Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

Blick fast melancholisch nach unten gerichtet wie ein fürsorglicher Vater, der
über die Endlichkeit des Menschen nachdenkt. Irgendjemand muss das Bild
allerdings für ungeeignet befunden haben. Im Folgejahr erschien Mussolinis
breiter Kopf viel stilisierter, mit Militärhelm, dessen Gurt sich gut sichtbar
eng um das kräftige Kinn spannte, ein martialisches Profil, in dem keinerlei
Mitleid für die inneren und äußeren Feinde des Vaterlandes lag.
Violas Körper war noch glatt und fest trotz der Schwangerschaften und
ihres Alters, und doch wagte ihr Mann sich schon lange nicht mehr auf ihre
Bettseite. Zu lange hatte Ernani nur als Schuldeneintreiber Zugang zu dem
gehabt, was sich weich und sanft unter dem Nachthemd seiner Frau verbarg.
Doch anders als bei jedem Steuerschinder hatte sie nie eine Reaktion gezeigt,
nicht einmal Ablehnung. So hatte die demütigende Tatsache, einen Körper zu
besitzen, der noch regloser war als ein Waggon auf dem Abstellgleis, Ernanis
traurige Begierde erstickt. Nun wünschten sich die Eheleute, wenn das Licht
im Schlafgemach ausging, mit ausgesuchter Höflichkeit eine gute Nacht;
dann drehte sich jeder zu seiner Seite des Ehebetts, weiter voneinander
entfernt als Planeten.
Ernani ging nun zweimal im Monat in ein Bordell etwas außerhalb der
Stadt, an der Straße nach Bagnacavallo. Es war gut zu erreichen, vom
Bahnhof aus musste man nicht einmal die Stadt durchqueren mit dem Risiko,
gesehen zu werden. Eines Abends im Sommer, nach dem letzten Glas Wein
zum Essen, auf den Tellern noch die Reste der Leber venezianische Art, die
Attilio so mochte, wischte sich Ernani den Mund mit der Serviette ab, stand
auf und setzte sich, wie jeden zweiten Samstag, den Hut auf. Dieses Mal
jedoch blickte er im Hinausgehen seine beiden Söhne an und sagte: »Heute
Abend kommt ihr mit.«
So entschlossen hatten sie ihn noch nie gesehen. In der Küche schien
einen kurzen Moment lang das Echo einer Familie widerzuhallen, die anders
war als ihre, in der der Vater nicht auf den Körper seiner Frau verzichtete, in
der die Söhne nicht von den Eltern untereinander aufgeteilt wurden durch
gegensätzliche Loyalitäten. Doch das währte nur kurz.
»Attilio ist noch zu klein«, wandte Viola ein. Und sie hatte Recht: Er war
ein Jahr jünger als das erlaubte Mindestalter der staatlichen Freudenhäuser.
Ernanis Autorität, so flüchtig wie der Schatten auf einer Wand, war schon
verflogen. Also ging nur Otello mit seinem Vater.
Bei den Appellen der Jugendgruppen verlor sich Attilio manchmal im

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