Neue Zürcher Zeitung - 20.09.2019

(Ron) #1

4INTERNATIONAL Freitag, 20. September 2019


Saudiarabien


tappt


im Dunkeln


Experten widersprechen
den Befunden von Riad

CHRISTIAN WEISFLOG, BEIRUT

Nach denAngriffen auf die Erdölanlagen
in Abkaik und Khurais sammelten saudi-
sche ErmittlerTrümmerteile vonRake-
ten und Drohnen zusammen. Es durfte
erwartet werden, dass diesen Über-
resten selbst in kurzer Zeit mehr über
die Art und Herkunft der Attacke vom
vergangenen Samstag entnommen wer-
den kann. Doch die von Armeesprecher
Turki al-Maliki am Mittwochabend prä-
sentiertenFakten gingen nicht über das
hinaus, was bisher aus amerikanischen
Geheimdienstkreisen an die Medien
durchgesickert ist. Die Angriffe mit ins-
gesamt18 Drohnen und 7 Marschflug-
körpern seien von Norden her erfolgt
und nicht ausJemen im Süden, sagte
Maliki. Bei denWaffen handle es sich
um iranischeWaffensysteme.

Im Raketentyp geirrt?


Als Beweis für seineTheorie nannte
Maliki unter anderem den verwende-
ten Raketentyp. Er identifizierte diesen
als Variante des iranischen Marschflug-
körpersYa-Ali. DessenReichweite be-
trage 700 Kilometer.Von Jemen bis nach
Khurais sind es 950 Kilometer, bis nach
Abkaik mehr als 1200 Kilometer. Das
Problem dabei ist: Die von Maliki präsen-
tiertenTeile sehen nicht aus wie von einer
Ya-Ali. «DieTrümmer stammen eindeu-
tig voneinerKuds, nicht einerYa-Ali»,
twitterteFabian Hinz vomJames Martin
Centerfor Nonproliferation in Monterey.
DieKuds-1 scheint eine kleinereVariante
der iranischen Sumar zu sein und befindet
sich seit wenigen Monaten im Arsenal der
jemenitischen Huthi-Rebellen. Sie wurde
in jüngster Zeit vermutlich bei Angriffen
auf den Flughafen von Abha im südlichen
Saudiarabien verwendet. Experten gehen
jedoch davon aus, dass dieReichweite der
Kuds auf 700 Kilometer begrenzt ist. Mit
ihr ist deshalb vonJemen auskein Angriff
auf Khurais möglich.
Wenig präzisewirkte auch die Identi-
fikation der Drohnen. Maliki sprach von
iranischen Delta-Wing-Drohnen. Einige
derTrümmer waren bei der Präsenta-
tion zudem mit DeltaWave angeschrie-
ben.Auch darüber, von wo aus genau die
Angriffe gestartet wurden und warum die
saudische Flugabwehr versagte, konnte
Maliki nichts sagen. «Saudiarabien hat
bewiesen, dass es nichts weiss», twitterte
Hesameddin Ashena, ein Berater des ira-
nischen Präsidenten HassanRohani,kurz
nach der Präsentation.

Auch Huthi inkonsistent


Quasi alsAntwort auf die saudischeDar-
stellung meldete sich wenigspäterauch
der Sprecher der Huthi-Miliz zuWort.
SeinAuftritt überzeugte indes ebenso
wenig. Die Angriffe vom Samstag seien
ein guter Beweis für dieFähigkeiten der
Huthi, sagteYahya Saree. Dabei präsen-
tierteer angebliche Luftaufnahmen der
saudischen Erdölanlagen, die vor dem
Angriff gemacht worden seien. Zudem
blendete er Bilder aus dem Innern der
Raffinerie Abkaik ein, die von Huthi-
Agenten gemacht worden sein sollen.
«Drei von den vier Bildern sind defini-
tiv gefälscht», schreibtFabian Hinzvom
James Martin Center for Nonprolifera-
tion aufTwitter. Bei früheren Medien-
auftritten hätten die Huthi zudem echte
Videoaufnahmen der Aufklärungs-
kameras und von den Drohnenstarts
gezeigt.Davon war nun nichts zu sehen.
Wären die Huthi tatsächlich für die An-
gri ffe verantwortlich, müssten sie über
solches Material verfügen.
GesicherteFakten über die Angriffe
gibt es deshalb weiterhin nur wenige.
Noch immer sickern jedoch interessante
Neuigkeiten via amerikanische Medien
an die Öffentlichkeit durch. Die Angriffe
seien vom iranischenRevolutionsführer
Khamenei genehmigt worden, berich-
tete etwa am Mittwochabend der Sender
CBS. Demnach sollen dieUSAauch über
Satellitenbilder verfügen, die dieVorbe-
reitungen für den Angriff auf der Luft-
waffenbasis Ahwaz in Südiran zeigen.

Freispruch für Ex-Fukushima-Manager


Diejapanische Atomlobby fährt einen juristischen Etappensieg ein, doch der Widerstand wächst


MARTINKÖLLING,TOKIO


Mehr als achtJahre mussten die Betrof-
fenen derAtomkatastrophe vonFuku-
shima auf die juristischeAufarbeitung
des Unfalls warten.Am Donnerstag
endete der Prozess gegen drei ehema-
lige Vorstände des Kraftwerksbetreibers
Tepco für sie mit einer herben Enttäu-
schung.Das Gericht sprach den frühe-
ren Verwaltungsratschef vonTepco, Tsu-
nehisa Katsumata, seineVizepräsiden-
ten IchiroTakekuro und einen weiteren
Manager, Sakae Muto, vomVorwurf
frei, durch grobfahrlässige Unterlassun-
gen für die dreifacheKernschmelze im
AtomkraftwerkFukushima I persönlich
verantwortlich zu sein.
Am 11.März 2011 hatte ein riesiger
Tsunami nach einem grossen Erdbeben
vorJapan die nordöstlicheKüste des
Landes verwüstet und auch das Atom-
kraftwerk zerstört. Mehr als 160000
Menschen mussten evakuiert werden.
Viele von ihnenkonnten bis heute nicht
in ihre Heimat zurückkehren. DieVer-
treter der Sammelklage hatten denVor-
ständen vorgeworfen, 2008 und 2009
Warnungen vor einem grossen Tsunami
missachtet undkeine Verbesserungen an
der Tsunami-Schutzmauer durchgeführt
zu haben. IhreForderung lauteteauf
fünfJahre Haft. Die Richter sahen es
allerdings nicht als erwiesen an, dass die
notwendigen Arbeitenbis zum Tsunami
hätten ausgeführt werdenkönnen.


Bezirksgericht belagert


Für die dreiVorstände mag das Urteil
ein kleiner persönlicher Sieg sein. Doch
politisch ist die Angelegenheit weder für
Tepco erledigt, noch bahnt sie der Atom-
strategie des japanischen Ministerpräsi-
denten Shinzo Abe einenWeg. Tepco
wurde schon mehrfach zu Zahlungen
von Schadenersatz verurteilt. Zudem
gerät AbesVersuch, die noch funktions-
fähigen Atomkraftwerke wieder ans
Netz zu bringen und womöglich neue
Kraftwerke zu bauen, achtJahre nach
dem Unfall immer stärker in dieKritik.
Das öffentliche Interesse an dem
Fall ist weiterhin gross. Das Hochhaus
desTokioter Bezirksgerichts glich am
Donnerstag einerTrutzburg im Belage-
rungszustand.Fünf Übertragungswagen
de r nationalenFernsehsender parkier-
ten vor dem Haupteingang, Kamera-
teams flankierten andere Eingänge.Ver-
treter von Klägern und Anti-Atomkraft-


Gruppen vervollständigten denKordon.
Siewaren zwar nachdem Urteil bitter
enttäuscht, jedoch nicht entmutigt. «Ob
gestern, heute oder morgen, wir wer-
den unserenWiderstand fortsetzen»,
sagt Akiko Morimatsu, eineVertrete-
rin der 5700 Kläger gegenTepco. Es gilt
als wahrscheinlich, dass derFall in Beru-
funggehen wird.
Doch auchinAbes liberaldemokra-
tischerPartei wächst derWiderstand
gegen die offiziellePolitik. Kaum hatte
Abe den politischen Jungstar Shinjiro
Koizumi vorigeWoche zum Umwelt-
minister ernannt, wandte der sich gegen
seinenRegierungschef. Er wolle her-
ausfinden, wie man die AKW abstel-
len, nicht wie man sie erhaltenkönne,
erklärte der 38-Jährige an seiner ersten
Pressekonferenz.«Wir sind verloren,
wenn wir einen weiteren Atomunfall er-
lauben», sagteKoizumi.
Nicht einmal die Umweltschutzorga-
nisation Greenpeace verliert nach dem
Urteil die Hoffnung. «Selbst mit einem

Freispruch wird die Kritik an der Atom-
kraft hoffentlich weiter diskutiert wer-
den», sagt Shaun Burnie von Green-
peace Deutschland, derJapan als Atom-
experte immer wieder besucht.

Prozess ist Erfolg


DieJustiz habe dieJapaner zwar im
Stich gelassen. Aber unerwartet sei das
Urteil keineswegs gekommen. «Ein
Schuldspruch wäre ein vernichtender
Schlag nicht nur gegenTepco, sondern
auch gegenAbesRegierung und die
japanische Atomindustrie gewesen»,
sagt Burnie weiter. «Daherist es wohl
keine Überraschung, dass das Gericht
nicht auf Grundlage der Beweise ge-
urteilt hat.»
Dennoch wertet es Burnie als Erfolg,
dass denTepco-Vorständen überhaupt
der Prozess gemacht wurde. Dies ist
nicht selbstverständlich in einemLand,
in dem die Atomlobby überJahrzehnte
Politik und Medien fest im Griff hatte.

So hatten sich Staatsanwälte wieder-
holt geweigert, in dem politisch brisan-
ten Fall Anklage zu erheben. Doch ein
Bürgerausschuss desJustizministeriums
erzwang 2015 das Gerichtsverfahren.
Das Gericht musste dann Anwälte für
die Vertretung der Anklage beauftragen.
Burnie glaubt, dass Abes Atompoli-
tik trotz demFreispruch gegen die ehe-
maligenTepco-Fürsten zum Scheitern
verurteilt ist. DieRegierung wolle ver-
mutlich die Zahl der Kraftwerke von
derzeit neun wieder auf über dreissig
hochfahren: «Aber das wird Abe nie-
mals schaffen.» Dies sei schon wegen
des zähenWiderstands vielerJapaner
schwierig. Massendemonstrationen sieht
man in dem ostasiatischenLand zwar
nicht so oft. «Aber die Bürger kämpfen
vor Ort und werden niemalsaufgeben»,
sag t der Experte voraus. «Hier gibt es
Justizfälle, die über dreissig bis vierzig
Jahre geführt werden. DieserDurch-
haltewille ist eine Stärke derJapaner»,
ergänzt Burnie.

Vordem Gericht inTokio demonstrierteine Gruppe Unzufriedener mit Plakaten,auf denen «ungerechtes Urteil» steht.KYODO NEWS / IMAGO

Trump legt sich offen mit Kalifornien an


Der amerikanische Präsident will die strengen Abgasgrenzwerte im Gliedstaat aufheben


PETER WINKLER,WASHINGTON


Die amerikanische Umweltbehörde
EPA hat am Donnerstag ihren Plan ver-
öffentlicht,mit dem sie gegen denWillen
von Kalifornien und anderer Gliedstaa-
ten einheitlicheRegeln für Brennstoff-
verbrauch und Abgaswerte vonPerso-
nenwagen und Kleinlastern durchsetzen
will. Präsident DonaldTrump hatte den
Schritt amVortag aufTwitter angekün-
digt. Er lässt aber nur einen viel älteren
Streit zwischenWashington und dem
«Golden State» wiederaufleben.


Förderung fossiler Brennstoffe


Im Kern geht es darum, dass Kalifor-
nien seit Jahrzehnten eigene, stren-
gere Abgasgrenzwerte festlegen kann
als Washington. Im Bemühen um eine
Verbesserung der Luftqualität und um
die Verminderung vonTreibhausgasen
schlossen sich andere Gliedstaaten über
die Jahre den kalifornischenVorgaben
an. Ihr Anteil am amerikanischen Markt
wurde gross genug, um dieAutoherstel-
ler zu zwingen, die kalifornischen Nor-
men mehr oder weniger zu erfüllen.
Trump ist nicht der ersterepublikani-
sche Präsident, der diese Sonderstellung
Kaliforniens aufheben will. Bereits Prä-


sident GeorgeW. Bush hatte 2007 die
EPA angewiesen, die Sonderbefugnis
des Gliedstaats aufzuheben. Der dama-
lige kalifornische Gouverneur Arnold
Schwarzenegger,selber einRepublika-
ner,klagteimJanuar2008gegen die
EPA. Die Sache musste aber nicht bis
zum bitteren Ende ausgefochten wer-
den, weil Obama im Herbst 2008 die
Präsidentenwahl gewann.
Wie damals werfen Kritiker derrepu-
blikanischenRegierung auch heute vor,
sich in den Dienst der Erdölindustrie zu
stellen,statt die Gesundheit der Men-
schen als oberste Priorität zu betrach-
ten. Trump und der EPA-Administrator
AndrewWheeler,ein ehemaliger Lob-
byist für denKohlebergbau, haben in
verschiedenenÄusserungen und auch
mit konkretenTaten durchaus klar-
gemacht, dass sie denVerbrauch von
fossilen Brennstoffen nicht weiter ein-
schränken, sondern vielmehr fördern
wollten, weil die betreffende Industrie
ein wichtigerWirtschaftsfaktorsei.
Dass dies dieTriebfeder für den
Streit mit Kaliforniensei, weisen sie
allerdings weit von sich.Vielmehr gehe
es darum, die Unsicherheit in derAuto-
branche zu beenden, die sich wegen der
ungleichen Standards imLand ergeben
habe. Zudem behaupten sie, die Mass-

nahme werdeAutos billiger machen.
Dies führedazu, dass dieKonsumenten
rascher Neuwagen kauften. Dies wie-
derum werde nicht nur dieVerbrauchs-
werte positiv beeinflussen, sondern auch


  • weil neueAutos sicherer seien als alte

  • die Zahl derVerkehrstoten um 10 00
    Personen proJahr senken.
    Beide Argumente stehen auf töner-
    nenFüssen. Experten der EPA selber
    hatten in internen Dokumenten der
    Behauptung widersprochen, dass die
    Lockerung der Abgasvorschriften zu
    wenigerVerkehrstoten führe. Die un-
    abhängige Organisation fürKonsumen-
    tenschutz ConsumerReportsrechnete
    in eigenen Modellen aus, dass der Mehr-
    verbrauch vonTreibstoff, der wegen der
    lockereren Vorschriften zweifellos ein-
    treten werde, das Autofahren sogar teu-
    rer mache, und zwar umgerechnet rund
    3300 Dollar proAuto.
    DieKonsumenten ihrerseits machen
    klar, dassReden über das Klima das
    eine ist, ihr Anspruch an denFahrgenuss
    aber etwas anderes. Sie kaufen bevorzugt
    immer grössere Geländewagen und Pick-
    ups.Auch dies treibt dieKosten in die
    Höhe.Um dieVerbrauchsgrenzwerte ein-
    haltenzukönnen,mussten dieHersteller
    mehr Elektroautos bauen, die teurer sind
    und zumTeil grosszügig subventioniert


werden müssen.Die Kostenwurden auf
die gut laufenden Modelleüberwälzt: die
grossmotorigen SUV und Pick-ups.
UnmittelbareFolgen wird der Plan
der EPAkeine haben, denner wird nur
einen bereits bestehendenRechtsstreit
ausdehnen und verschärfen.Dass Trump
einen neuen Anlauf nehmen wollte, dem
«Golden State» dessen Sonderbefug-
nisse zu entreissen, war nämlich schon
seit über einemJahr bekannt. Der Prä-
sident ging umso eifriger ansWerk, als
er damit einen weiteren Pflock ausreis-
sen könnte, den seinVorgängerBarack
Obama eingeschlagen hatte, als er 2012
die Regeln landesweit verschärfte.

Skepsis im Gericht


Nun würdeTrump zwei Fliegen mit
einem Schlag treffen: die strengen
Obama-Grenzwerte de facto einfrie-
ren und die Sonderbefugnis Kalifor-
niens abschaffen. Kalifornien und 17
Gliedstaaten klagten vor dem Bundes-
appellationsgericht inWashington gegen
den damaligen EPA-Chef Scott Pruitt
und den Plan, die Obama-Grenzwerte
zu lockern. Das Gericht äusserte kürz-
lich Skepsis über die Beweggründe der
Regierung,wollte aber abwarten, bis der
gesamte Plan bekannt ist.
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