Der Spiegel - 07.09.2019

(Ron) #1

hat sich eine Verschwörungstheorie im
Nachhinein als wahr herausgestellt.«
Für eine Verschwörungstheorie genügt
es jedoch, dass sie sich stimmig anfühlt.
Fakten gehören im Zweifelsfall zur Welt
der Experten, denen man nicht über den
Weg traut. Das Milieu hält sich lieber an
Indizien, an Verdachtsmomente – und in
letzter Instanz an das popu läre Gefühl, da
müsse doch irgendwas faul sein. In der
»Mitte-Studie« der Friedrich-
Ebert-Stiftung gab die Hälfte
der Befragten an, den eigenen
Gefühlen mehr zu trauen als
dem Urteil von Fachleuten.


Die Psychologie des
Verschwörungsglaubens
Wo es um Stimmigkeit geht,
haben Verschwörungstheo-
rien einen enormen Vorteil:
Der Mensch ist von Natur aus
empfänglich dafür. Im Lauf
der Evolution wurde er zu ei-
nem geborenen Detektiv für verräterische
Muster; er sucht automatisch nach Verbin-
dungen zwischen Ereignissen, nach ver-
borgenen Bedeutungen.
Vor allem aber plagt uns eine Grund-
angst des sozialsten aller Säugetiere: Die
anderen in der Horde könnten sich hinter-
rücks gegen uns zusammentun. Manche
Forscher vermuten sogar, die Evolution
habe einen regelrechten Verschwörungs-
sinn hervorgebracht, ein Gespür speziell
für verdeckte Machenschaften. Schon un-
ter Jägern und Sammlern sei es vermutlich
vorgekommen, dass ein konspiratives
Häuflein einen missliebigen Anführer be-
seitigte. Gesunder Argwohn war in seiner
Lage womöglich von Vorteil.
Noch heute jedenfalls macht die Hin -
gabe an ein Verschwörungsgefühl manche
Menschen geradezu glücklich. Viele Ver-
schwörungsgläubige berichten, sie seien
eines Tages »aufgewacht«: gestern noch
»Schlafschafe« wie all die anderen, die ah-
nungslos ihr Herdendasein fristen – nun
auf einmal Auserwählte, der stumpfsinni-
gen Masse auf immer enthoben.
Diese Aussicht zieht, wenig überra-
schend, nicht alle Charaktere gleicherma-
ßen an. Die maßgeblichen Dossiers, Pam-
phlete und Videos der Szene stammen
»fast ausschließlich von Männern«, sagt
der Tübinger Experte Butter.
Einen Grund dafür sieht er in dem
Hauptmotiv, aus dem der Verschwörungs-
glaube sich speist: »das Gefühl, machtlos
zu sein, oder die Angst, es bald zu wer-
den«. Männer mit althergebrachtem Rol-
lenbild werden besonders schlecht damit
fertig. Die gewohnten Privilegien drohen
zu entschwinden, die Welt wird unüber-
sichtlich – da kommt eine Verschwörungs-
theorie gerade recht. Sie verwandelt die
gefühlte Randständigkeit in etwas Glorio-


ses: Der Anhänger kann in die Rolle des
rebellischen Helden schlüpfen. Fortan ge-
hört er zum kleinen Häuflein der Guten,
die den Schlafschafen erklären, wie die
Dinge wirklich laufen.
Wer die Welt seriös erklären will, tut
sich oft schwer. Es ist nun einmal vieles
kompliziert. Der Spezialist für Konspira-
tives dagegen kann da ganz anders auf-
trumpfen: Mit einem schurkischen Kom-
plott der Erzbösen gegen die
ahnungslose Bevölkerung –
nur ein paar wackere Außen-
seiter kommen der Sache auf
die Spur, und der Endkampf
beginnt. Ein Plot für einen
Blockbuster.
Vielleicht ist das Genre
auch deshalb so attraktiv für
Rapper geworden. Von jeher
stilisieren sie sich gern zu ul-
tramaskulinen Randfiguren,
die das System herausfordern.
Und sie finden dabei zuneh-
mend Gefallen an krassen Theorien. Ein
Großteil der Szeneprominenz – unter
ihnen Fler und Kollegah, Haftbefehl und
Olexesh – kokettiert mit Zweifeln am Wis-
senskanon des »Mainstreams«. Fler etwa
hält die Kugelgestalt der Erde keineswegs
für ausgemacht; Kollegah munkelt über
eine Weltverschwörung von Illuminaten
und anderen dunklen Mächten; Olexesh
kann sogar der Saga von den Reptiloiden
etwas abgewinnen.
Das Spiel mit der großen Konspiration
erlaubt es, die pseudokritische Pose des
Durchblickers einzunehmen, der an den
Grundfesten des falschen Einverständnis-
ses rüttelt. Beziehungsweise, wie Fler es
mal in einem Videointerview ausdrückte:
»Wir werden nur verarscht.«
Wie sich Verschwörungsgläubige die
Welt erklären, hat der amerikanische
Politik wissenschaftler Michael Barkun in
drei Sätzen zusammengefasst: Nichts ge-
schieht durch Zufall. Nichts ist, wie es
scheint. Alles ist miteinander verbunden.
Das klingt wie ein Trailer für die nächste
Mysteryserie bei Netflix. Aber die raunen-
de Esoterik enthält, zu Ende gedacht, das
Programm einer menschenfeindlichen Ra-
dikalisierung.
Mit dem Zufall fängt es an. In Wahrheit
besteht natürlich das halbe Leben aus Zu-
fällen, im Kleinen, erst recht im Großen.
Nicht so bei den Konspirationisten: In al-
lem, was geschieht, sehen sie konsequent
jemandes pure Absicht verwirklicht. Sie
stellen sich die Welt wie eine Maschine
vor, in der Zahnräder, Pleuelstangen und
Kurbelwellen eisern ineinandergreifen.
Und wenn ihnen im Leben ein Ungemach
begegnet, glauben sie irgendwo am ande-
ren Ende der Maschine einen Verschwörer
zu erspähen, der gerade mit diabolischem
Grinsen einen Schalter umgelegt hat.

Darin ist unschwer das spiegelverkehrte
Zerrbild der Religion zu erkennen. Hier
lenkt nicht der Allmächtige die Welt nach
seinem Heilsplan. Hier steckt hinter allem
eine teuflische Verschwörerbande.
Die Hassreligion des Verschwörungs-
glaubens hat naturgemäß keine Erlösung
zu bieten. Dafür dürfen die Anhänger sich
schon hienieden Erleichterung verschaffen:
indem sie die vermeintlich Schuldigen mal-
trätieren.
Wer das ist, stehe von Anfang an fest,
erklärt der Verschwörungsforscher Butter.
Für die Gläubigen verstehe sich von selbst,
wer da jeweils an den Strippen ziehe –
immer diejenigen, die vom gefühlten
Schaden angeblich den Nutzen haben:
wahlweise die Flüchtlinge, die Juden
oder – wenn es um Krankheiten geht –
»Big Pharma«, weil mit Gesunden schließ-
lich kein Geld zu machen ist.
Das Bereitstellen von Schuldigen ist der
Wesenskern der Verschwörungstheorie.
Die Mehrheit fantasiert sich in eine Opfer-
rolle hinein – dann kann sie einer angeb-
lich übermächtigen Minderheit den eige-
nen Verdruss anlasten.
Die mehr oder minder ausgetüftelte
Theorie kommt im Grunde nur nachträg-
lich hinzu, sie kleidet das fertige Ressen -
timent in eine halbwegs stimmige Opfer-
erzählung: Wie können die Schurken so
etwas deichseln? Wer arbeitet ihnen zu?
Wo finden sich Indizien, die so eine famose
Geschichte stützen?
Viele Theoretiker wollen dafür umfang-
reiche Ermittlungen angestellt haben.
Aber mit echter Recherche hat das selten
viel zu tun. Dass es auch ohne geht, er-
möglicht der zweite Hauptsatz der Kon-
spiration: Nichts ist, wie es scheint. Rup-
piger formuliert: Fakten sind egal.
Anders wäre beispielsweise nicht zu
erklären, wie die Illuminaten ihren Ruf als
ewige Verschwörer behalten konnten. Die-
ser Geheimorden idealistischer Aufklärer,
gegründet 1776 im bayerischen Ingolstadt,
wurde keine zehn Jahre später schon wie-
der verboten. Die Illuminaten lösten sich
auf, seitdem gibt es sie nicht mehr. Knapp
zweieinhalb Jahrhunderte ist das jetzt her.
Und trotzdem zetteln diese Leute noch
ständig Komplotte an?
Für Verschwörungsgläubige ist das kei-
ne Frage. Fallen nicht immer wieder Pro-
minente auf, wie sie mit den Händen eine
Pyramide (die Sängerin Beyoncé!) oder
eine Raute (Angela Merkel!) formen – jene
Zeichen also, mit denen Illuminaten sich
ihren Mitverschwörern bekanntlich zu er-
kennen geben? Und dass es sonst keine
Spuren ihrer Umtriebe gibt, besagt aus
Sicht der Paranoia gar nichts, im Gegenteil:
Wie mächtig müssen diese Finsterlinge erst
sein, wenn sie alles vertuschen können!
Mit einem Wort: Dass Beweise fehlen,
ist der Beweis.

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Wissenschaft

68 %
der Menschen, die
an Verschwörungs-
theorien glauben,
werten
asylsuchende
Menschen ab.
Quelle: Mitte-Studie,
Friedrich-Ebert-Stiftung,
Befragung von September 2018
bis Februar 2019
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