Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

und doppelt so alt wie er, nicht zu gerne ihre bebenden Arme für ihn
geöffnet. Attilio gegenüber war sie doppelt freigebig. Sie lehrte ihn die Kunst
des Küssens und halbierte ihm die Miete. In der Öffentlichkeit siezte er sie
und nannte sie Signora Ricci. Im stillen Kämmerlein sagte er nur »du«,
obwohl sie lieber »Saveria« gehört hätte. Wie sie ihn auch gern die ganze
Nacht in ihrem Bett behalten hätte, während Attilio sich nach der
Befriedigung aus dem kurzen Dämmerschlaf des Zwanzigjährigen
aufrappelte und schnell in seine Kammer zurückkehrte. Einmal nahm sie
nach dem Orgasmus, als sie erhitzt nebeneinander lagen, seinen Penis in einer
liebevollen Geste in die Hand. Er schob sie ruckartig weg. Die Botschaft war
klar: Die einzige Intimität, die er ihr zugestand, war die sexuelle im engeren
Sinne.
Saveria lehrte Attilio, wie man Spielkarten unauffällig mit dem
Fingernagel markiert. »Da pfeif ich drauf« war ein streng faschistisches
Spiel – es basierte mehr auf Hierarchien als auf Farben – und somit eines der
wenigen vom Duce tolerierten Spiele. Doch die Gäste der Zimmervermietung
vergnügten sich abends trotzdem lieber mit dem alten Scala 40, Briscola oder
Rommé.
Wenn er über die Feiertage nach Hause kam, besuchte Attilio weiterhin
den Puff an der Landstraße nach Bagnacavallo. Er mochte die Mädchen vom
Land, obwohl sie – was ihm früher gar nicht aufgefallen war – ihre Kunden
niemals küssten. Um den Wartenden die Zeit zu vertreiben, lagen auf dem
alten Holztresen Fotografien von unbekleideten Frauen in dem Stile, wie er
zu Zeiten Monsieur Daguerres gut angekommen war. Seit einiger Zeit jedoch
wurden immer häufiger Postkarten eines anderen Typs herumgereicht. Die
Maitresse legte sie in die schweißfeuchten Hände ihrer Kunden und flüsterte:
»Verbotene Sachen!« Doch so wild konnte es nicht sein, wenn man bedachte,
dass sie sie vom Sektionssekretär persönlich bekam.
Abgebildet waren halbnackte Frauen, die ihre Reize lasziv darboten.
Doch lagen sie diesmal nicht auf Sofas oder Kanapees, sondern auf
Tierfellen – Löwen, Leoparden, Zebras – oder Teppichen auf dem Boden.
Ihre Haut von der Farbe verbrannten Holzes ließ sie fester und stofflicher
erscheinen als die schneeweißen Dämchen, die durch die Boudoirs
spazierten. Die Bereitschaft zum Beischlaf der Frauen auf den Fotos war
keiner moralischen Verkommenheit geschuldet, wie bei den weißhäutigen
Huren, deren Hautfarbe ihre wenn auch entwürdigte Zugehörigkeit zu einer

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