in den Wahlkampf ziehen. Nichts liege
Johnson ferner, beteuerten seine Sprecher.
Niemand glaubte ihnen.
Und so ließen die Abgeordneten den
zusehends aggressiv und fahrig auftreten-
den Premierminister am Mittwoch erneut
auflaufen. Im Hauruckverfahren peitsch-
ten sie das No-Deal-Verhinderungs-Gesetz
durch. Erst wenn es von der Königin un-
terschrieben und damit wasserdicht ist,
wollen die Oppositionsparteien Johnsons
Wunsch nach Neuwahlen entsprechen.
Manche in den Oppositionsreihen warn-
ten zum Ende der Woche allerdings davor,
Wahlen anzuberaumen, bevor auch die
EU einer weiteren Verlängerung der Bre-
xit-Frist zugestimmt hat. Deren Votum
muss einstimmig sein – und nicht wenige
argwöhnen, Johnson könne EU-Skeptiker
wie etwa den Ungarn Viktor Orbán um-
garnen, damit dieser Nein sagt. Damit
wäre das Vereinigte Königreich am 31. Ok-
tober raus, und es gäbe nichts mehr, was
das Parlament dagegen tun könnte.
Boris Johnson, der mit überschäumen-
dem Selbstbewusstsein ausgestattete Zo-
cker, hat sein Blatt damit bereits wenige
Wochen nach seinem Amtsantritt ausge-
reizt, so scheint es. Er könnte nun wirklich
noch ernsthaft versuchen, bis Mitte Okto-
ber ein neues Abkommen mit der EU aus-
zuhandeln. Aber wie das sein neuer Chef-
unterhändler David Frost schaffen soll,
weiß niemand. Zudem führt Johnson nach
dem Überlaufen von Philip Lee und dem
Massenrauswurf von Parteifreunden seit
dieser Woche nur noch eine Minderheits-
regierung. Und Labour-Granden haben be-
reits angekündigt, ihn ab sofort »in seinem
eigenen Saft schmoren zu lassen«, so Par-
teichef Jeremy Corbyn.
Womöglich hat er das sogar eingepreist
in sein Glücksspiel. Kommt es zu Neuwah-
len noch im Oktober, wird er mit allen,
auch schmutzigen, Mitteln versuchen, sie
zu gewinnen, um das verhasste No-No-
Deal-Gesetz mit neuer Mehrheit wieder
abzuschaffen. Johnson hat das Ende des
strikten zehnjährigen Sparkurses verspro-
chen, 20 000 neue Polizisten und Milliar-
dengeschenke für das ganze Land. Bereits
am Donnerstagabend absolvierte er in
West Yorkshire, vor einer lebenden Wand
aus Polizeirekruten, seinen ersten Wahl-
kampfauftritt. Dabei wiederholte er sein
Versprechen, niemals klein beizugeben:
Er wolle »lieber tot im Straßengraben lie-
gen«, als in Brüssel um eine Verlängerung
der Brexit-Frist nachzusuchen.
In den Umfragen liegt seine Partei zwar
vorn. Nur: Um nicht etliche Wahlkreise
an die Brexit-Partei des Politverführers Ni-
gel Farage zu verlieren, müsste er seinem
Volk klar und unwiderruflich einen No-
Deal-Brexit versprechen. Das sei sein Preis
für einen »Nichtangriffspakt«, hat Farage
bereits wissen lassen. Ein endgültiger har-
16 DER SPIEGEL Nr. 37 / 7. 9. 2019
Soubry musste sich in der britischen
Öffentlichkeit schon einiges anhören:
»Meuterin« nannte man sie, »Ver räterin«.
Dabei tut die frühere Tory-Politikerin vor
allem eines: Sie kämpft gegen den Brexit.
Als sie bei den Konservativen damit nicht
mehr weiterkam, verließ die Unterhaus -
abgeordnete im Februar die Partei. Mitt-
lerweile führt sie die Change-UK-Partei
an, deren Ziel ein zweites Referendum ist.
Das macht sie im Brexit-Streit zu einem
wichtigen Faktor.
SPIEGEL:Frau Soubry, die Regierung
gibt offenbar ihren Widerstand gegen das
Gesetz auf, das einen No-Deal-Brexit
verbietet. Trauen Sie Premierminister
Boris Johnson?
Soubry:Nein. Boris
Johnson hat eine lange
Geschichte der Verlo-
genheit. Er ist nie-
mand, dem man trau-
en kann. Wir reden
über einen Mann, der
kurz vor dem Referen-
dum zwei Papiere
geschrieben hat, eines
für den Verbleib in der
EU und eines für den
Brexit. Ihm geht es
allein um seinen per-
sönlichen Vorteil.
SPIEGEL:Also wäre es
denkbar, dass Johnson
nach Neuwahlen das
Gesetz einfach wieder
kippt?
Soubry:So ist es. Des-
halb ist es so wichtig,
dass es keine Neuwah-
len gibt, bevor wir den
Aufschub des Brexit-Termins sicherge-
stellt haben. Ginge es nach mir, würden
wir sowieso eher auf ein zweites Referen-
dum setzen.
SPIEGEL:Dafür gibt es im Parlament
aber keine Mehrheit.
Soubry:Das wissen wir noch nicht. Im
Moment ist es unsere oberste Priorität,
dafür zu sorgen, dass das Land nicht
ohne Abkommen aus der EU fliegt.
Dabei machen wir gute Fortschritte.
SPIEGEL:Sollte es zu Neuwahlen kom-
men, müssten die Oppositionsparteien
und Tory-Rebellen dann kooperieren?
Soubry:Ich hoffe sehr, dass Abgeordnete
mit gemeinsamen Werten sich in kriti-
schen Wahlkreisen nicht gegenseitig die
Stimmen wegnehmen.
SPIEGEL:Sie haben die Tories Anfang
des Jahres verlassen. Erkennen Sie Ihre
alte Partei noch wieder?
Soubry:Nein, überhaupt nicht. Die Säu-
berungsaktion gegen moderate Tories ist
etwas, worüber selbst Josef Stalin über-
rascht gewesen wäre. Es ist schrecklich.
Die Konservativen haben sich in eine
abscheuliche Partei verwandelt, die nicht
mehr ist als eine rechte Rumpftruppe.
SPIEGEL: Einige Ihrer Kollegen sind zu
den Liberaldemokraten gewechselt. Wäre
das eine Option für Sie?
Soubry:Nein. Ich habe viel mit den Libe-
raldemokraten gemein. Aber wenn ich
den Eindruck hätte, dass dies eine Partei
ist, die die notwendige
Veränderung in un sere
Politik bringt, egal
ob Brexit oder nicht,
dann wäre ich schon
im Februar beigetre-
ten.
SPIEGEL:21 Rebellen
wurden aus der Tory-
Fraktion ausgeschlos-
sen. Hoffen Sie, dass
sie sich jetzt Ihnen
und Change UK
anschließen?
Soubry:Es geht nicht
nur darum, einer Par-
tei beizutreten. Es
geht darum, dass ehr -
liche und anständige
Menschen gewählt
werden. Ich werde
nicht zögern, Men-
schen wie Dominic
Grieve zu unterstüt-
zen, deren Ausscheiden aus dem Par -
lament ein schrecklicher Verlust für un -
ser Land wäre.
SPIEGEL:Ist Labour-Chef Jeremy Cor-
byn der Richtige, um die Opposition
zu einen und Johnson aus dem Amt zu
drängen?
Soubry:Sicher nicht. Er ist ein Links -
außen-Sozialist. Er wäre als Premier
schlecht für die Wirtschaft und für die
Sicherheit unseres Landes.
SPIEGEL:Was haben Sie persönlich vor,
wenn es Neuwahlen gibt?
Soubry:Ich werde wieder antreten.
Denn das ist das einzig Richtige, das ich
tun kann. Interview: Kevin Hagen
DemokratieDie britische Abgeordnete Anna Soubry, 62, über ihren
Bruch mit den Tories und den Versuch, den Brexit zu stoppen
»Eine abscheuliche Partei«
AFP / GETTY IMAGES
Parlamentarierin Soubry