Neue Zürcher Zeitung - 20.09.2019

(Ron) #1

Freitag, 20. September 2019 INTERNATIONAL


Der wandlungsfähige Sebastian Kurz


Österreichs Altkanzler steht vor einem neuen Wahltriumph – dank einer Mischung aus Volksnähe und perfekter Inszenierung


IVO MIJNSSEN, WELS


Frankys Bierstadl inWels ist bis auf den
letzten Platz gefüllt.Kellner in Leder-
hosen und karierten Hemden servieren
im Festzelt Bier,und D’Mehrnblechan
spielen auf ihren Blechinstrumenten
Volksmusik. Die über tausendVersam-
melten tragenTracht und Sonntagsklei-
dung. Doch auf denT-Shirts derFreiwilli-
gen, auf Plakatenund Fähnchendominie-
ren dieFarbeTürkis und der NameKurz.
Beide stehen für den Star der Österrei-
chischenVolkspartei (ÖVP).
Gitarren- und Geigenklänge erfül-
len das Zelt, begleitet vonrhythmi-
schem Klatschen.Kurz bahnt sich den
Weg auf die Bühne und lächelt in Kame-
ras, die alles auf Grossleinwand übertra-
gen.«Wir holen uns unseren Kanzler zu-
rück», ruft der Moderator. Kurz meint
scherzhaft, seineFreundinsei n ach sei-
ner Absetzung zunächst schockiert ge-
wesen,ihn plötzlich in derWohnung
vorzufinden. «Bist du jetzt immer zu
Hause?», habe sie besorgt gefragt. Die
Leute johlen.


Politik fürdie Mittelschicht


Dann kommt er zur Sache: Er ma-
che «Politik mit Hausverstand»,die
sich an den wahren Sorgen der Men-
schen orientiere, nicht an medialhoch-
gekochten Skandälchen.Ihm,der selbst
aus kleinbürgerlichen Verhältnissen
stammt,geh e es um die hart arbeitende
Mittelschicht: «Die Menschen, die
morgens früh aufstehen, dürfen nicht
di e Dummen sein!» Er stehe ein für
Steuererleichterungen und mehrFrei-
heit .Klimaschutzbedeute Innovation
stattVerbote. Kurz, der von Ende 20 17
bis zum Ibiza-Skandal diesenFrühling
an der Seite derrechtspopulistischen
FreiheitlichenPartei (FPÖ) als Kanz-
ler mit der bisher kürzesten Amtszeit
regiert e, will seine «erfolgreiche Poli-
tik» weiterführen.
Wirklich warm wird das Publikum,
als Kurz dasAusländerthema anspricht:
«Die Leute in den Städten fühlen sich
durch die unkontrollierte Zuwanderung
nicht mehr heimisch», deshalb setze er
auf eine harte Migrationspolitik.«Öster-
reichs kulturelle Identität ist jüdisch-
christlich geprägt!»Tosender Applaus.
Nach der Rede stellensich seine
Fans an.Fast eine Stunde lang schüt-
telt Kurz Hände, lächelt in die Handy-
kameras und wechselt ein paarWorte.
Wer versucht, ihn in ein Gespräch zu
verwickeln, wird von denFreiwilligen
freundlich, aber bestimmt weggeführt.
Der konservative Spitzenkandidat ge-
niesst seinePopularität sichtlich. Kurz
führtin allen Umfragen haushoch, wo-
bei seine persönlichen Beliebtheits-


werte mit 41 Prozent noch acht Punkte
höher sind als jene derPartei.
Der Altkanzler hat es geschafft, ge-
stärkt aus dem Ibiza-Skandal hervor-
zugehen – ein Skandal, der zwar seinen
Koalitionspartner FPÖ betrifft,aber
auchFragen zurRolle des Kanzlers auf-
wir ft, der die Zusammenarbeit mit ihr
2017 ge gen erheblichenWiderstand for-
cierte. DochKurz verwandelte sich nach
seinerAbwahl durch dasParlament im
Mai nahtlosvom Staatsmann zumWahl-
kämpfer und Opfer der Machenschaften
von FPÖ und Sozialdemokraten.«Das
Parlament hat bestimmt, dasVolk wird
entscheiden»,lautet seinebenso effekti-
ver wie populistischer Slogan. Kritiker
sehen darin eine Geringschätzung der
demokratischen Institutionen.
Die bedingungsloseAusrichtung der
ÖVP auf den 33-Jährigen geht weit und
zeigte unter anderem inForm einer
liebedienerischen «offiziellen» Biogra-
fie seltsameAuswüchse. Doch derWie-
ner ist ein Erfolgsgarant. Dabei hat er
trotz seinem jungen Alter eine Ochsen-
tour hinter sich, vomJugendpolitiker
zum Vorsitzenden, mit Zwischenstatio-
nen als Integrationsstaatssekretär und
Aussenminister. Seit Jahren umgibt ihn
ein e loyale Entourage, die sein öffent-
liches Image mit feinem Gespür für die

Stimmung in der Bevölkerung inszeniert
und ebenso geschickt wie rücksichtslos
Machtpolitik betreibt.Wie dieJournalis-
tinnen Nina Horaczek undBarbaraToth
in ih rer Biografie nachzeichnen,schaffte
es Kurz so 2017, die damals serbelnde
Partei handstreichartig zu übernehmen.
Das Erneuerungsversprechen führte
ihn zumWahlsieg. Ein Revolutionär
war er jedoch nie.Ersorgte aber dafür,
dass die ihm ergebene, «türkise» Bewe-
gung auf die «schwarzen» Strukturen der
ÖVP aufgesetzt wurde. So entledigte er
sich der altenFührungsriege, arrangierte
sichaberauch mit innerparteilichen
Machtzentren wie denLandeshauptleu-
ten. DieFrage, ob er angesichts der tie-
fen Verankerung seinerPartei in Öster-
reichs trägen Staatsstrukturen zu weitrei-
chendenReformen fähig ist, harrt auch
nach seinem Sturz einer Antwort.
Kurz ist ein bürgerlicherPolitiker,
der allerdings vor allem in derFrage der
Zuwanderung eine deutlich härtere Hal-
tung vertritt als noch vor einigenJahren.
Durch eine starkeAnnäherung an die
migrationspolitischen Positionen der
Freiheitlichen brachteer diese 2017 um
den Sieg. Diese Domestizierung machte
ihn zumVorbild der Merkel-kritischen
Konservativen in ganz Europa. Linke
und viele Liberale werfen ihm hingegen

mit einigerVerbitterung vor, durch die
gemeinsameRegierung eine rechts-
extremePartei mit autoritärem Gedan-
kengut aufgewertet zu haben. Sie sehen
sich durch das Ibiza-Video bestätigt,das
die Koalition jäh zerbrechen liess.

ZweiGes ichter


Doch das Erfolgsrezept vonKurz be-
ruht nicht alleine auf seiner Migrations-
und Identitätspolitik. 2017 gewann er
neben freiheitlichen auch grüne, liberale
und jungeWähler in grosser Zahl. Kurz
profitierte vom Überdruss amReform-
stau in derrot-schwarzenKoalition, ver-
mochte aber auch, glaubwürdigPatrio-
tismus undeine weltoffene Haltung zu
verbinden.Dazu kommt ein unbestreit-
bares Charisma: Seine öffentlichenAuf-
tritte mögen minuziös geplant sein, doch
er wirkt im Gespräch authentisch und
interessiert.Wenn er sagt, er habe Men-
schen gern, nimmt man ihm dies ab.
Kurz hat jedoch auch ein weniger
freundliches Gesicht. Die demonstra-
tive Harmonie derRegierungspartner
ÖVP und FPÖ wurde mit Beginn des
Wahlkampfs abgelöst durch heftige Be-
schuldigungen.Kurz wirkte zeitweise
unsouverän. Statt dem durch das Ibiza-
Video hervorgerufenenVertrauensver-

lust staatsmännisch zu begegnen, insi-
nuierte er, der israelische Spin-Doctor
Tal Silberstein und die Sozialdemokra-
ten steckten dahinter – ohne jeglichen
Beweis. Er hörte damit erst auf, als es
ihm ein Gericht untersagte.
Sein Saubermann-Image erhielt durch
die Spendenpraktiken derÖVP zusätz-
liche Kratzer.Teilweise durch einen
Hackera ngriff an die Öffentlichkeit ge-
langteDaten zeigen, wie dieKonservati-
ven Grossspenden undWahlkampfausga-
ben verschleierten.Dabei machten auch
dieMedienFehler.DochstattTransparenz
zu schaffen,reagierteKurz mit Attacken,
unbelegten Manipulationsvorwürfen und
einer Gerichtsklage. Damit spielt auch er
ein riskantes Spiel mit der angeknackten
Glaubwürdigkeit der Institutionen.

«Erster werdenreicht nicht»


Geschadet hat ihm dies bisher kaum,
aber dererhoffte Mobilisierungseffekt
könnte sich inmitten einer Atmosphäre
des Misstrauens gegendie Eliten auch ins
Gegenteil verkehren. Schliesslich wird
auchKurz’ Spagat zwischenrechts und
der Mitte in einemWahlkampfsichtba-
rer, in dem das Migrationsthema weni-
ger dominiert: Seine heterogenenWäh-
lergruppen an die Urnen zu bringen,wird
nicht einfach. InWels betontKurz denn
auch : «Erster werdenreicht nicht.»Wenn
sie die Möglichkeit erhielten, würden die
«Linken» sofort eine Mehrheit gegen ihn
bilden, behaupteter.
Ein solches Szenario scheintaus-
geschlossen. Doch auch fürKurz wer-
den dieKoalitionsverhandlungen nach
der Wahl am 29. September schwie-
rig. Er hat immer klargemacht, dass er
wied er Kanzler werden will. Mit wem,
sagt er nicht. Programmatisch stünde er
der FPÖ am nächsten, und dieParteien
könnten einerelativ eingespielteKoope-
ration theoretisch fortführen.DochKurz
weis s, dass eine Neuauflage deutlich ris-
kanter wäre als vor zweiJahren. Die
FPÖ zeigt seit Ibiza kaum Einsicht und
bleibteine Hypothek. Der erneuteKol-
laps einerRegierung mit ihrkönnte auch
Kurz in den Abgrundreissen.
Er muss deshalb zumindest zei-
gen, dass er alle Alternativen ausge-
lotet hat, wobei ein Zusammengehen
mit den Liberalenvon Neos und den
Grünen als mögliche Option gilt. Beide
sind aber misstrauisch.Sie fürchten,von
de r stärkerenÖVP über denTisch ge-
zogen zuwerden,und stehen migra-
tions- wie gesellschaftspolitisch stärker
links. MachteKurz mit dieser Dreier-
koalition Ernst, müsste er sich in die
Mittebewegen.Das ist riskant.Aber
es wäre nicht die erste politischeWand-
lunginseiner Karriere.
Wirtschaft, Seite 29

VomStaatsmann zumWahlkämpfer–SebastianKurz überzeugtdurchseine Authentizität. LEONHARD FOEGER / REUTERS

Justin Trudeau entschuldigt sich für einen Auftritt als Aladin


Einen Monat vor der kanadischen Parlamentswahl werden wegen eines alten Fotos Rassismusvorwürfe geg en den Premierminister laut


SAMUEL MISTELI


Der kanadische PremierministerJustin
Trudeau, der einst als progressive Licht-
gestalt galt, hat weiterenGlanz einge-
büss t. Das Magazin«Time» veröffent-
lichteamMittwoch ein Bild desRegie-
rungschefs, das ihn an einerParty imJahr
2001 zeig t. Trudeau ist darauf mit sorg-
fält ig geschwärztem Gesicht zu sehen.Er
trägt ein breites Grinsen und einenTur-
ban, die ebenso sorgfältig geschwärzten
Hände hat er um eineFrau gelegt.
Das Foto sorgte fürAufsehen, weil
das Schwärzen («brownface» oder
«blackface») des eigenen Gesichtes
durch hellhäutige Personen als ras-
sistisch gilt. Es erinnert an die ameri-
kanischen Minstrel-Shows, in denen
sich im19. und 20.Jahrhundert weisse
Schauspieler und Musiker überDun-
kelhäutige lustig machten. Die schwarz
geschminkten Schauspieler karikierten
Dunkelhäutige, indem sie Dialekte und
angebliche Marotten nachäfften.Beson-


ders in den USA ist «blackfacing» auf-
grund der jahrhundertelangen Diskrimi-
nierung der schwarzen Bevölkerung ein
hochsensiblesThema.
Trudeau entschuldigte sich nach der
Veröff entlichungdes fast zwanzigJahre
alten Bildesumgehend. Er habe damals
nichtgedacht, dass das Schwärzen des
eigenen Gesichtsrassistisch sei.Eran-
erkenne nun aber,dass esrassistisch ge-
wesen sei, und es tue ihm zutiefst leid.
Das Foto stammt aus demJahrbuch
2000/01 derWest Point GreyAcademy
in Vancouver.Trudeau war zu der Zeit
Lehrer an der Eliteschule. Gegenüber
Journalisten sagte der Premierminis-
ter am Mittwoch, er sei auf dem Bild als
Aladin verkleidet gewesen.
Bei seinerEntschuldigung gabTru-
deau auch zu, bereits während seiner
High-School-Zeit mit geschwärztem
Gesicht an einem Gesangswettbewerb
aufgetreten zu sein.Am Donnerstag ver-
öffentlichte die kanadischeWebsite Glo-
bal News zudem ein weiteresVideo, das

den Premierminister mit «blackface»
zeigt. Es soll aus den frühen1990er Jah-
ren stammen.
Für Trudeau, der seit 2015 im Amt
ist, kommt dieAufregung umdas Jahr-
buch-Foto zu einem denkbar schlech-
ten Zeitpunkt. Er hat vor wenigenTa-
gen dasParlament aufgelöst und stellt
sich am 21.Oktober zurWiederwahl.Tru-
deau kämpft mit sinkenden Beliebtheits-
werten, die mitmehreren Skandalen zu-
sammenhängen, in die der Premierminis-
ter verwickelt war. Der schwerwiegendste
wurde imFebruar publik. Der Premier-
minister hatte zugunsten derBaufirma
SNCLavalin Druck auf dieJustizminis-
terin JodyWilson-Raybould ausgeübt,um
demKonzern ein Strafverfahren wegen
Korruption in Libyen zu ersparen.Als die
Ministerin sich weigerte,die Affäre mit
einer Geldstrafe abzuhandeln, wurde sie
erst auf einen anderen Kabinettsposten
degradiert und schliesslich aus derPartei
ausgeschlossen. Eine Ethikkommission
hat Trudeau imAugust gerügt.

Trudeau, dessenVater schon kanadi-
scherPremierminister gewesen war, hatte
nach seinem Amtsantritt über die kana-
dischen Grenzen hinaus als Hoffnungs-

träger gegolten.Er beschrieb sich als stol-
zen Feministen und als Kämpfer für Min-
derheiten.Er bildete ein Kabinett,das zur
HälfteausFrauenbestand,undholte20 15
25 000syri scheGeflüchtetenachKanada.
Doch selbst unter den Gruppen, für
die Trudeau eintreten wollte, ist sein
Image ramponiert. Im vergangenen
Jahr wurde dem Premierminister vor-

geworfen, an einem Musikfestival im
Jahr 2000 eine Journalistin sexuell be-
lästigt zu haben.Trudeau wiesden Vor-
wurf zurück. Die indigene Bevölkerung
wiederumnimmt demRegierungschef
unter anderem übel,dass er für eine um-
strittene Erdöl-Pipeline durch Stam-
mesgebiet gestimmt hat.
Durch den «brownface»-Vorfall
dürfte Trudeau weitere Sympathien
bei Gruppen einbüssen, die als wich-
tige Stützen seinerLiberalen Partei gel-
ten.Viele Kanadierinnen und Kanadier
sind südasiatischer odernahöstlicher
Herkunft. Siekonzentrieren sich unter
anderem in denVororten der Millionen-
stadt Toronto, die als einer der Schlüs-
sel zur Wiederwahl gelten.Trudeau
sagte am Mittwoch, er habe bereits mit
Unterstützern telefoniert, die zu ethni-
schen Minderheiten gehören, um sich
für das publik gewordeneFoto zu ent-
schuldigen. In den Umfragen liegen die
Liberalen und dieKonservativePartei
vierWochen vor derWahl fast gleichauf.

JustinTrudeau
Kanadischer
GETTY Premierminister
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