Neue Zürcher Zeitung - 20.09.2019

(Ron) #1

ZÜRICH UNDREGION Freitag, 20. September 2019 Freitag, 20. September 2019 ZÜRICH UNDREGION


Der Carparkplatz am Zürcher Sihlquai,
kurz nach 7 Uhr. Reisende drängensich
in undum den kleinen Unterstand, der
als Wartehalle dient. Ich bahne mir mei-
nen Weg zwischenRollkoffern,Ruck-
säcken undReisetaschen hindurch und
bleibe inmitten der Menschenmenge
etwasratlos stehen. Die Sitzgelegenhei-
ten sindrar. Zwei Männer scheint das
wenig zu kümmern – sie haben sich auf
einer der wenigenBänke zum Schlafen
hingelegt.Andere sitzen auf den Bord-
steinen oder imGras. Sie trinken Kaf-
fee, rauchen, starren mit leerem Blick
vor sich hin oder scrollen sichtlich ge-
langweilt auf ihren Smartphones.Am
benachbarten Hauptbahnhof hetzen die
Pendler in die neue Arbeitswoche, hier
wirkt alles seltsam entschleunigt.


NervösesWarten und Lethargie


So richtig wach scheint einzig eine
Gruppe von Senioren zu sein, die sich
neben dem weissen Container ange-
regt unterhält, der alsTicketschalter
für Sightseeing-Touren dient. Und die
Asiatin, die vor einemReisebus für
ein Foto posiert.Tatsächlich ist die auf
der Busseite aufgeklebteWerbung vom
Jungfraujoch und dem Rheinfall das
Schönste, was dieser Ort zu bieten hat.
Auf die Frage, was er vom Platz halte,
zuckt einTourist aus Miami dieAchseln:
«It’sabus station,what do you expect?»
GuteFrage – was erwartet man eigent-
lich? Unter den Zürchern gilt der Car-
parkplatz als Unort, Schandfleck und
schlechteVisitenkarte. Wer hier an-
kommt oder abreist, trifft nicht auf die
Idylle aus demReiseführer. Der Ort
versprüht eine für Zürich untypische
grossstädtischeTristesse – und hat zu-
gle ich etwas ungemeinAuthentisches.
Man kommt hierher, um zu gehen.Nicht
mehr und nicht weniger.
Ein Mann schlägt mit einemLaub-
bläser die Herumstehenden in die
Flucht. In der Luft wirbeln neben tro-
ckenen Blättern leere Bierdosen,Ver-
packungen und Zigarettenstummel.Die
Abfallkübel sind am Montagmorgen
überfüllt, es riecht nach Urin.
Vielleicht ist es mein Notizblock, viel-
leicht die Kamera desFotografen oder
die frühe Uhrzeit – ich streife durch die
Menge und blicke in bleiche, müde Ge-
sichter, die vor allem eins signalisieren:
Lass mich bloss inRuhe.
Dann entdecke ich ein älteresPaar,
das mir freundlich zulächelt, als ich mich
dazusetze. Jaromir Jansky und seineFrau
kommen aus Prag und haben eine neun-


stündigeFahrt vor sich. Er habe Flug-
angst,deshalbreistensie beidewenn
möglich immer mit dem Car, obwohl
das alles andere als bequem sei. Beim
Wartenkommt er ins Erzählen: Der
EiserneVorhang habe sie bis1989 am
Reisen gehindert.Als Erdbebenforscher
sei er zwar trotzdemhie und da über die
Grenzegekommen, et wa für einen Stu-
dienaufenthalt nach Edinburgh. Seine
Familie habe er damals aber in Tsche-
chien zurücklassen müssen. Seit den
neunzigerJahren seiensie dannviel
herumgekommen.
Jeder Car, der auf das Areal einbiegt,
reisst eine weitere GruppeWartender
aus der Lethargie. Plötzlich scheint es
um Sekunden zu gehen. Als fürchteten
sie sich davor, zurückgelassen zu wer-
den, hetzen diePassagiere über den
Platz. ZweiFrauen zi ehen je einen gros-
sen Koffer hinter sich her und bleiben
etwas verloren vor demWartehäuschen
steh en. Ob ich wisse,wo der Bus zum
Flughafen fahre, fra gen sie auf Englisch.
Ich schüttle denKopf: Einen Online-
Fahrplan oder Informationsschalter gibt
es nicht,und es ist auch nirgends etwas
angeschrieben.Zur Orientierung dienen
einzig die Anzeigen der Cars, was zur
Folge hat, dass Reisende ständig nervös
um sich spähen und hin und her laufen.
EineFrau mitroten Locken und
einer um die Schulter gehängten Ein-
kaufstasche schreitet zielstrebig auf
einen der grünen Flixbusse zu.Wild ges-
tikulierendredet sie auf den Chauffeur
ein, dieser schüttelt sichtlich genervt den
Kopf. Sie wedelt mit einem Blatt vor sei-
ner Nase:«Scheissladen –I paid for the
ticket!», flucht sie und stapft wütend da-
von, die Blicke derWartenden folgen
ihr.Kurz darauf versucht sie ihr Glück
erneut – ein weiteres Mal ohne Erfolg.
Der Bus fährt am Ende ohne sie ab.

Der Helferin Not


Die Mittagssonne hat die herbstliche
Kälte vom Morgen vertrieben,es ist fast
schonheiss.EingrossgewachsenerMann
miteinemebensogrossenKoffersitztauf
der Bank und lässt seinen Blick über das
Areal schweifen. Der Italiener sagt, er
habe sich aus finanziellen Gründen für
die Busreise entschieden. Nach Cassino
dauere dieFahrt zwar 13 Stunden. Mit
dem Zugkoste sie ihn aber 400 bis 500
Euro, für den Car habe er nur 128 Euro
bezahlt. Dreimal imJahr gönne er sich
die Fahrt in die alte Heimat.
Am Nachmittag wirkt die Busstation
verwaist.In der hintersten Ecke des

Areals steht ein kleiner Kiosk mit Plas-
tiktischen und orangen Sonnenschir-
men. Bei Zadaran Khan gibt es neben
Kaffee, Kebab und Kaugummi auch
Münzen für dieToiletten und im Not-
fall ein Handy zumTelefonieren. «Es
kommt überraschend häufig vor, dass
jemand im Bus seineTasche vergisst»,
sagtder gebürtige Afghane schmun-
zelnd.Kürzlichhabeer ein Smartphone
au s einem Spalt im WC-Häuschen ge-
fischt.«Wenn die Leute sich anständig
benehmen, helfe ich gerne.»
Viele seinerKunden, insbesondere
die Fahrer , kennt Khan inzwischen per-
sönlich. Seit achtJahren schon arbeitet
er am Sihlquai, vor drei Monaten hat er
den Kiosk gekauft. Seither schmücken

Flaggen verschiedenerLänder seinen
Stand. Die Leute fühlten sich willkom-
men, wenn sie ihreFahne entdeckten.
Im Lauf derJahre habeer auch einige
Brocken Indisch,Türkisch und Serbisch
gelernt. Manchmal gleiche dieKommu-
nikation mit denTouristen aber trotz-
dem einemRätselraten.Dass der Zür-
cher Stadtrat Pläne für dieAufwertung
desAreals hegt, beunruhigt ihn nicht.
«Ich bleibe, solange ich kann», sagt er.
Wenn er sich etwas wünschenkönnte,
dann wären das mehrToiletten.

Pfandflaschenund Wertsachen


Neben der Einfahrt stehen vier schwarze
Container, die am Nachmittag bereits

Grossstädtische


Tristesse


Für Zürcher ist die Busstation am Sihlquai


ein Schandfleck. Und in den nächsten Jahren


dürfte das auch so bleiben. Die Reisenden kümmert


das freilich wenig.Von Lind a Kopo nen (Text)


und Joël Hunn (Bilder)


Dieser Ort war mehrmals ein Brennpunkt der Zürcher Stadtgeschichte


Die erste «Landi»
Einen ersten grossenAuftritt hat das Areal
an der Sihl imJahr 1883. Zürich hat sich in
den Jahren zuvor starkverändert, nun will
man der Schweiz alles Neuezeigen und
veranstaltet zu diesem Zweck die erste
Landesausstellung der Schweiz.Auf dem
Platzspitz und dem heutigen Carparkplatz
wird gross angerichtet.Wo später das
Landesmuseum errichtet wird, steht die
Industriehalle, beim Carparkplatz die
Maschinenhalle. 600000 Besucherinnen
undBesucher hatte man erwartet, 1,
Millionen kamen.


Etwas für die Stadtverwaltung
Ein Stadtplan aus demJahr 1900 zeigt
dann neue Lager und Anlagen:Auf dem
Carparkplatz selber ist ein grosses Geviert
zu sehen, angeschrieben mit «Städt.
Materialverwaltung». Etwas weiter die


Ausstellungsstrasse stadtauswärts sieht
man die «Central-Molkerei» und die
«Städt. Filteranlagen».

Die Carskommen
1980 kommen dann die Cars.Jahrzehnte-
lang hat man diese innerhalb der Stadt
von einem Platz zum andernverschoben.
Die Carhalter sind optimistisch, dasssie
hier endlich den geeigneten Ort für ihre
Gefährte gefunden haben. 37 Plätze gibt
es vorerst, doch denBegriff Carparkplatz
vermeidet man sorgfältig, denn «auswärti-
gen» Cars steht der Platz gegenüber dem
Landesmuseum nicht offen; lieber spricht
man deshalbvom neuen Carbahnhof.

Umkämpftes Jugendzentrum
Lang können sich die Carunterneh-
mer ihres neuenBahnhofs nicht freuen.
Wenige Wochen später wird das Haus an

der Limmatstrasse18–20 zum autonomen
Jugendzentrum (AJZ). Eskommt immer
wieder zu Scharmützeln mit derPolizei;
Drogenabhängige und Obdachlose nis-
ten sich in den neuenRäumen ein. Mal
ist das Haus offen, mal geschlossen. Defi-
nitiv Schluss ist im März1982: DieTräger-
schaft gibt die Schlüssel ab, das AJZ wird
kurz darauf abgebrochen.

Alle Plänewerden auf Eis gelegt
Jetzt tauchen ganz unterschiedliche Pläne
auf, wie man das Arealverwendenkönnte.
Das Landesmuseum liebäugelt mit der
lange schonversprochenen Erweiterung,
im Gespräch ist auch eine Überbauung mit
Wohnungen, Büros und Läden. Schliess-
lich wird aber alles auf Eis gelegt. Man
verweist darauf, dass dereinst der Stadt-
tunnel unter dem Arealverlaufenwerde,
Die markantenBauten für die Landesausstellung1883. BAZ der vom Milchbuck herkommend die

Einen Online-Fahrplan oderInformationsschalter gibtesauf dem Carparkplatz am Sihlquai nicht. Zur Orientierung dienen nur die Anzeigen derFernbusse.

«Es kommt
überraschend häufig
vor, dass jemand
im Bus seineTasche
vergisst.»

Zadaran Khan
Kioskinhaber

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