Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

Stadt. Doch gleichzeitig weiß sie, dass dies das Gefühl einer betrogenen
Liebhaberin ist, oder schlimmer noch einer Sklavin.
Deshalb stampft sie jetzt mit gesenktem Kopf und zornerfüllt die Treppen
hinauf wie ein Stier durch die Arena. Sie kommt im ersten Stock am
Schlafsaal der Bangladescher vorbei. Im zweiten an dem illegalen Bed &
Breakfast. Im dritten am rot-goldenen Glückwunschband der Chinesen-
Familie, ihren engsten Verbündeten im Kampf für den Einbau eines Aufzugs.
Im vierten Stock empfängt sie eine körnige Stimme.
»Ciao, Ilà.«
Durch den offenen Spalt der Wohnungstür erahnt sie ein
verschwommenes, wie aus Bimsstein geformtes Profil. Ilaria ist sich sicher,
dass ihre alte Nachbarin jeden Schritt auf diesen Stufen allein am Klang
erkennt.
»Ciao, Lina«, erwidert sie freundlich, ohne ihren Lauf zu bremsen.
Zielstrebig hält sie an der angelehnten Tür vorbei auf die fünfte, vorletzte
Treppe zu. Doch Lina ist noch nicht fertig.
»Da oben wartet ein schwarzer Mann auf dich.«
Ilaria hält auf dem Treppenabsatz inne und dreht sich um.
»Was hast du gesagt?«
»Ein Afrikaner. Komplett schwarz. Er sagt, er sucht deinen Bruder. Ich
wusste nicht, ob ich ihm sagen darf, in welchem Stock ihr wohnt, aber jetzt
ist er eh schon oben.«
»Aha. Vielleicht ein Freund von Attilio. Danke, Lina.«
»Oh, Ilà, sollte er Ärger machen, dann schrei einfach. Ich habe meinen
Enkel zum Abendessen hier, der kann dir helfen.«
»Keine Sorge. Guten Appetit, dir und deinem Enkel ...«
Ilaria geht weiter, nun aber langsamer und den Kopf nicht länger gesenkt.
Als sie die letzte Treppe erreicht, sieht sie oben auf der vorletzten Stufe den
Besucher sitzen. Noch bevor sie bei ihm ist, beginnt er zu reden.
»Entschuldigung. Hallo. Wohnt hier Attilio Profeti?«
Im Halbschatten fällt Ilaria als Erstes seine Hautfarbe auf, die von der
gleichen Tönung wie die alten Holztüren zu beiden Seiten des
Treppenabsatzes ist. Er hat violette Lippen. Lange Beine, so dünn wie
Strohhalme. Das Trikot eines berühmten Erstligaspielers.
Er sieht aus wie fünfundzwanzig, vielleicht auch jünger.
»Wer bist du?«, fragt sie.

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