Der Spiegel - 07.09.2019

(Ron) #1
Party. Deren Führung kann es nach John-
sons spalterischem Auftreten kaum noch
abwarten, die Schotten ins nächste Unab-
hängigkeitsreferendum zu führen.
Das Rumoren in Johnsons Partei ist
nicht mehr zu überhören. Mehr als 100
Tory-Abgeordnete haben den Rauswurf
der alten Fahrensleute in einem Schreiben
als »prinzipiell falsch« verurteilt und John-
son gefragt, ob er in seiner Partei noch
»die volle Bandbreite konservativer An-

sichten duldet«. Moderate Kräfte fürchten
das Schlimmste, die Risse gehen durchs
gesamte Königreich.
In London dagegen sitzen inzwischen
Menschen an den Schaltstellen der Tory-
Partei, denen praktisch kein Preis für den
Brexit zu hoch ist. In atemberaubendem
Tempo rückt das, was von den Konservati-
ven geblieben ist, an den rechten und popu -
listischen Rand. Die Anti-EU-Brigade der
Partei, vor wenigen Monaten noch Minder-
heit, ist jetzt Mainstream. Kenneth Clarke,
der als bester Premierminister gilt, den
Großbritannien nie hatte, hat es auf den
Punkt gebracht: Die Tories seien eine »um -

etikettierte Brexit-Partei« geworden.
Und an ihrer Spitze nun Johnson,
ein Mann, der mit dem Versprechen
angetreten war, sein Land und seine
Partei zu »vereinen«.
Ein paar Wochen ist das erst her.
Einer derer, auf die Johnson fürs
Erste nicht mehr zählen kann, sitzt
am Donnerstagmorgen dieser Wo-
che einen Steinwurf entfernt vom
Unterhaus beim Frühstück. »Mir
hat bis heute niemand mitgeteilt,
dass ich raus bin«, sagt Dominic
Grieve. Aber sein Onlinezugang
zum konservativen Netzwerk ist
seit Mittwoch gesperrt, er geht da-
von aus, dass er von Johnsons Leu-
ten nicht mehr als Tory-Mitglied
betrachtet wird.
Grieve, der mal Generalstaatsan-
walt war und seit 22 Jahren im Un-
terhaus sitzt, ist der unwahrschein-
lichste Rebell, den man sich denken
kann. Gewappnet mit britischem
Understatement, hat er in den ver-
gangenen drei Jahren immer wie-
der höflich darauf hingewiesen,
dass das beste Abkommen, das sein
Land mit der EU habe, die derzeiti-
ge Mitgliedschaft sei. Dafür ist er
nun, zusammen mit 20 Abgeordne-
tenkollegen, geschasst worden.
Seine Partei, sagt Grieve, sei »in einer
sehr üblen Phase«, dominiert von Ideolo-
gen und einem Chef, »der an nichts glaubt
außer an sich selbst«. Er habe darüber
nachgedacht aufzugeben, andererseits wi-
derstrebe es ihm, »mitten in der schwers-
ten politischen Krise der britischen Ge-
schichte einfach zu gehen«.
Es sei daher gut möglich, dass er bei be-
vorstehenden Wahlen als »unabhängiger
Konservativer« antreten werde. Tory ge-
gen Tory, ein bis vor Kurzem noch undenk-
bares Szenario. Aber, sagt Grieve, »die an-
deren Rebellen und ich haben nichts mehr
zu verlieren«.
Wie dieser ganze Wahnsinn enden
wird, kann auch er nicht vorhersagen.
Sicher sei, dass die Neuwahlen die Ver -
hältnisse in Westminister »ziemlich radi-
kal durchschütteln werden«. Aber ob
die Brexit-Blockade danach irgendwie
gelöst werden kann? Das weiß er auch
nicht.
Grieve muss wieder los, um den Wider-
stand zu orchestrieren. Wie er sich fühle?
Da hält er kurz inne. Dann sagt er: »Müde.«
Jörg Schindler
Mail: [email protected]

ter Bruch mit der EU sei Johnsons
Chance, als Held in die britische
Geschichte einzugehen – »es wäre
uns ein Vergnügen, ihn zum Hel-
den zu machen«.
Finden die Wahlen dagegen im
November oder noch später statt,
hätte Johnson das Versprechen, für
das er sogar mit seinem Leben ge-
bürgt hat, gebrochen. Farage und
die große Masse der Wutbriten wä-
ren außer sich und würden die To-
ries als »Verräter« des Vaterlandes
durch die Arena führen.
Johnson hat sich für diesen Fall
bereits gewappnet. Ein ums andere
Mal hat er die Opposition und die
eigenen EU-freundlichen Tories
mit kriegerischer Rhetorik als »Kol-
laborateure«, ihr Vorgehen als »Ka-
pitulation« gebrandmarkt. Die EU
hat er wiederholt der Sturheit ge-
ziehen. Das sind die Feinde, gegen
die er im Wahlkampf sein Volk in
Stellung zu bringen gedenkt. Die
Briten und ich gegen den Rest, das
wird seine zentrale Wahlkampf -
strategie sein.
Es gibt überraschend viele Men-
schen im Land, die seine Berserker-
Politik überaus schätzen. Nach Um-
fragen wünscht sich ein großer Teil
der Menschen einen »starken Anführer«,
der bereit ist, herkömmliche Regeln zu bre-
chen.
Johnson wird, da kann man sicher sein,
die Wut schüren wie kaum einer seiner
Vorgänger. Und dabei Anleihen bei seinem
neuen Freund in Washington nehmen, von
dem er bereits als »Britain Trump« geadelt
wurde.
Die große Frage wird allerdings sein,
mit wem Boris Johnson die kommende
Schlacht eigentlich zu gewinnen gedenkt,
um nicht als der am kürzesten amtierende
Premierminister aller Zeiten in die briti-
sche Geschichte einzugehen. Schon vor
der Nacht der langen Messer am Dienstag
waren der großen alten »Conservative and
Unionist Party« reihenweise prominente
Leute abhandengekommen.
Eine Gruppe von Abgeordneten um
die ehemalige Industrie-Staatssekretärin
Anna Soubry (siehe Interview links) hat
vor Monaten mit ehemaligen Labour-Leu-
ten eine eigene Fraktion im Parlament ge-
gründet. Sogar Johnsons eigener Bruder
Jo ist am Donnerstag als Staatssekretär zu-
rückgetreten, weil er den Konflikt zwi-
schen »Familienloyalität und dem natio-
nalen Interesse« nicht mehr aushielt. Und
hoch im Norden hat mit Ruth Davidson
gerade die schottische Tory-Chefin und
eine der größten Hoffnungsträgerinnen
der Moderaten den Dienst quittiert. Sie
galt als Eine-Frau-Bollwerk gegen die wie-
der stärker werdende Scottish National


17

Titel

Video
Wie es jetzt weitergeht

spiegel.de/sp372019brexit
oder in der App DER SPIEGEL

IMAGO IMAGES

»Die Briten und ich
gegen den Rest,
das wird Johnsons Wahl-
kampfstrategie sein.«

Tory-Rebell Grieve: »Nichts mehr zu verlieren«
Free download pdf