Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

Noch war keine Frau aus Lugo an den Tisch mit dem Kessel
herangetreten, um ihren Schmuck abzugeben. Der Regen trommelte laut auf
die geöffneten Schirme. Die Menge lauschte schweigend. Die Lautsprecher
in den Fenstern der Casa del Fascio verbreiteten die Radionachrichten über
den Platz direkt von Piazza Venezia aus Rom.
Einmal mehr dienten die Knochen des Unbekannten Soldaten dazu, die
Einheit der Italiener zu beschwören. Ihr Schweigen, von Radio und Presse
beinahe täglich als »heilig« erklärt, wurde über die Fratze der Uneinigkeit
gelegt, um jeglichen Ausdruck zu ersticken. Die Zeremonie auf dem
Denkmal für Viktor Emanuel II. hatte etwas Mystisches, das bezeugten der
Duft des Weihrauchs, der aus den Räucherpfannen zu beiden Seiten der
Grabstätte aufstieg, die rauchenden Kessel auf ihren Dreifüßen und vor allem
die Frauen. Sie, die faschistischen Frauen, waren die Priesterinnen dieses
Opferkults. Ihnen stand die Ehre zu, ihn zu begehen. Noch vor den Frauen
der hohen Parteifunktionäre standen auf der Spitze der Treppenstufen in einer
Reihe, schwarze Ameisen auf weißem Marmor, die Witwen und Mütter der
Toten des Großen Krieges. Ihre Angehörigen waren von Granaten zerrissen,
von Bajonetten durchbohrt und von der Artillerie verstümmelt worden.
Deshalb verdienten sie es, auf der Brust glänzende wertvolle Orden zu tragen
wie Paolina Baracca. Neben den Frauen der Toten standen die
Würdenträgerinnen der Frauenorganisationen Spalier. Die Mütter und Frauen
Italiens sollten nicht länger, wie zu Zeiten des Großen Krieges, passive
Zuschauerinnen sein, die später um die Gefallenen weinten. Dieses Mal war
es anders. Der gesamte Volkskörper wurde nun eine Frau. Durch die Gabe
des Traurings gingen die italienischen Frauen eine mystische Ehe mit dem
Faschismus ein und vor allem – doch darüber redete man nicht, um die
Männer nicht in Verlegenheit zu bringen – mit dem männlichsten aller
Männer: dem Duce.
Wie es sich für brave Vestalinnen gehört, schwiegen die Frauen. Auch in
Lugo herrschte Schweigen, das wenn möglich noch tiefer wurde, als aus dem
Radio die Beschreibung schallte, wie eine kleine schwarze Gestalt die
marmorne Fläche des Vittoriano in Rom betritt: die Frau der Frauen, die
Regentin Italiens, Königin Elena höchstpersönlich. Auf dem Platz des
Uhrturms hörte man, wie die Stimme des Sprechers sich vor Aufregung
überschlug. Vor der Casa del Fascio hielten alle den Atem an. Selbst der
Regen schien leiser zu fallen.

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