Der Spiegel - 07.09.2019

(Ron) #1
Wenn viele das tun, gewinnt die gemein-
same Sache. Je närrischer die Verschwö-
rungsbehauptung, desto stärker das Signal.
Je mehr Zustimmung es bekommt, je öfter
es weitergeleitet wird, desto mächtiger
darf sich die Bewegung schätzen. Das halt-
lose Beschuldigen ist praktisch ihr perma-
nenter Selbsttest.
Abertausende Anhänger sind bereit, da-
für sehr weit zu gehen. Das zeigt eine neue
Verschwörungstheorie von beispielloser
Abstrusität. Sie wurde bekannt unter dem
Namen QAnon. Das Kürzel verweist an-
geblich auf einen Insider aus der US-
Regierung, der das Internet unentwegt
mit Neuigkeiten füttert. Es geht da um
jüdische Banker, die Medien und Staat un-
ter Kontrolle hätten, um Liberale und Lin-
ke, die bald hingerichtet würden, und um
eine Weltverschwörung des Kindesmiss-
brauchs, die zu zerschlagen ausgerechnet
Trump ausgesandt sei.
Kaum noch jemand macht sich die
Mühe, all die konfusen Behauptungen
auch nur zu begründen. Die Botschaft an
die Gegenseite ist hinreichend klar: Belege
hin oder her, wir trauen euch all diese
Schändlichkeiten zu.
Mag sein, dass es Leute gibt, die sich
tatsächlich in den Glauben an derart bi-
zarre Theorien hineinsteigern können.
Aber darauf kommt es am Ende nicht an.
Entscheidend ist der Wunsch, der sich im
Verschwörungsglauben äußert, egal ob
wahnhaft oder kalkuliert: Es ist das He-
rumfackeln mit dem Ausnahmezustand.

Märchen vom Bevölkerungsaustausch
Viele dieser Theorien malen das Bild einer
drohenden Apokalypse. Hinter den Kulis-
sen, behaupten sie, geschehe Ungeheures.
Es gehe gegen die Gesundheit oder gar das
Überleben der großen Mehrheit. Die Ver-
schwörer, eine kleine Minderheit, entzie-
hen sich auf spukhafte Weise
jedem Zugriff, und sie verfü-
gen über enorme Mittel der
Manipulation.
In Europa ist inzwischen die
irre Mär vom Bevölkerungsaus-
tausch führend, sie hat prak-
tisch das ganze rechtsextreme
Spektrum ergriffen. Vorden-
ker dieser Konspiration ist der
französische Schriftsteller Re-
naud Camus, ein älterer Herr,
der auf einem Schlösschen in
der Gascogne lebt. Er beklagt,
dass sein Land sich fülle mit Menschen, die
ihm nicht so recht einheimisch vorkommen.
In dem Aufsatz »Der Große Austausch
oder: Die Auflösung der Völker« hat Ca-
mus erklärt, was ihm zuwider ist: »In
Frankreich sind die Greise tendenziell
›Stammfranzosen‹«, schreibt er, »während
die Säuglinge Araber oder Schwarze sind,
meistens aus muslimischen Familien.«

Dass keine Statistik so eine Überzahl
hergibt, kümmert den Autor nicht. Ihm ge-
nügt der Augenschein des Straßenbildes:
zu viele Menschen, deren Haut dunkler
als weiß ist – und die sich noch dazu er-
lauben, Kinder zu bekommen.
Dass Menschen verschiedener Haut -
töne in einem Land leben, ist für Camus
schon von Übel. Aus ihrer weiteren Ver-
mischung rechnet er das Ende des Rein-
weißen hoch. Das ist das ganze Schre-
ckensbild des großen Austauschs: »le
grand remplacement«.
Camus behauptet, er sei einfach nur
Purist in ethnischen Belangen. Seinen An-
hängern ist es überlassen, den Rassismus
des Meisters weiterzuspinnen. Zum Bei-
spiel: Warum betreiben »die Eliten« wohl
überhaupt so ein »Umvolkungsprojekt«?
Eine der Antworten: Aus »Mischlingen«,
da sie nun mal dümmer seien, lasse sich
leichter eine willige »Sklavenrasse« für die
da oben heranziehen.
Das ist ein alter Stiefel; Ähnliches war
schon in »Mein Kampf« zu lesen: »Juden
waren es und sind es«, schrieb Adolf Hitler,
»die den Neger an den Rhein bringen.«
Aber erst in den vergangenen Jahren fand
die bösartige Narretei ein breites Publi-
kum: Sie verwandelte sich in eine über-
greifende Sammlungsideologie. Fast alle
Milieus, die den Hass auf Flüchtlinge kul-
tivieren, können sich darauf einigen.
Der alte Berliner Rechtsextremist Karl-
Heinz Panteleit etwa wettert gegen »die
Verdünnung und endliche Auslöschung un-
seres Volkes«, ins Werk gesetzt durch eine
»Invasion von Zivilokkupanten«. So steht
es in seinem Pamphlet über »Volks- und
Verfassungsfeinde« – und zu ebenjenen
zählt Panteleit da auch den ermordeten
Regierungspräsidenten Lübcke.
Wer darauf aus ist, kann eine Verschwö-
rungstheorie als Lizenz zur Gewalttat ver-
stehen. Sie malt das Bild einer derart un-
fassbaren Übermacht, dass gegen sie jedes
Mittel der Notwehr gerechtfertigt wäre.
Natürlich ist die Frage nie verkehrt, ob
in der Politik womöglich verdeckte Inte-
ressen zugange sind. Aber wer glaubt, dass
Politiker willenlos an den Drähten von
Puppenspielern baumeln, hat sich in einen
dystopischen Kinothriller verirrt.
In der Realität wäre keine Verschwörer-
gruppe imstande, die arglose Bevölkerung
über Jahrzehnte hinweg nach sinistren Plä-
nen zu steuern. Vollends unmöglich wäre
es, solche Umtriebe auch noch die ganze
Zeit geheim zu halten.
Der Tübinger Amerikanist Michael
Butter hat unlängst ein umfassendes Buch
zum Thema geschrieben*. Darin vergleicht
er echte Komplotte mit eingebildeten, und
der Befund fällt eindeutig aus: »Noch nie

* Michael Butter: »Nichts ist, wie es scheint«. Suhr-
kamp; 271 Seiten; 18 Euro.

schaften, die das verhasste System in Ver-
ruf bringen. Auf jedes passende Unglück,
auf jede Schreckenstat reimen sie den im-
mer gleichen Refrain: Die da waren es! Ge-
meint sind die »Lügenpresse«, die »Sys-
temparteien« oder einfach »die da oben«.
Auch nach dem Massaker von El Paso
begann sofort das übliche Spiel. All die To-
ten und Verletzten, hieß es im Internet,
das seien doch nur Schauspieler gewesen,
»crisis actors«, die sich nach dem Dreh das
falsche Blut abwaschen und mit der Gage
nach Hause gehen.
Die Zeiten, als so ein Affront undenkbar
war, liegen nicht lange zurück. Nach dem
Massenmord an der Columbine High
School zum Beispiel, im April 1999, waren
solche bizarren Unterstellungen nicht zu
vernehmen – es gab ja auch noch kein You-
Tube, kein Facebook. Heute kann jeder
binnen Stunden ein provokantes Kurz -
video ins Netz speisen und dann zusehen,
wie es sich verbreitet. Je krasser die Un-
terstellung, desto leichter gerät das Publi-
kum in Wallung.
Und das ist letztlich der Zweck der Ak-
tionen: Die Verschwörungstheoretiker
wollen möglichst viel Zustimmung einsam-
meln. Umständliche Erklärungen wären
dabei nur hinderlich. Das Ziel ist, wie es
scheint, vor allem das Anfeuern der Gleich-
gesinnten. Wenn es auch noch die Gegen-
seite erbost: umso besser! Das stärkt das
Selbstbewusstsein des Milieus, das mit die-
sen verstörenden Interventionen auch sei-
ne Angriffslust zur Schau stellt.
Besonders gut ist das an US-Präsident
Donald Trump zu studieren, der praktisch
dauerhaft im Verschwörungsmodus agiert.
Trump spricht nahezu wahllos von finste-
ren Machenschaften und »Fake News«.
Unlängst behauptete er erneut, die Präsi-
dentschaftswahl 2016 sei manipuliert ge-
wesen: In Kalifornien hätten illegale Ein-
wanderer mehrfach wählen
dürfen, »nicht nur zweimal,
immer wieder«.
Trump erklärte seinem Pub -
likum auch, wie das gelingen
konnte: Diese Leute würden
einfach zurück an die Wahl -
urne spazieren, einen neuen
Hut auf dem Kopf, ein neues
Hemd übergestreift – »und in
vielen Fällen machen sie nicht
einmal das«.
Wie kann es sein, dass
Trump mit solchem Aberwitz
davonkommt? Seine Anhänger jubeln ihm
zu, wenn er mal wieder die Lüge vom
Wahlbetrug auspackt. Die Wissenschaft
erkennt darin einen sozialen Sinn: Wenn
ich mich für dreiste, weil offenkundige
Lügen begeistere, gebe ich öffentlich mei-
ne Selbstachtung auf – um meiner Gruppe
willen. Mit diesem Opfer zeige ich, dass
auf mich Verlass ist.


DER SPIEGEL Nr. 37 / 7. 9. 2019 101

Wissenschaft

24 %
der Menschen, die
an Verschwörungs-
theorien glauben,
sind bereit,
Gewalt
auszuüben.
Quelle: Mitte-Studie,
Friedrich-Ebert-Stiftung,
Befragung von September 2018
bis Februar 2019
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