lebt mit seinem Vater in einem
Indianerreservat. Er versteht es, geschickt mit Pfeil und Bogen umzugehen,
und ist ein erfahrener Reiter. Kurz, ein glücklicher Junge, der mit der Welt
und seinem Stamm, den Navajos, im Reinen ist. Gegen den weisen Willen
seines Vaters überzeugt ein weißer Lehrer voller Ideale ihn, die Schule im
Nachbardorf zu besuchen. Hier ist er der einzige Junge mit roter Hautfarbe.
Fuß des Windes ist sehr intelligent und kann am Ende besser lesen, schreiben
und rechnen als viele seiner Mitschüler. Was an sich kein Übel ist, würde er
nicht unvorsichtigerweise auch den Lebensstil seines Lehrers annehmen.
Daraufhin verstößt ihn sein Stamm, er sei wie ein Weißer geworden. Die
Weißen wiederum werden sein Leben lang sagen, er sei nur eine Rothaut,
dazu noch einer der Schlechtesten seiner Art, weil er nicht bei seinem Volk
geblieben sei.

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