Freitag, 20. September 2019 ZÜRICH UND REGION 19
Der Carparkplatz am Sihlquai
soll für weitere 15 Jahre bestehen bleiben SEITE 20, 21
Mehrere defizitäre Betriebe von Entsorgung
und Recycling Zürich werden geschlossen SEITE 23
Der Kanton überholt die Stadt Zürich links
Der Einsatz von GPS-Trackern soll den Sozialinspektoren nicht mehr möglich sein
Mutmassliche Sozialhilfebetrüger
dürfen nicht mit GPS-Trackern
überwacht werden. Dieser
Grundsatzentscheid des Kantons
erzürnt die Bürgerlichen, die das
Referendum ergreifen dürften.
MICHAELVON LEDEBUR
Wie weit dürfen Sozialdetektive gehen,
wenn sie mutmasslichem Missbrauch
auf der Spur sind? DieFrage entzweit
selbst prominente Sozialdemokraten.
In der Stadt Zürich hatte sich der SP-
Sozi alvorstandRaphael Golta mit Er-
folg für den Einsatz von GPS-Track-
ern starkgemacht. Im Kanton setzte SP-
Regierungsrat MarioFehr einenKontra-
punkt. Er stellte imFrühling vor einem
Jahr einen kantonalenVorschlag expli-
zit ohne Einsatz technischer Ortungs-
mittel inAussicht. An der Schlagzeile,
dass er die Stadt Zürich damit quasi
links überhole, dürfteFehr imVorfeld
der Regierungsratswahlen seineFreude
gehabt haben.
Nun schwenkt der Kantonsrat auf die
LinieFehrsein. Am Donnerstag publi-
ziertedieKommissionfürsozialeSicher-
heit und Gesundheit einenVorschlag,
der den Einsatz von GPS-Trackern
im Sozialhilfegesetz ausdrücklich aus-
schliesst. Das Mi ttel würde somit auch
der Stadt Zürich verboten. Bemerkens-
wert ist, dass es sich um die Umsetzung
ein er parlamentarischen Initiative von
SVP und FDP handelt.DerenAnsinnen
wird nun quasi ins Gegenteil verkehrt.
Die veränderten Stärkeverhältnisse seit
den Wahlen imFrühjahr wirken sich
aus. Die bürgerliche Minderheit sieht im
Kantonsrat einer Niederlage entgegen.
Rund hundert FälleproJahr
Erfüllt wird einzig die in der FDP-SVP-
Initiative ebenfalls enthalteneForde-
rung, überhaupt eine klareRechtsgrund-
lagefürObservationenzuschaffen,damit
die Inspektoren ihr eArbeit wieder auf-
nehmenkönnen. Diese ruht in derStadt
Zürich nach einemeinschlägigen Ge-
richtsurteil seit März 2017. Das hat auch
FolgenfürandereGemeinden,welchedie
DienstederStadtzürcherSozialdetektive
in Anspruch nahmen. Die Inspektoren
hatten in der Stadt Zürich rund hundert
FälleproJahrabgeklärt.BeineunzigPro-
zent der Untersuchungen wurden Ver-
dächtige auch heimlich beobachtet. In
drei Vierteln dieserFälle bestätigte sich
der Verdacht auf Missbrauch. Die Zahl
der Sozialhilfebezüger, die dasSystem
missbrauchen, liegt allerdings im tiefen
einstelligen Prozentbereich.
Beim umstrittenen GPS-Tracking
wird ein Sender amFahrzeug der Ziel-
personangebracht.Diesersolleserleich-
tern, einen allfälligen Arbeitsweg der
Person aufzudecken. SP-Fraktionspräsi-
dent Markus Späthtaxiert dies als mas-
siven Eingriff in die Privatsphäre. Die-
ser sei im Umfeld schwerer krimineller
Vergehenangebracht,abernichtimFalle
von Sozialhilfemissbrauch. Interessant
ist, dass sich die kantonalePartei anders
positioniert als damals die Stadtzürcher
SP (wobei die StadtzürcherVerord nung
gar nie Gültigkeit erlangte, weil sie im
NachhineinvomBezirksratkassiertwor-
den war). Der SP-Stadtparlamentarier
MarcelTobler sieht darinkein Problem,
zumal man dem GPS-Tracker-Einsatz
eher zähneknirschend zugestimmt habe.
«Wenn man sich nun im Kantonsrat um-
besinnt, stört uns das nicht.»
Heikel ist nicht nur der Einsatz von
GPS-Trackern, sondern auch dessen Ge-
nehmigung. In der StadtzürcherVariante
wäre dafürkeine richterliche Überprü-
fung notwendig gewesen, sondern die
Genehmigung der Sozialbehörde hätte
genügt. Der StadtparlamentarierTobler
sagt, man hätte eine richterliche Über-
prüfung durch den Bezirksrat gerne ge-
sehen,aber dies zuerlassen, war für das
Stadtparlamentrechtlich nicht möglich.
Auch im jetzigen Minderheitsantrag von
FDP undSVP auf Kantonsebene fehlt
eine richterliche Überprüfung. Die Grü-
nen ihrerseits stellen einen eigenen An-
trag und fordern die Überprüfung durch
den Bezirksrat – aber für sämtliche
Inspektionen. Den Einsatz von GPS-
Trackern lehnen sie ohnehin ab.
Offenkundig ist, dass die Arbeit der
Inspektoren erschwert wird, wenn sie
keine GPS-Tracker einsetzen dürfen.
Dieseseien in seltenenFällen für den
Nachweis zwingend notwendig,sagt die
FDP-Kantonsrätin Linda Camenisch.
Man müsse den Sozialdetektiven die-
jenigen Mittel in die Hand geben,die sie
benötigten. «Es geht um die Glaubwür-
digkeit der Sozialhilfe in der Bevölke-
rung.» Observationen würden von den
Gemeinden sehr zurückhaltend inAuf-
trag gegeben, weil sie teuer seien. Noch
seltener sei der Einsatz technischer
Ortungsmittel.
Neben dem Einsatz von GPS-Track-
ern ist Camenisch wichtig,dass Sozial-
arbeiter unangemeldet Hausbesu-
che machen dürfen. Ziel wäre es unter
anderem, festzustellen, obPersonen zur
Untermiete im Haushalt wohnen, was
eine unrechtmässige Einnahmequelle
wäre. SP- Frakti onspräsident Späth er-
achtet auch diesenVorschlag als massi-
ven Eingriff in die Privatsphäre. Unbe-
stritten ist, dass Sozialhilfebezüger den
Inspektoren keinen Einlass gewähren
müssten; offen sind hingegen dieFolgen.
Laut Späth läuft dies auf dieAndrohung
einerKürzung der finanziellen Hilfeleis-
tung hinaus. Ein direkterAutomatismus
ist aus demWortlaut aber nicht ableit-
ba r. Der kantonaleDatenschutzbeauf-
tragte BrunoBaeriswyl beurteilt sowohl
Hausbesuche als auch GPS-Tracking als
schwere Eingriffe in die Privatsphäre.
Nähme der Kantonsrat diese Punkte
in das Gesetz auf, bestünde das Risiko,
dass das Bundesgericht dieRegelungen
bei einer Einzelfallprüfung alsrechts-
widrig kassiere.
DieWende der CVP
FDPund SVP kämpfen nach wie vor
für ihren Minderheitsantrag. «Vor den
Wahlen war dies der Mehrheitsantrag»,
gibt Camenisch zu bedenken. Neben
dem Verlust der bürgerlichen Mehrheit
wirkt sich aus, dass die CVP ihre Hal-
tung geändert hat. IhreVertreter waren
Teil einer satten Mehrheit von 122 zu-
stimmenden Kantonsräten.
So absehbar wie die Niederlage der
Bürgerlichen im Kantonsrat ist, dass
das Volk entscheiden wird. DieSVP
hat bereits dasReferendum inAus-
sicht gestellt.DasAnsinnen, den Ein-
satz von Ortungsmitteln im Gesetz zu
verankern, ist nicht chancenlos. Eine
ähnlich gelagerteVorlage im Sozialver-
siche rungsbereich haben die eidgenös-
sischen Stimmberechtigten vergangenes
Jahr mit über 60 Prozent Zustimmung
angenommen.
Ein Privatdetektiv an der Arbeit in der Stadt Zürich.Das Bild stammtausdem Mai 2018. GAETAN BALLY / KEYSTONE
BEZIRKSGERICHTANDELFINGEN
Was geschah nach dem Angriff auf den Jack-Russell-Terrier?
Ein Mann soll eine Frau und ihren aggressiven Husk y getreten haben – der Gerichtspräsident sucht erfolglos nach einer aussergerichtliche n Lösung
TOM FELBER
Während eines sonntäglichen Spazier-
gangs am 4. Dezember 2016 im Bezirk
Andelfingen griff ein Husky einenJack-
Russell-Terrier an. Ob danach auch ihre
menschlichen Begleiter aneinander-
gerieten,ist umstritten.Jedenfalls packte
der Husky den viel kleinerenJack Rus-
sell am Nacken.Laut einem Strafbefehl
soll danach ein 64-jährigerLandwirt,
der denJack Russell seinerTochteraus-
führte, «ausser sich vorWut» mehrfach
auf den Husky eingetreten haben, wo-
durch der Husky in ein Gebüsch fiel.
Die Husky-Halterin habe den Mann
wiederholt gebeten, aufzuhören. Der
Landwirt habe hierauf mit seinemrech-
ten Fuss gegen den linken Oberarm der
Frau getreten, worauf sie ebenfalls ins
Gebüsch gestürzt sei.
Der Beschuldigte soll weiterhin
auf die im Gebüsch liegendeFrau und
de ren Hund eingetreten haben.Durch
den Sturz und dieFusstritte will dieFrau
Hämatome im Rippenbereich und am
Knie erlitten haben: so weit dieVersion
der Husky-Halterin. Der Beschuldigte
hingegen erklärt, es habekeinerleiKör-
perkontakt zwischen ihm und derFrau
gegeben. Er habe lediglich in einer Not-
wehrhandlung versucht, den kleinen
Hund zu beschützen.
AbwesendePrivatklägerin
Das Statthalteramt büsste denLand-
wirt wegen Tätlichkeiten undWider-
handlung gegen dasTierschutzgesetz
per Strafbefehl mit 400Franken und
auferlegte ihm 330Franken Gebüh-
ren. DerLandwirt verlangte eine ge-
richtliche Beurteilung.Obwohl es sich
nur um Übertretungstatbestände han-
delt, war für die Hauptverhandlung vor
Bezirksgericht Andelfingen ein ganzer
Prozesstag angesetzt. Nebst dem Be-
schuldigten sollten auch zwei Zeugin-
nen und die Privatklägerin einvernom-
men werden. Diese ist aber inzwischen
nach Schweden ausgewandert und liess
sich entschuldigen.Auch ihrAnwalt,der
schriftlich 1000 Franken Genugtuung
und die Übernahme seiner Anwalts-
kosten von 4000 Franken durch den
Beschuldigten beantragt hatte, verzich-
tete auf eineTeilnahme.
Dies hielt Gerichtspräsident Lorenz
Schreibernicht davonab,nach einer aus-
sergerichtlichenLösungzusuchen:«Man
soll nicht jeden alltäglichenVorfall zu
einem Straffall machen», erklärte er. Be-
reits bei der Befragungdes Beschuldig-
ten stellte er diesem einenFreispruch im
Offizialdelikt derWiderhandlung gegen
das Tierschutzgesetz inAussicht und
schlug vor,in Bezug auf das Antrags-
delikt der Tätlichkeiteneinen Vergleich
anzustreben. Mankönne dasTierschutz-
Verfahren «mit gutem Gewissen einstel-
len», denn der Beschuldigte habe den
kleinen Hund in einer Notwehrsituation
verteidigt, «weil er Angst um dessen Le-
ben hatte», sagte Schreiber schonzu Be-
ginn des Prozesses.
Schreiber machte denVorschlag, der
Beschuldigte solle 500Franken an eine
gemeinnützigeTierschutzorganisation
überweisen, und die Gerichtskosten
würden auf einen symbolischen Betrag
von 100Frankenreduziert.Die Gegen-
partei sollte dafürauf Genugtuung und
Entschädigung verzichten. DerLand-
wirt verlangte, dass die Privatklägerin
ebenfalls 500Franken spenden müsste
und ihm die Gerichtskosten ganz erlas-
sen würden, worauf Schreiber einging.
Der einseitig erarbeiteteVergleichsvor-
schlag wurde noch vor Mittag dem An-
walt der Privatklägerin zugestellt.
Dieser lehnte aber nach telefoni-
schemKontakt mit seiner Klientin in
Schweden am Nachmittag ab. Die Frau
beharre auf der Übernahme ihrer An-
waltskostenvon4000Frankendurchden
Beschuldigten.Dazu zeigte sich dieser
aber nicht bereit, womit dieVergleichs-
versuche als gescheitert erklärt wurden.
Zuvor erlitteneVerletzungen?
Dann wurden zwei Zeuginnen befragt,
die beim inkriminiertenVorfall zwar
nicht anwesend gewesen waren, aber
rund fünfTage zuvor eine andere Be-
gegnung mit der Husky-Besitzerin ge-
habt hatten.Die beidenFrauen erklär-
ten übereinstimmend, der Husky habe
auch den Hund dereinen Zeugin auf
einem Spaziergang am 29.Novem-
ber 2016 angreifen wollen.Durch den
Zug an der Leine sei die Husky-Halte-
rin auf ihrVelo gestürzt, mit der Brust
auf den Lenker und mit den Knien auf
den Boden geprallt. ZweiTage später
hätten sie die Husky-Halterin wieder-
getroffen. Diese sei inzwischen beim
Arzt gewesen und habe auf dieFrage,
wie es ihr gehe, erzählt, der Arzt habe
bei ihr Rippen- und Knieprellungen
durch den Sturz aufsVelo festgestellt.
Das sind exaktdie gleichenVerletzun-
gen, die ihr dreiTage später der Be-
schuldigte zugefügt haben soll.
Angesichts weit vorgerückter Stunde
vertagte Schreiber den Prozess an-
schliessend ausserplanmässig. Die Ver-
handlung soll am 3. Oktober mit der
Befragung des Beschuldigten zur Sache
fortgesetzt werden.