Neue Zürcher Zeitung - 20.09.2019

(Ron) #1

Freitag, 20. September 2019 INTERNATIONAL 3


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«Das Parlament war ein sterbender Ort»


JohnBercow, Speaker des britischen Unterhauses, ist überzeugt, dass die Abgeordneten dank ihm wieder lebendiger debattieren


Dank den schier endlosen Brexit-Wir-
ren in Grossbritannien istJohn Bercow,
der Speaker des Unterhauses, über die
Landesgrenzen hinaus bekannt gewor-
den. Wereinmal einenVideoausschnitt
aus einer Unterhausdebatte sah und mit
den Gepflogenheiten der «Mutter aller
Parlamente» nicht vertraut ist,staunte
nicht selten über die Lebendigkeit und
Brillanz der Debatten und dieVirtuosi-
tät, mit welcher der Speaker all dieRe-
dekünstler, Selbstdarsteller und Zwi-
schenrufer auf beiden Seiten des Hau-
ses imZaumhält. Selbst im grössten
Tumult scheint es Bercow pudelwohl zu
sein, wenn er sich mit dröhnenden «Or-
der, order»-Rufen Gehör verschafft.
Das erbitterte Ringen um den Brexit
hat Bercow viel Ordnungssinn,Durch-
setzungsvermögen und auch manch
eine umstrittene Entscheidung abver-
langt.Neben vielenFans hat er sich auch
mächtigeFeinde gemacht. Bei der be-


vorstehendenParlamentswahl wird er
nicht mehr antreten und das Amt nach
zehnJahren abgeben. Am Donnerstag-
abend hielt Bercow am Europainstitut
an der Universität Zürich eineRede,um
danach nach Genf weiterzureisen, wo
der ganz grosseFan vonRoger Federer
privat einTennisturnier besuchen will.
Im Interview mit der NZZ erklärt er,
wie diePolitik aus der extremenPolari-
sierung herausfindenkönnte, in welche
sie der Brexit-Kampf geführt hat.


Mister Speaker, vor zehn Jahren haben
Sie Ihr Amt mit demVersprechen ange-
treten, Sie würden die Institutionen des
Parlaments modernisieren.Was waren
Ihre wichtigsten Erfolge?
Als ich michzur Wahl als Speaker
stellte, war das Haus ein sterbender
Ort. Das wichtige Geschehen fand wo-
anders statt, weiles im Parlamentkeine
Möglichkeit gab, Debatten zu aktuellen
Themen zu führen, welche dieRegie-
rung nicht auf dieTagesordnung setzen
wollte. Deshalb tauchten viele Abge-
ordnete gar nicht mehr zu den Debat-
ten auf. Ich wollte als Magnet wirken.
Deshalb erlaubte ich in meiner Amts-
zeit 658 DringendeFragestunden.Das


führte zu mehr Lebendigkeit, Dringlich-
keit und Unberechenbarkeit imParla-
ment. DieAbgeordnetenkönnen jetzt
Dinge aufbringen, die ihnen und ihren
Wählern am Herzen liegen.Die Füsse
der Minister werden über dasFeuer ge-
halten.Das ist ein grosser Unterschied.

Im Maierklärten Sie in einerRede, eine
Schliessung desParlaments als deszen-
tralenOrts der Brexit-Debatte sei un-
vorstellbar. Das Unvorstellbare ist aber
nun geschehen.Was sagt das aus über
den Zustand der britischen Politik?
Ich möchte die Leidenschaften nicht
noch zusätzlich anheizen. Ich möchte
nur so viel sagen:Das ist noch nicht das
Ende der Geschichte. Zuerst einmal
müssen wir abwarten, wie das Oberste
Gericht über die Zulässigkeit der Sus-
pendierung desParlaments durch die
Regierung entscheiden wird.Dann ist
es so , dass wir bis Ende Oktober noch
viel Zeit fürParlamentsdebatten haben
werden.Und schliesslich ist wichtig,dass
es mi ttlerweile ein Gesetz zumAufschub
des Brexits gibt, dem ich durch meine
Entscheidungen denWeg gebahnt habe.
Es ist also viel geschehen, und vie-
les mehr wird noch geschehen bis zur
Lösung der Brexit-Saga.

Trotz der Suspendierung desParlaments,
welche Sie selbst als empörend bezeich-
net h aben, hat dieRegierungspartei ge-
mäss denWählerumfragen immer noch
weitaus den grössten Zuspruch.Stimmt
etwas nicht mit demDemokratiever-
ständnis in Grossbritannien?
Das Land ist gespalten. DieKonserva-
tiven sind eine grosseTraditionspartei.
Der neue Premierminister ist sehr be-
kannt und erfreut sich normalerweise
einesStartbonus. Das sind allesFakto-
ren, die hier eineRolle spielen. Aber
es gibt inder Politik immer Ebbe und
Flut. Ich möchte dakein Urteil spre-
chen oder einen Missstand untersuchen.
MeineFunktion ist es, Debatten zu er-
möglichen, so dass die Abgeordneten
ihre Meinung äussernkönnen.

Es gibt dieKonvention, dass die gros-
sen Parteien imWahlkreis des Speakers
keine konkurrierenden Kandidaten auf-
stellen.DieKonservativen haben nundie
Abkehr von dieserRegel angekündigt.
WirddieserTraditionsbruch dieRolle
künftiger Speaker beeinträchtigen?
Das ist eine wichtigeKonvention, aber
in derVergangenheit ist sie auch schon
hin und wieder gebrochen worden. Es
war allerdings weitherum bekannt, dass
ich nicht noch einmal für eineWieder-
wahl kandidieren würde. Ich persönlich

sehe daskomplett entspannt und wün-
sche meinem Nachfolger nur das Beste.

Sie haben vieleAnhänger, aber auch
viele Gegner. Man che kritisieren, Sie
hätten die für Ihre Amtsführung nötige
Unparteilichkeit nicht ausreichend be-
wiesen.Was hätten Sie besser machen
können?
Sie können nicht allen gefallen. Ich bin
überzeugt, wenn ich Ihnen jetzt ehrlich
in dieAugen schaue, dass ich vollkom-
men fair und unparteilich war bei der
Um setzung derTraditionen des Amts

des Speakers.Der Speaker ist nichtda,
um diePolitik derRegierung oder der
Opposition zu liefern. Der Speaker ist
da,um dem Haus das zu erleichtern,was
es will. In der Zeit des Brexits ist beson-
ders, dass dieRegierungregelmässig ein
sehr wichtiges Geschäft durchzusetzen
ve rsucht, für das siekeine Parlaments-
mehrheithat. Es ist eineMinderheits-
regierung, die immer wieder Abstim-
mungen verloren hat. In diesem Um-
feld kam es hin und wieder vor, dassAb-
geordnete mich baten, Abstimmungen
über alternativeVorschläge abzuhalten.

Ich habe das imRahmen derrechtlichen
Konventionen erlaubt, weil dadurch der
Wille derParlamentsmehrheit getestet
werdenkonnte. Das hat derRegierung
nicht gepasst. Nach meinemVerständ-
ni s war das aber demokratisch richtig.
Es ist nicht meineAufgabe, die Regie-
rung vor parlamentarischen Mehrheiten
zu schützen.Wenn ich voreingenommen
bin, dann zugunsten des gewähltenPar-
laments. Ich bin von ihm berufen wor-
den, nicht von derRegierung, viermal
in Folge, für die längste Amtszeit eines
Speakers seit dem ZweitenWeltkrieg.

Aber Siekennen doch die Lebensweis-
heit: Menschen beklagen sich gerne und
vergessen dabei, dass sie früher auch
einmal bevorzugt wurden. Ich bin in der
Vergangenheit oft den Brexiteers ent-
gegengekommen,jetzt habenauch ihre
Gegner dasRecht, gehört zu werden.

Braucht Grossbritannien jetzt eine ge-
schriebeneVerfassung, um die demo-
kratischenRechte desParlaments aus-
reichend zu schützen?
Wir sollten hierzu offen sein und nicht
nur an denTraditionen hängen. Ich war
früher selbstkein Anhänger einer ge-
schriebenenVerfassung, aber in den
heutigen Umständen sollten wir das in
Betracht ziehen und sehr genau prüfen.
Das wird aber nicht mehr meineAuf-
gabe sein.

Ist das jetzt der richtige Zeitpunkt? Oder
sollte dieses Projekt im heutigen stark
polarisierten Umfeld besser auf ruhigere
Zeitenverschobenwerden?
Das glaube ich nicht. Ein solches Unter-
fangen braucht Zeit.Wenn man es nicht
jetzt anpackt, würde man es umJahre
hinausschieben.Das wäre einFehler.
Jetzt müssten wir dieFrage sehr genau
prüfen, ob wir ein solches Projekt wün-
schen. Und wenn der Entscheid positiv
ausfällt, dann sollten wir eineKommis-
sion oder eine vom künftigen Speaker
geführteKonferenz mit exzellentenPer-
sönlichkeiten mit einem breitenFächer
von Wissen damit beauftragen.

Interview:Peter Rásonyi

«Es wird noch viel
geschehen
bis zur Lösung
der Brexit-Saga.»

«Die Abgeordneten
können jetzt Dinge
aufbringen, die ihnen
am Herzen liegen.»

Die süsse Rache von Sir John


Der ehemalige Premierminister Joh n Major greift vor dem britischen Supreme Co urt Boris Joh nson an


MARKUS M. HAEFLIGER, LONDON


Im Gerichtsfall vor dem britischen
Supreme Court über die von Boris
Johnson angeordneteVertagung des
Parlaments hat am Donnerstag der
ehemalige PremierministerJohn Ma-
jor ausgesagt. SirJohn trat als Zeuge
der Anti-Brexit-Aktivistin Gina Mil-
ler auf, die gegen dieRegierung klagt.
Er wurde von einem Anwalt vertre-
ten, weil das Gerichtkeine direkten
Zeugenaussagen zulässt. Dies und der
juristischeJargon nahmen der Eingabe
etwas von ihrer Dramatik, aber nie-
mand konnte verhehlen, dass Major
den Nachfolger undParteikollegen vor
den höchsten Richtern desLandes als
Lügner brandmarkte.


«Zweifellospolitisches Motiv»


Der Supreme Courthat abschliessend
zu beurteilen, obJohnson EndeAugust
rechtmässig handelte, als er dieParla-
mentssitzungen bis Mitte Oktober ver-
tagte. Die Regierung begründet die so-
genannte Prorogation mit derVorbe-


reitung auf ein neuesRegierungspro-
gramm. Diese dauert normalerweise
jedoch eine oder zweiWochen, nicht
deren fünf wie diesmal.Mehrere Grup-
pen klagten deshalb vor verschiedenen
britischen Gerichten. Sie machen gel-
tend, der Premierminister habe verhin-
dern wollen, dass sich die Abgeordne-
ten vor seiner ultimativen Brexit-Stra-
tegie querlegen.
Den elf Obersten Richtern liegen
zwei erstinstanzliche, diametral ent-
gegengesetzte Urteilevor. Ein engli-
sches und ein nordirisches Gericht hat-
ten sich für nicht zuständigerklärt,weil
die Prorogation politisch sei undVor-
recht der Exekutive sei,aber ein schot-
tisches Gericht verurteilte dieVer-
tagung letzteWoche als unrechtmässig.
Beide Seiten gingen in die Berufung.
DasInteresse am Gerichtsfallist gross.
Bei der Eröffnung der Anhörungen
schalteten sich am Dienstag 4,4 Millio-
nen Zuschauerinden Live-Stream des
Supreme Court ein.Vor dem Gerichts-
gebäude übertönten sich dieseWoche
die Sprechchöre von Befürwortern und
Gegnern des Brexits gegenseitig. Der

Fall weist freilich weit über den EU-
Streit hinaus.Verliert dieRegierung,
werden ihr Schranken gesetzt, die es in
der ungeschriebenen britischenVerfas-
sung bisher noch nie gab. Rechtsexper-
ten meinen, wenn der Premierminister
das Terrain vonTreuund Glauben ver-
lasse, sollten die Gerichte ihre Zurück-
hal tung aufheben und der politischen
Willkür Schranken setzen. Der Fall ist
geei gnet, die Grenzen vonParlament,
Regierung und Gerichtsbarkeit neu
auszutarieren.
In seiner Eingabe vom Donners-
tag zum Abschluss der dreitägigen An-
hörungen machte Major deutlich, es
gebekeinen Zweifel am politischen
Motiv Johnsons. Dieserhabe sicher-
stellen wollen, dass dasParlament in
den Wochen vor dem EU-Gipfel von
Mitte Oktober untätig bleiben müsse.
DerVorwurf wiegt schwer. Ob SirJohn
ausschliesslich als Staatsmann inter-
venierte oder auch vonRachelust an-
ges tachelt wurde, kann man nur mut-
massen.Während seinerAmtszeit (
bis 1997) hatten die BerichteJohnsons,
der damals BrüsselerKorrespondent

des «DailyTelegraph» war, des Leib-
blatts derTories, und die Euroskepti-
ker in der eigenenkonservativenPar-
tei Major das Leben schwergemacht.

Johnsonbleibt störrisch

Die Obersten Richterwollen ihr Urteil
am Montag bekanntgeben. Eine Nie-
derlageJohnsons wäre einschneidend,
aber nicht überraschend. Die direk-
ten politischen Auswirkungen da-
gegen würden vermutlich gering aus-
fallen. Der Anwalt derRegierung legte
am Donnerstag auf eine vorausgegan-
geneAufforderung der Gerichtsvorsit-
zendenLady (Brenda) Hale hin Pläne
für diesenFall vor. Danach behält sich
Johnson vor, das Parlament umgehend
erneut zu vertagen, diesmal mit offe-
nen Karten spielend, alsorechtmässig.
Werde er dagegen gerichtlich gezwun-
gen, das Parlament sofort einzuberufen,
werde sich der Premierminister beugen;
in der Mitteilung an die Richter heisst
es warnend weiter, dass dasVorgehen
allerdings mit «grossen praktischen
Schwierigkeiten» verbunden wäre.

John Bercowsteht als Speaker des Unterhauses im Kreuzfeuerder Kritik.ANNICK RAMP / NZZ

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