Neue Zürcher Zeitung - 20.09.2019

(Ron) #1

MEINUNG &DEBATTEMFreitag, 20. September 2019 Freitag, 20. September 2019 EINUNG & DEBATTE


Der perfekte Albtraum

Russland macht im Internet Informationen zur Waffe. Chinaperfektionie rt dieTechnologiezursozialenKontrolle,


während das Silicon Valley unsere Daten nur des Profits wegen ausspäht.Wennder Überwachungskapitalismus


und der Überwachungsstaat zusammenwachsen, bleibt die Freiheit auf der Strecke.Von Eric Gujer


Im Herbst desJahres 2000 veranstaltete der deut-
sche Auslandsgeheimdienst eine Tagung zum
Thema «information warfare». Der BNDreagierte
damit auf die Instrumentalisierung des Internets im
Kosovo-Krieg. Das Internet wurde damals erstmals
zur Waffe, und zwar in zweierlei Hinsicht:buchstäb-
lich, indem Serbien und das mit ihm verbündete
Russland versuchten, mit gezielten Cyberangriffen
Rechner der Nato lahmzulegen. Und in übertrage-
ner Hinsicht, indem SerbienFalschinformationen
zum Kriegsverlauf veröffentlichte.
Beides, Cyberattacken und Cyberpropaganda,
steckten damals noch in den Kinderschuhen.Social
Mediawaren noch nicht erfunden. Die Angriffe
waren plump und zielten auf die Überlastung der
Rechner. Deshalb geriet das Internet alsWaffe in
der westlichen Öffentlichkeit schnell wieder inVer-
gessenheit. Es war die Zeit der digitalen Euphorie,
in der viele glaubten, mit demInternet breche eine
neue Ära derFreiheit an.
Im Kreml hingegen glaubte das niemand. Dort
sah und sieht man das Internet immer alsWaffe. Im
amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf 20 16
drang eine Hackerg ruppe, mutmasslich auf Geheiss
des russischen Militärgeheimdienstes, in die Com-
puter der demokratischenParteizentrale ein und
kopierte zahlloseMails, die führende Mitarbeiter
von Hillary Clinton in ein schlechtes Licht rückten.


Putin


will Verwirrung stiften


Wikileaks diente wissentlichoder unwissentlich
als fünfteKolonne des russischen Geheimdiens-
tes und publiziertedie Mails,was demWahlkampf
Clintons vielleicht nicht den entscheidenden, aber
gewiss einen Stoss versetzte. Im Kalten Krieg hätte
man Wikileaks noch einen Einflussagenten Mos-
kaus genannt.
Zugleich nutzte der Kreml das Internet als Pro-
pagandainstrument.Fake-Accounts, alsoSocial-
Media-Konten, hinter denenkeine realen Perso-
nen stehen,veröffentlichtenHunderttausende von


Posts, in denen Hillary Clinton diffamiert wurde.
Gleichzeitig versuchten die russischen Internet-
Trolle,Verwirrung unterrepublikanischenWählern
zu stiften. Es ging also in erster Linie nicht darum,
Propaganda für oder gegen einePartei zu machen.
Das Ziel war es, die amerikanische Demokratie an
sich anzugreifen.
Wir lernen daraus etwas ganzTriviales. Nur weil
wir, die westlichen Gesellschaften, eineTechnik
unter bestimmtenAspekten sehen,heisst dies noch
lange nicht, dass andere diesePerspektive teilen.
Unterschiedliche Gesellschaftssysteme setzen eine
Technologie für sehr verschiedene Zwecke ein.Das
hat direkteAuswirkungen auf uns, denn im Internet
ist alles mit allem verbunden.
Russland betrachtet das Internet nicht als Mittel
zur informationellen Selbstbestimmung, sondern
als Mittel zur Propaganda.China sieht in der künst-
lichen Intelligenz (KI) zwar auch ein Instrument
der wirtschaftlichen Modernisierung, aber mindes-
tens ebenso ein Instrument der sozialenKontrolle.
Welche Auswirkungen haben die modernen In-
formationstechnologien auf dieFreiheit?Für Libe-
rale muss dies, in der ersten Hälfte des21.Jahrhun-
derts, eines der zentralenThemen sein.
Das Smartphone istlängst mit seinemTräger zu
einem neuartigenWesen verschmolzen. Gemäss
der jüdischen Legende schuf der PragerRabbi Ju-
dah Löw um1580 aus Lehm ein menschenähn-
lichesWesen mit gewaltiger Kraft und Grösse –
auf Hebräisch einen Golem. Der moderne Golem
sind wir mit unseren Smartphones, die uns früher


kaum vorstellbare Möglichkeiten bieten.Das Ein-
zig e, was dieses Ding nicht zukönnen scheint, ist in
dem legendären Dialog in«Raumschiff Enterprise»
beschrieben: «Beam me up, Scotty!» DieTechnik
prägt unser Leben und vor allem unser Bewusst-
sein intensiver als jemals zuvor.

Haben wir noch


eine Privatsphäre?


Ich werde mich nicht zu Spekulationen darüber
versteigen, ob die künstliche bald die menschliche
Intelligenz überholt, so wie diesRayKurzweil
unter dem Schlagwort der Singularität prognosti-
ziert.Es geht nur um eine simple, aber hochaktuelle
Frage: WelchenRaum gibt der Mensch derTech-
nik in seinem Leben?Was bedeutet heute Privat-
sphäre? Haben wir dasRecht, bei Bonitätsprüfun-
gen oder Einstellungen nicht allein von selbstler-
nenden Algorithmen beurteilt zu werden?
Es geht auch darum, was Technik mit Staaten
und Demokratien macht.Wenn Staaten beispiels-
weise zum Ziel von Cybermanipulationen werden
oder IT-Unternehmen dieRolle vonRegierungen
usurpieren.
Natürlich hatteTechnik zu allen Zeiten gesell-
schaftlicheAuswirkungen. Aber die Informations-
technologie verändert unser Mensch-Sein, indem
wir zuTechno-Golems mutieren. Und ich meine
nur dieSymbiose zwischen Mensch und Handy. Ich
rede nicht von Mensch-Maschine-Mischwesen,von
Cyborgs, von denen Elon Musk phantasiert. Die In-
for mationstechnologie hat eine vergleichbare Qua-
lität wie die Gentechnik, die ebenfalls direkt auf
unser Mensch-Sein einwirkt.
Natürlich gab es schon früher Propaganda und
Desinformation.Noch nie waren die Menschenihr
allerdings so lückenlos ausgesetzt wie heute, wo sie
vom Aufstehen bis zum Zubettgehen beständig auf
den kleinen leuchtenden Bildschirm schauen.Natür-
lich gab es schon früher sozialeKontrolle. Noch nie
haben die Menschen das Überwachungsgerät aller-
dings so begeistert, sokonstant und vor allem völlig
freiwillig mit sich herumgetragen wie heute.
Träumten Stalin und Mao noch davon, die Ge-
danken ihrer Untertanen auszuspähen,so ist dies
für ihre NachfahrenRealität. DerTotalitarismus
schien1989 überwunden. Nunkehrt er als techno-
logischerTotalitarismus zurück.
Zugleich gibt eseine neue geo-ideologische
Konfrontation. Im Kalten Kriegrangen derKom-
munismus und die marktwirtschaftliche, pluralisti-
sche Demokratie um dieVorherrschaft. Nach dem
Fall der Berliner Mauer glaubte derWesten an das
«Ende der Geschichte». Liberalismus und Markt-
wirtschaft schienen alternativlos zu sein.Tatsächlich
nahm nach dem Untergang von Ostblock und So-
wjetunion die Zahl der Staatenrasch zu,die wenigs-
tens auf demPapier Demokratien waren. Doch das
Pendel schwingt zurück. Die westliche Selbstgewiss-
heit ist ängstlicher Nabelschau gewichen.
Die naive Erwartung, freiesWirtschaften führe
automatisch zu freien Gesellschaften, hat sich
verflüchtigt.Russland und China sind autori-
täre Regime und zugleichkapitalistischeSysteme.
Weder Russland noch China haben in den letzten
drei Jahrzehnten einen SchrittinRichtung Demo-
kratisierung unternommen.Im Gegenteil:Unter Xi
Jinping nehmen Dogmatismus und Nationalismus
wieder zu.Peking füllt nur zu gern die Lücke, die
AmerikasRückzug aus internationalenOrganisa-
tionen hinterlässt.China versucht, in Uno-Gremien
denTon anzugeben, und afrikanische und andere
Potentaten stimmen oft für chinesische Anliegen.

Information


ist eineWaffe


Der technologischeTotalitarismus und der geo-
ideologischeWettstreit bilden ein Amalgam, das
ich anhand von vier Problemfeldern beschrei-
ben will: Informationen alsWaffe, amerikanischer
Überwachungskapitalismus, chinesischer Über-
wachungsstaat und Krieg um Standards undWerte.


  1. «Information warfare»:Wenn wir von Krieg
    reden, denken wir anTote,Verletzte und grossflä-
    chige Zerstörungen.Dasgibt es weiterhin, doch
    die Kriegführung setzt heute mehrere Stufen wei-
    ter unten an: bei der Beeinflussung der Öffentlich-
    keit oder dem Eindringen in gegnerischeRechner
    zum Zweck der Spionage oderderZerstörung von
    strategisch wichtiger Infrastruktur.
    Der «information warfare» lässt sich mit anderen
    niederschwelligen Kriegsformenkombinieren, zum
    Beispiel der Besetzung fremdenTerritoriums durch
    Söldner wie in der Ostukraine. Hierfür hat sich der
    Begriff hybride Kriegsführung eingebürgert.Wer
    glaubt, das betreffe nur die Ukraine, irrt. Es tangiert
    genauso die angeblich neutrale Schweiz.Im Septem-
    ber 2016 bezogen zwei Agenten des russischen Ge-
    heimdienstesPosten inLausanne. Ihr Auftrag: Sie
    sollten eineKonferenz derWelt-Antidoping-Agen-
    tur (Wada) ausspionieren.Spionage hat heute nichts
    mehr mit James Bond und schönenFrauen zu tun,
    sondern mit Computer-Nerds und Hackern. Über
    das WLAN eines Hotels gelangten die Agenten in
    die Rechner derKonferenzteilnehmer.


ZweiJahre später wurde der übergelaufene rus-
sische Geheimdienstmann Sergei Skripal in Gross-
britannien Opfer eines Giftanschlags. Die beiden
Agenten hatten inLausanne ganzeArbeit geleistet.
Jetzt sollten sie die Spuren des Attentats auf Skri-
pal verwischen,die nachMoskau führten.Dazu ver-
suchten sie, die Organisation für dasVerbot chemi-
scherWaffen in Den Haag auszuspionieren. Diese
Organisation sollte den britischen Befund überprü-
fen, wonach Skripal mit dem sowjetischen Kampf-
stoff Nowitschok vergiftet wurde. Die notwendi-
gen Tests übernahm das ABC-Labor Spiez, das zu
den führenden Einrichtungen seiner Art gehört.
Das Agentenduo hatte deshalb schon Zugtickets
gekauft, um von Den Haag in die Schweiz zurei-
sen – ve rmutlich, um in dieRechner in Spiez ein-
zudringen.Allerdings wurden die zwei noch in Den
Haagverhaftet.

Big Brother wohnt jetzt


im SiliconValley


Für dasLabor in Spiez war der Agentenkrimi da-
mit nicht vorbei. Der russischeAussenminister
Lawrow behauptete, Spiez habe den Beweis da-
für gefunden, dass nicht ein sowjetischer, sondern
ein westlicher Kampfstoff Sergei Skripal vergif-
tet habe.Das warenFake-News, klassische russi-
sche «desinformazija». Diese beherrschte aber tage-
lang die Medien. Nach dem Hack inLausanne war
die neutrale Schweiz zum zweiten Mal in die russi-
schen Machtspiele hineingezogen worden. Hier ist
Freiheit in einem elementaren Sinn bedroht, weil
staatliche Souveränität und die Integrität wichti-
ger nationaler Einrichtungen wie desLabors Spiez
attackiert wurden.


  1. Der Überwachungskapitalismus, wie ihn die
    Technologiefirmen im SiliconValley praktizieren.
    DieTendenzen zum technologischenTotalitarismus
    sind keineswegs auf autoritäre Regime beschränkt.
    Rein wirtschaftlich orientiertes Denken kann ihnen
    ebenfallsVorschub leisten. Google, Facebook und
    andere Unternehmen gingen um dieJahrtausend-
    wende mit einem simplenVersprechenan den Start:
    Die Konsumenten erhalten gratis Dienstleistungen
    und zahlen dafür mitDaten. Doch so einfach und
    überschaubar, wie es klingt, sind dieTransaktionen
    in dieser digitalenWelt nicht.
    Bei denTech-Giganten ist es nahezu unmöglich,
    herauszufinden, mit welchenDaten ichregistriert
    bin. Das liegt zum einen an derVielzahl der ange-
    botenen Dienste.Googleist nicht nur eineSuch-
    maschine, sondern auch eineWeltkarte, einVideo-
    portal, ein Übersetzungsbüro, ein Textverarbei-
    tungssystem,ein Mail-Programm, eineAgenda und
    ein Streaming-Dienst.
    Facebook ist ebennicht nurFacebook, son-
    dern besitzt auch Instagram undWhatsapp,also
    die neben Facebook erfolgreichsten sozialen Platt-
    formen.Facebook sammelt nicht nur von seinen
    NutzernDaten, sondern auch vonPersonen, die in
    den Notizbüchern derNutzer gespeichert sind,oder
    von Menschen,die ohne jede direkte Beziehung zu
    Facebook den Like-Button auf einerx-beliebigen
    Homepage drücken.


Apple, Google oderAmazon belauschen mit der
Sp racheingabe-Funktion und Geräten wie «Alexa»
ih re Nutzer. Die dabei gesammeltenDaten werden
genauso ausgewertet wie andereDaten auch.Auch
wenn mankeinen dieser Spione bei sich im Schlaf-
zimmer oderWohnzimmer aufgestellt hat, kann
man in denRäumen anderer abgehört werden.Auf
die Anonymität sollte man sich dabei besser nicht
verlassen. So wie die Bilderkennung schon jetzt Ge-
sichterPersonen zuordnen kann, vermag das die
Spracherkennung auch.DieAuswertung ist nur da-
von abhängig, wie vieleAudio-Files mit identifizier-
ten Personen verfügbar sind.
Wer behauptet, zu überblicken, welcheDaten
über ihn gespeichert sind, lebt in einerTraumwelt.
Niemand weiss das besser als die IT-Unternehmen.
Sie versuchten daher schon früh, unserVerständ-
nis von der digitalenWelt zu verändern. So be-
hauptete Mark Zuckerberg, Privatsphäresei keine
soziale Norm mehr. Der Google-GründerLarry
Page ging noch einen Schritt weiter. Er sagte, wenn
der Menschschon gläsern sei, seien seineDaten
besser bei Google aufgehoben als bei demokratisch
kontrollierten Institutionen:«Google ist seinRuf
wichtig.Bei Regierungen ist das vielleicht nichtin
gleichemAusmass so.»
Hier spricht die Hybris des Prometheus. Er bringt
den Menschen dasFeuer, also BigData und künst-
liche Intelligenz. Und Prometheus glaubt, besser zu
wissen,was fürdie Menschen gut ist,als diese selbst.
Im l etztenJahr wurde ruchbar, dass dieFirma
CambridgeAnalytica auf derBasis vonFacebook-
Daten politische Benutzerprofile erstellte. Face-
book hatte anderen Unternehmen Zugang zu sei-
nen Daten gewährt, um denVorwurf zu entkräften,
es sichere sich als Quasimonopolist das exklusive
Verfügungsrecht über seineDatenbestände. Cam-
bridgeAnalytica analysierteFacebook-Profile mit
allenKommentaren, Likes und geteilten Inhalten.
Die Firma konnte so vorhersagen, welchePartei
der jeweiligeNutzer wählt, welche sexuelle Orien-
tierung er hat, was er überRassentrennung denkt.
Big Brother – nicht zum Zweck der politischen
Überwachung, sondern zur Gewinnmaximierung.
DennFacebook betreibt denAufwand nur, weil es
den Grossteil seines Umsatzes von 56 Milliarden
Dollar mit präzise auf die Bedürfnisse der User zu-
geschnittenerWerbungverdient.


  1. Der moderne Überwachungsstaat:Wäh-
    rend im SiliconValley die Überwachung nur Mit-
    tel zum Zweck ist, ist sie im Überwachungsstaat
    das eigentliche Ziel. Umso besser, wenn sich wie
    in China politische und wirtschaftlicheAmbitionen
    ergänzen. China will bis zumJahr 2025 zur domi-
    nantenMacht in der künstlichen Intelligenz auf-
    steigen. Der IT-Unternehmer Kai-Fu Lee glaubt,
    dass China dies gelingen wird. Die Grundlagen-
    forschung sei weit fortgeschritten, jetztkommees
    auf anwendungsorientierteForschung, einen gros-
    sen Binnenmarkt und vor allem riesigeDaten-
    mengen an. China erfüllt alle Bedingungen.
    Übernehmen die chinesischenKonzerne in der
    KI dieFührungsrolle, gehört etwas der Geschichte
    an, was derWesten seit dem Ende des Mittelalters
    als selbstverständlich betrachtet:seine wissenschaft-
    licheVormachtstellung. Die Beherrschung der In-
    formationstechnologie wird darüber entscheiden,


Der Totalitarismus schien


1989 überwunden. Nun


kehrt er als technologischer


Totalitarismus zurück.


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