tei-Volk, will längst mehr, und diesmal soll
und wird es mehr bekommen.«
Sechs Jahre später haben sich Kubit-
scheks Worte weitgehend bestätigt. Die
Eurokritik, das »feine Thema«, ist in der
AfD zum Nebenschauplatz geworden. Auf
den ostdeutschen Marktplätzen geht es
längst um Identität und Nationalismus, ein
autoritäres Staatsverständnis und ein aus-
grenzendes Menschenbild. Der »Flügel«
beherrscht die Agenda.
Es war ebenfalls Kubitschek, der seinem
langjährigen Freund, dem Geschichtslehrer
Björn Höcke, vorschlug, ein Manifest mit
seinen Thesen und Positionen über die AfD
zu veröffentlichen, das jeder Sympathisant
unterzeichnen kann. Die »Erfurter Resolu-
tion«, vorgestellt im Frühjahr 2015, war die
Geburtsstunde des »Flügels«. In kürzester
Zeit gewann Höcke Tausende Unterzeichner.
Mag der »Flügel« bis heute nur ein loser
Verbund sein, ohne Vereinsstruktur oder
Landesverbände, Höcke weiß dank der Er-
klärung genau, wo seine Freunde in der
Partei sitzen – und auf wen er nicht zählen
kann. Während Höcke das Gesicht des
»Flügels« ist und die Reden mit besonders
viel Tremolo und Pathos hält, ist Kalbitz
der Macher. Er hat seine Vertrauten über
das Land verstreut, die ihm melden, wenn
irgendwo etwas los ist, er telefoniert und
schickt SMS. Er sorgt dafür, dass viele »Flü-
gelianer« zu Parteitagen und den Veran-
staltungen fahren, auf denen Delegierte
bestimmt werden. Auch konkrete Abspra-
chen, wer auf welchen Platz kommt, soll
es geben, berichten Parteikollegen. Wer
den »Flügel« verärgert, rutscht nach hin-
ten oder wird gar nicht aufgestellt.
So scheitert in der Regel jeder, der sich
mit der amorphen Masse »Flügel« anzule-
gen versucht. Viele verlassen lieber die
Partei, als ihre Zeit mit Grabenkämpfen
zu verbringen. Oder sie fügen sich. Das
sind die »versöhnlichen Professionellen«,
wie Kubitschek sie nennt.
Noch im Juli hatte der AfD-Vizechef
und Berliner Landesvorsitzende Georg
Pazderski seinen Namen unter eine Liste
von 100 Mitgliedern gesetzt, die vor einer
Höcke-Partei warnten. In der Wahlnacht
dann erschien er bei der AfD-Party im
brandenburgischen Werder, wo sich Höcke
und Kalbitz in die Arme fielen. Pazderski
macht das, was viele Kritiker des »Flügels«
in diesen Tagen tun: Sie halten sich zurück
und versuchen, die Zugewinne im Osten
für die ganze AfD zu beanspruchen. »Der
Erfolg stärkt die gesamte Partei«, sagt Paz-
derski. »Unser Programm wurde vom
Wähler bestätigt. Dahinter steht die ge-
samte Partei in allen Ländern.«
Es gibt auch Ausbrecher aus der Front
der Loyalen, Helmut Seifen ist so einer.
Der AfD-Landtagsabgeordnete in Nord-
rhein-Westfalen, Jahrgang 1953, trat schon
zu Bernd Luckes Zeiten in die AfD ein. Er
kämpft beharrlich gegen die Rechtsaus -
leger in seinem Landesverband. »Man
braucht eine gewisse Zähigkeit im politi-
schen Geschäft. So leicht gebe ich nicht
auf«, sagt er.
Im Sommer sprengten Seifen und seine
Getreuen sogar den Landesvorstand.
Demnächst wird dieser neu gewählt, und
danach werde, davon ist der frühere Gym-
nasiallehrer überzeugt, das rechte Lager
in der Landesspitze marginalisiert sein.
»Ich hoffe, dass auch die gemäßigten ›Flü-
gel‹-Leute bei uns begreifen: Wenn Leute
aus unserer Partei sich immer mal wieder
im Symbolraum der dunkelsten deutschen
Zeit bewegen, müssen wir uns nicht wun-
dern, als Wiedergänger der Nazis angegrif-
fen und diffamiert zu werden.«
Doch Rebellen wie Seifen sind die Aus-
nahme. In Brandenburg und Sachsen zu-
mindest traf die Kandidatenschar des
»Flügels« offenbar auf genügend Sympa-
thisanten an den Urnen. War den Wählern
gewärtig, für wen sie da stimmten?
Weit im Süden Brandenburgs liegt eine
der Hochburgen der AfD. Am Ortseingang
steht ein Schild: »Willkommen in Heiners-
brück«. 50,5 Prozent der Wähler des Dor-
fes haben der Partei bei der Landtagswahl
ihre Stimme gegeben, zu ihnen zählt An-
drea Lange. Die 50-Jährige arbeitet in der
Altenpflege und sagt, sie habe nicht schon
immer die AfD gewählt, aber seit einigen
Jahren sei etwas ins Rutschen geraten.
»Die Flüchtlinge, wie die sich benehmen.
Das geht einfach nicht.« Hier sei zwar
noch nie etwas geschehen – aber es sei dra-
matisch, was sie aus Cottbus und Berlin
höre.
Und Lange ärgere noch etwas, erklärt
sie: Seit Jahrzehnten werde dem Dorf ein
neuer Radweg versprochen. »Doch der
kommt einfach nicht!« Sie würde gern mit
dem Fahrrad zur Arbeit fahren. Die AfD
wählt sie also, weil die neue Radwege bau-
en wird? Nein, erklärt Lange, sie wähle
die Partei, »damit die da oben mal darüber
nachdenken, was sie verkehrt machen«.
Es gab in den letzten Wochen viele Er-
klärungen dafür, warum die AfD im Osten
so viel stärker ist als im Westen. Die Macht
des Protestes, Brüche in den Biografien,
ungleiche Arbeitsverhältnisse, die Abwan-
derung mit all ihren Folgen, weniger Su-
permärkte, Kitas, Ärzte, das Gefühl, ab-
gehängt zu sein, das noch stärkere Gefühl,
vom Westen als rückständig betrachtet zu
werden, als Modernisierungsverlierer.
Selbst 30 Jahre nach dem Mauerfall ent-
laden sich nun diese Emotionen der Wut
und des Zorns. In diesem generellen Miss-
trauen sei die AfD die einzige Partei, die
noch Werten anhänge, »die auf dem poli-
24 DER SPIEGEL Nr. 37 / 7. 9. 2019
MARKUS SCHREIBER / AP
AfD-Chef Gauland (3. v. l.): Gütesiegel der bürgerlichen Volkspartei angeheftet
Höcke »wirkt wie ein
Größenwahnsinniger,
der ein Zerstörungswerk
verrichtet«.