Liebmann, 52, treibt ein Thema um: wie
Menschen mit ihrer Zeit umgehen. 15 Jahre
lang habe er nachgedacht, sagt er, anschlie-
ßend in sechs Wochen ein Buch darüber ge-
schrieben*. Liebmann ist Vorsitzender des
»Vereins zur Verzögerung der Zeit« und leitet
eine Agentur für Markenberatung bei Lübeck.
SPIEGEL:Herr Liebmann, entschuldigen
Sie die Verspätung. Meine Anreise hat sich
um zwei Stunden verzögert.
Liebmann:Dafür müssen Sie sich nicht
entschuldigen.
SPIEGEL: Was haben Sie in der Zeit ge-
macht?
Liebmann:Ich habe im Café gesessen. Mit
Bekannten gesprochen. Menschen beob-
achtet, die vorbeigingen. Jeden Morgen
sitze ich mit meiner Frau da und starte ru-
hig in den Tag. Das ist eine angenehme
Art des Faulseins. Es hat schon etwas Kon-
templatives. Wir sitzen da und unterhalten
uns vier, fünf Stunden. Der Tag verfliegt.
Das ist eine Faulheit, die ich genieße.
SPIEGEL: Was bedeutet das für Sie eigent-
lich: faul zu sein?
Liebmann:Der Inbegriff der Faulheit ist
für mich, einfach nur irgendwo zu sitzen
und zu schauen. Das kann am Meer sein,
in den Bergen oder unter dem Sternenhim-
mel. Besonders gerne sitze ich im Straßen-
café. Da lasse ich das Leben an mir vor-
beiziehen. Nur wenn ich im Stress bin, was
leider oft vorkommt, kann ich das nicht
aushalten. Für viele Menschen ist das Wort
Faulheit hingegen negativ besetzt. Das
kommt sicherlich aus der protestantischen
Arbeitsethik. Wie oft hören wir: Ohne
Schweiß kein Preis. Nur wenn man sich
anstrengt, bekommt man Anerkennung.
Und wer nichts leistet, ist nichts wert. Ich
kann damit wenig anfangen. Für mich ist
es eher etwas Positives. Ich setze es fast
schon gleich mit Muße.
SPIEGEL: Sie leiten eine Markenberatung
mit 13 Mitarbeitern, sind Lehrbeauftragter
an der Universität Kassel und haben jetzt
ein Buch geschrieben. Wollen Sie mir sa-
gen, dass Sie das alles erreicht haben, in-
dem Sie faul waren?
Liebmann:Sicherlich nicht. Ich sage auch
nicht, dass wir die ganze Zeit nur dasitzen
sollen wie ein Eremit, der mit der Welt
nichts mehr zu tun hat. Das ist nicht mein
* Martin Liebmann: »Faul zu sein ist harte Arbeit«.
Komplett Media; 234 Seiten; 18 Euro. Erscheint am
- September.
Bild von der Entwicklung einer Gesell-
schaft, wie ich sie mir vorstelle. Wir brau-
chen beides, schnelle Phasen, aber auch
langsame. Doch die fallen uns schwer.
SPIEGEL: Was hat Sie zur Erkenntnis ge-
bracht, es langsamer angehen zu lassen?
Liebmann:Mein eigenes Fehlverhalten.
Ich habe früher sehr viel gearbeitet. Über
viele Jahre hatte ich eine 90-Stunden-
Woche, habe keinen Urlaub gemacht.
SPIEGEL: Oha.
Liebmann:Ich hatte damals gerade mein
Unternehmen gegründet, hatte schon eine
Familie. Da war die Angst, sie nicht ver-
sorgen zu können. Einer meiner ersten gro-
ßen Kunden war eine Krankenkasse. Dort
fing einer meiner Ansprechpartner mor-
gens um 6 Uhr an zu arbeiten. Andere hin-
gegen arbeiteten bis 22 Uhr. Ich wollte im-
mer für alle erreichbar sein, um sie nicht
zu verlieren. Das war völliger Irrsinn.
SPIEGEL: Wie sah damals Ihr Familien -
leben aus?
Liebmann:Die Kinder haben schon gelit-
ten. Noch heute höre ich häufig, ich sei frü-
her ja fast nie da gewesen. Was ich immer
versucht habe: ihnen abends eine Geschich-
te zu erzählen. Jedem meiner drei Kinder
eine eigene. Dabei war es am Anfang an-
ders: Als unser erstes Kind zur Welt kam,
arbeitete meine damalige Frau schon. Ich
studierte noch. Also kümmerte ich mich im
ersten Jahr um unsere Tochter. Dieses Jahr
war für mich ein Glück. Damals habe ich
gemerkt, dass ein gutes Leben viel mit Zeit
zu tun hat. Zeit, um für andere da zu sein.
Zeit für sich selbst zu haben. Ich brauchte
jedoch lange, um wieder dahinzugelangen.
SPIEGEL: Was hat Ihnen dabei geholfen?
Liebmann:Meine Rettung war der Verein
zur Verzögerung der Zeit. Auf den bin ich
im Jahr 2003 zufällig gestoßen. So skurril
der Name auch klingt, unser Thema ist
doch ernst. Dort lernte ich Aussteiger
kennen und Wissenschaftler, Künstler und
Geschäftsleute. Sie alle treibt die Frage
um, wie wir unser Leben entschleunigen
können.
SPIEGEL: Warum sollten wir das tun?
Liebmann: Unser Leben wird immer
schneller, beziehungsweise: komprimier-
ter. Schon im Kindergarten sollen Kinder
Sprachen lernen. Sie sollen schnell und gut
durch die Schule kommen. Danach fix stu-
dieren, um einen guten Job zu bekommen.
Unser Leben gleicht einem Wettbewerb.
Dabei arbeiten wir heute so wenig wie
noch nie, die Wochenarbeitszeit ist deut-
lich geringer als noch vor einigen Jahr -
zehnten. Und trotzdem fühlen sich viele
gestresst. Gerade die Freizeit ist für einige
eine Belastung.
SPIEGEL: Wie meinen Sie das?
Liebmann:Es gibt viele Daten, die das
zeigen. Wir schlafen im Schnitt immer kür-
zer: zwei Stunden weniger als noch im
- Jahrhundert und 30 Minuten weniger
als in den Siebzigerjahren. Andere Studien
zeigen, dass Passanten immer schneller
durch die Städte gehen. Wir gucken zudem
im Schnitt 88-mal am Tag auf unser
Smartphone. Wir lassen uns ständig berie-
seln. Hören Radio, gucken Fernsehen,
lesen Nachrichten.
SPIEGEL: Einen Nachmittag faul vor dem
Fernseher zu sitzen kann doch herrlich
sein.
Liebmann:Das ist etwas anderes, als faul
zu sein, das ist Konsum. Ein Geschäftsfüh-
rer eines Radiosenders antwortete mal auf
die Frage, was die Aufgabe seines Senders
sei: »Die Zeit zerstreuen.« Das war ernst
gemeint. Ich glaube, die Ablenkung ent-
fremdet uns von uns selbst und von der
Welt.
SPIEGEL: Sie haben mit Ihrem Verein ein-
mal den Internationalen Tag des Foto -
fastens ausgerufen.
Liebmann:Das war auf der Fraueninsel
im Chiemsee. Wir baten alle Touristen,
pro Kamera nur ein Foto beim Ausflug zu
machen. Einige haben mitgemacht. Und
sich am Ende bei uns bedankt. Sie sagten,
sie hätten einen viel entspannteren Tag er-
lebt, da sie nicht die ganze Zeit fotografiert
haben. Denn was bringt es mir, wenn ich
54 DER SPIEGEL Nr. 37 / 7. 9. 2019
Deutschland
»Die Faulheit genießen«
LebenFrüher habe er zu viel gearbeitet, sagt der Werbeagenturchef und Buchautor Martin Liebmann.
Heute empfiehlt er, häufiger einfach gar nichts zu tun. Aber wie schafft man das?
PAOLO MARCHETTI / DER SPIEGEL
»Wir arbeiten heute so
wenig wie noch nie.
Und trotzdem fühlen sich
viele gestresst.«