Neue Zürcher Zeitung - 20.09.2019

(Ron) #1

58 WOCHENENDE Freitag, 20. September 2019


Wie gross ist der Erdumfang?


Seeleute konnten zwar relativ einfach den Breitengrad ermitteln. Aber den Längengrad konnten


im 16.Jahrhundert nur die erfah rensten Astronomen bestimmen. VON GEORGE SZPIRO


ChristophKolumbus meinte,in Ame-
rika Indien erreicht zu haben, obwohl
er bloss etwa ein Siebtel der Strecke zu-
rückgelegt hatte. Der Grund für den Irr-
tum war die Ungenauigkeit,mit der eine
Positionin d er frühen Neuzeit ermittelt
wurd e. Und weil der Erdumfang nicht
bekannt war, ahnten die Kapitäne auf
Magellans Flotte nicht, dass dieDurch-
querung desPazifischen Ozeans über
drei Monate dauern würde.
Wie man heute weiss, beträgt der
Erdumfang 40 075 km. Schon im drit-
ten Jahrhundertvor der modernen Zeit-
rechnung hatte der Grieche Eratosthe-
nes (276–195v. Chr.) den Erdumfang
erstaunlich genau auf 41 750 km ge-
schätzt. Allerdings war dies bloss eine
von mehrere n Schätzungen, die damals
herumgeboten wurden. Die Gebräuch-
lichste stammte vonPosidonius (135–51
v. Chr.),die etwa 10000 km zu kurz war.
In seinemWerk Almagest übernahm
Claudius Ptolemäus (100–170 n. Chr.)
die falsche Schätzung, und auf diese
stützte sich dann Columbus.
Als Ferdinand Magellan dreiJahr-
zehnte später das westliche Ende Süd-
amerikas erreichte und als erster Euro-
päer in das vor ihm liegende Gewässer
navigierte, hatte erkeine Ahnung, wie
breit derPazifische Ozean ist.


Fixpunkte Sonne und Nordstern


Die Bestimmung des geografischen
Ortes, an dem man sich gerade befindet,
ist heutzutageein Kinderspiel. Mithilfe
desGlobalPositioningSystems (GPS),
das in fast allen modernen Handys inte-
griert ist,lassen sichLängen- und Brei-
tengrade fast metergenau bestimmen.


Aber im frühen sechzehntenJahrhun-
dert,alsFerdinand Magellan seineReise
begann, war die Ortsbestimmung das
grösste Problem der Navigation.
Relativ einfach ist die Bestimmung
des Breitengrades, das heisst, wie weit
nördlich oder südlich desÄquators man
sich befindet.Zur Mittagszeit,wenndie
Sonne ihren Höchststand erreicht, misst
man denWinkel zwischen ihr und dem
Horizont. Mithilfe von Deklinationsta-
feln, die für jedenTag desJahres den
Höchststand der Sonne in Bogengrad
angeben, kann der Breitengrad berech-
net werden. Nachts wird anstelle der
Sonne auf der nördlichen Halbkugel
der Nordstern, auf der südlichen das
Kreuz des Südens zurPositionsbestim-
mung benutzt.
Weitaus schwieriger ist die Bestim-
mung desLängengrades, das heisst,
wie weit westlich oder östlich von
einem gewissen Meridian man sich be-
findet. Die im16.Jahrhundert übliche
Art der Ortsbestimmung bestand
darin, am Bug des Schiffes eine Holz-
planke ins Wasserzu werfen und die
Zeitspanne zu messen, bis das Holz
am Heck vorüberschwamm; so wurde
die Schiffsgeschwindigkeit geschätzt.
Sodann wurdemit demKompass der
Kurs bestimmt.Weiter kannte man die
Zeitspanne, die seit dem Ablegen von
einem Hafen mit bekanntenKoordina-
ten verflossenwar.
Diese Angaben zusammen erlauben
im Prinzip die Berechnung des momen-
tanen Längengrades.Aber mannig-
facheFehlerquellen wie unbekannte
Wind- und Strömungsgeschwindigkei-
ten, Messfehlersowie Ungenauigkeit
der vorhergehenden Ortsbestimmung

schaukeln sich auf und machen die
Schätzungen äusserst unzuverlässig.

Unpräzise Sanduhren


Erst Mitte des achtzehntenJahrhun-
derts , nach der Entwicklung präzi-
ser mechanischer Chronometer durch
den englischenTischlerJohn Harrison,
konntenLängengraderelativ leicht be-
stimmt werden.Da die Welt innert 24
Stunden um 360 Bogengraderotiert,das
heisst jede Stunde um fünfzehn Grad,
kann der Zeitunterschied zu einem be-
kannten Hafen für die Ortsbestim-
mung benützt werden. Genau zur Mit-
tagszeit, wenn die Sonne ihren Höchst-
stand erreicht, schaut der Seemann auf
ein e Uhr, die die momentane Zeit am
Ausgangshafen angibt.Dann multipli-
ziert er den Zeitunterschied in Stun-
den mit fünfzehn Grad und erhält so
den Längengrad. (Zum Beispiel:Wenn
es zur See Mittag ist, und die Uhr zeigt
an, dasses in Greenwich beim Null-
Meridian18.30 Uhr ist, so multipliziert
er sechseinhalb Stunden mit15 und er-
rechnet den Breitengrad97, 5.)
Zu Magellans Zeiten wurde die
Zeit noch mit Sanduhren gemessen,
die jede halbe Stunderotiert werden
mussten. Obwohl Magellans Flotte zur
Sicherheit fünfzehn solche Sanduhren
mit sich führte, waren sie für die Orts-
bestimmung zu ungenau.Längengrade
konnten bloss von erfahrenen Astrono-
men anhand der Stellung von Himmels-
körpern zueinander eruiert werden, und
auch das nur ungefähr. Einer der füh-
rendenFachleuteauf diesem Gebiet
war der spanischeKosmograph Andrés
de San Martín.

Im


Namen Gottes


und des Kaisers


Die Triebkräfte
der Welteroberung
in neun Stichworten

awy.·Drei Wochen auf zwei Inseln –
auf Cebu und Mactan wollten die Spa-
nier am andern Ende derWelt ihre Herr-
schaft etablieren.Wieineinem Bühnen-
drama verdichtet, zeigt das Geschehen
die wesentlichen Merkmale undVor-
aussetzungen der spanischenWeltherr-
schaft und überhaupt des europäischen
Kolonialismus.

„Ziel.Magellan hat einen Plan, näm-
lich die Molukken auf demWestweg
zu erreichen – und damit das spanische
Herrschaftsgebiet zu erweitern.

„Wille.Seinen Plan verwirklicht er
mit äusserster Beharrlichkeit.Dabei ist
der Einzelgänger stets auf Geheimhal-
tung bedacht. Nicht einmaldie Kapi-
täne kennen seinen Plan, niemand
weiss, wohin dieFahrt gehen soll. «Er
wolltekeinem dieReise offenlegen,
die er plante, damit niemand absprang
beim Gedanken, eine so grosse und er-
staunliche Sache zu tun», berichtet der
Chronist Antonio Pigafetta. So gut wie
nie ist Magellan bereit, den Rat ande-
rer anzuhören. Beim Angriff auf Mac-
tan wirdihm das zumVerhängnis.

„Glaube.Magellan ist der Beauftragte
des spanischenKönigs und damit Got-
tes. AlleTeilnehmer der Expedition
müssen vor der Abfahrtdie Beichte ab-
legen und täglich beten. Ob sie gläubig
sind, steht dahin.Jedenfalls dient die
Religionzur Selbstvergewisserung und
als Herrschaftsinstrument.

„Gewalt. Der Glaube rechtfertigt
Gewalt. Die Eroberer sind immer im
Recht – schliesslich geht es um dieAus-
breitung der christlichen Herrschaft.

„Gier.Die Spanierkommenals Plün-
derer.Je länger sie auf Cebu bleiben,
desto mehr pressen sie den Einwoh-
nern ab – bis zu dem Punkt, wo diese
sich wehren. Magellan selbst unter-
nimmt seineFahrt als gewinnstreben-
der Geschäftsmann. GemässVertrag
soll er Gouverneur der neu entdeckten
Inseln werden und zehnJahre lang das
Handelsmonopol auf der neuenWest-
route haben.

„Kapital.Am spanischen Hof findet
Magellan die nötige finanzielle Unter-
stützung für sein Projekt;am portugiesi-
schen Hof war er abgeblitzt.Durch sei-
nen Wechsel wird allerdings sein Nach-
ruhm geschmälert:Für diePortugiesen
ist er einVerräter,für die Spanierkein
Nationalheld.

„Wissen.Mit Magellan fährt einer der
besten Mathematiker jener Zeit,Andrés
de San Martín aus Sevilla. Er kann die
Lage vonKüsten und Inseln nach Brei-
ten- undLängengraden berechnen und
damit die spanischen Gebietsansprüche
auf der andern Seite derWelt dokumen-
tie ren.

„Organisation.Die «Casa de Contra-
tación», die spanische Seefahrtsbehörde
in Sevilla, ist die Zentrale der staatlich
gelenkten Übersee-Expansion Spaniens.
Hier wird das gesamte nautischeWissen
jener Zeit gesammelt. Magellan hat alle
einschlägigen Seekarten und Logbücher
studiert (auch in Lissabon).

„Propaganda.Magellan ist von der
epochalen Bedeutung seines Unter-
nehmens überzeugt, und er will sicher-
stellen, dass über seine Leistung berich-
tet wird. So nimmt er Antonio Pigafetta
au sVicenza als Chronisten mit. Dieser
hat Bücher gelesen über frühere Ent-
deckungsfahrten und mit Seefahrern
gesprochen. Nun will er «selbst die Er-
fahrung machen», er will «diese Dinge
sehen». Er erhofft sich davon persön-
liche Befriedigung und Nachruhm für
sich selbst.Das gelingt: SeinReise-
bericht von der Magellan-Fahrt wird
ein Bestseller, er wird auch heute noch
gedruckt und gelesen.

Erst Mitte


des 18. Jahrhunderts,


nach der Entwicklung


präziser Ch ronometer


konnten Längengrade


relativ einfach


bestimmt werden.


Spanische Hälfte Portugiesische Hälfte

Grenzliniegemäss dem
Vertragvon Tordesillas (1494)

Grenzlinie gemäss dem
Vertrag von Saragossa (1529)

Der Vert rag vonTordesillas

ImVertrag vonTordesillas teilten Spanien
und Portugal 1494 dieWelt unter sich
in zwei Hälften auf. Die Grenzlinie verlief
nach heutigen Begriffen im Atlantik
bei 46 GradWest; allerdings war sie nicht
präzise definiert. Entsprechend unklar
war derVerlauf des Gegenmeridians im
Pazifik. Mit der Magellan-Fahrt wollten
die Spanier beweisen, dass die Gewürz-
inseln mindestens teilweise in ihrer

Welthälfte lagen. Das wurde auch auf
Weltkarten so dargestellt. Die beiden
Mächte einigten sich 1529 imVertrag
von Saragossa: Spanien behielt die
Philippinen und verzichtete auf seine
AnsprücheandenMolukken,die
Portugiesen zahlten eine Ablöse von
350 000 Dukaten.

QUELLE: DEACADEMIC.COM
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