DER SPIEGEL Nr. 37 / 7. 9. 2019 105
wieder auf die antisemitische Idee vom
»Weltjudentum« zurückgegriffen. Manche
Theorien verstecken diese Idee in Signal-
wörtern wie dem »Weltfinanzkartell«, in
den Bildern von »Kraken«, die ihre Ten-
takel um den Erdball wickeln, oder einfach
im Familiennamen der »Rothschilds«.
Ende Juni erst konnte die Kabarettistin
Lisa Fitz in der WDR-Talkshow »Kölner
Treff« unwidersprochen behaupten, »der
Rothschild-Bank« gehörten bereits »die
Zentralbanken von 130 Ländern«.
Selbst bei den sogenannten Chemtrails
haben antisemitische Deutungen um sich
gegriffen. Die angeblich giftigen Kondens-
streifen der Flugzeuge erinnern nicht von
ungefähr an die spätmittelalterliche Schre-
ckensmär von den Brunnenvergiftern.
Der Religionswissenschaftler Michael
Blume vergleicht die Geschichte des Anti-
semitismus mit einem dunklen Strom, der
sich über die Jahrtausende einen Cañon
gegraben hat. »Wo immer neue Verschwö-
rungsmythen aufquellen«, schreibt Blume,
»werden sie nahezu unweigerlich abwärts
strömen und sich schließlich mit dem anti-
semitischen Grundstrom vereinigen.«
Das Weltbild der Rechtsextremen war
immer schon um diesen Grundstrom he-
rum konstruiert. Wenn sie von Verschwö-
rung sprechen, ist die jüdische stets mitge-
meint. Sie brauchen den größtmöglichen
Phantomgegner, denn ihr politisches Ge-
schäft besteht fast ausschließlich im An -
fachen von Hysterie.
Den meisten Verschwörungstheoreti-
kern gehe es um den »Aufbau von Span-
nung, Angst und Abhängigkeit«, schreibt
der Hamburger Historiker Volker Weiß.
»Permanentes Triggern soll die Gesell-
schaft neurotisch machen, damit sie will-
fährig die autoritären Erlösungsangebote
annimmt.«
Die Wahngebilde haben sich dabei als
so wirksam erwiesen, dass mittlerweile die
gesamte rechtsextreme Szene unter ihrem
Dach zusammengerückt ist. Die unter-
schiedlichen Milieus, sonst notorisch ver-
einzelt, oft auch zerstritten, finden hier
ihre ideologische Mitte.
»Sie werden durch gemeinsame Kam -
pagnenthemen zusammengehalten«, sagt
der Antisemitismusforscher Salzborn. »Vor
einer Weile ging es gegen die Globalisie-
rung, aber inzwischen läuft da eine regel-
rechte Verschwörungskampagne.«
Ihr Kern ist die Apokalypse vom »gro-
ßen Austausch«. Diese gelte es mit allen
Mitteln abzuwehren – notfalls sogar durch
Bürgerkrieg. Manfred Dworschak
Video
Der goldene
Aluhut
spiegel.de/sp372019verschwoerung
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