E
s war ein kühler Abend, der 9. Mai.
Noch herrschte Ruhe im Land.
Fünf Wochen noch, dann sollte die
Elektrokleinstfahrzeuge-Verord-
nung in Kraft treten, die den Gebrauch
von E-Scootern legalisiert.
Bundesverkehrsminister Andreas Scheu -
er (CSU) saß in der Bibliothek seiner Be-
hörde. Zwei Journalisten waren bei ihm
und Guido Zielke, Leiter der Abteilung
Straßenverkehr. Er ist zuständig, »sobald
irgendein Bürger den Asphalt vor seinem
Haus betritt«, wie er sagt. Und damit auch
für E-Roller.
Was der Beamte dem Minister kurz vor
19 Uhr mitzuteilen hatte, ließ Scheuer aus
dem Sessel fahren.
»Wenn Sie wollen, dann können Sie
mit Ihrem Elektroroller losfahren«, sagte
Zielke.
»Auf der Straße?«, fragte Scheuer un-
gläubig.
»Ja, aber nur auf der Straße, nicht auf
dem Fahrradweg«, erwiderte Zielke.
»Wie? Und das sagen Sie mir erst jetzt?«,
rief Scheuer. »Wo ich doch schon seit Ta-
gen auf diese Information warte!«
Der Minister strahlte wie ein Kind kurz
vor der Bescherung. »Da kann ich ja jetzt
gleich losfahren, zum Treffen der bayeri-
schen Landesgruppe!«
»Ja, aber haben Sie einen Helm?«
»Na klar, den habe ich immer bei mir.«
Was sich eine knappe Dreiviertelstunde
später auf der Invalidenstraße vor dem Mi-
nisterium ereignete, dürfte die erste legale
Fahrt mit einem E-Scooter auf einer deut-
schen Straße gewesen sein. Am Lenker:
der Bundesverkehrsminister. Seine Beam-
ten hatten ihm grünes Licht gegeben. Mög-
lich geworden war das durch eine Sonder-
regelung, mit dem die Elektroroller auf
der Straße getestet werden sollten.
Und so preschte kurz nach 20 Uhr der
Minister mit seinem Scooter vom Typ
Metz Moover auf die Linksabbiegespur
vor dem Amtsgebäude, gefilmt von sei-
nem Pressesprecher. Er bog in die Luisen-
straße ein und fuhr an der Charité vorbei
bis zum Bundestag. Der Spot ist auf Ins-
tagram zu bewundern. Es war der wohl
glücklichste Moment in Scheuers vom
Maut-Desaster überschatteter Dienstzeit.
Seit Juni sind die E-Scooter nun für alle
da. Sie gehören zum Sommer 2019, so wie
Wespen oder Mücken, und sind ähnlich
lästig. Die Scooter fahren über Gehsteige,
wo sie nichts verloren haben, und auf Rad-
wegen, wo sie den Betrieb aufhalten. Als
wäre das nicht genug, sollen sie bald auch
auf Busspuren zugelassen sein. Werden sie
nicht mehr benötigt, lassen ihre Fahrer sie
fallen wie ein Hund seinen Haufen, warum
auch nicht, sie sind ja nur gemietet.
Weltweit sieht die Bilanz der E-Scooter
so aus: Todesopfer in den USA, Großbri-
tannien, Spanien, Frankreich, Schweden.
In Deutschland: Brüche des Oberschen-
kelschafts, des Sprunggelenks und des
Schienbeinplateaus bis hin zu Schädel-
Hirn-Traumata.
Die E-Scooter sollten den deutschen Stra-
ßenverkehr entlasten, mit seinen 47 Millio-
nen Pkw. Stattdessen kamen Zehntausende
neue Probleme hinzu – so viele E-Scooter
schwirren inzwischen durchs Land.
Deutschland und die E-Scooter. Das ist,
als werfe sich in ein voll besetztes
Schwimmbecken eine Horde Pubertieren-
der hinein, die nicht im Ansatz daran den-
ken, auf andere Rücksicht zu nehmen.
Und der Bademeister? Lässt sie nicht nur
gewähren, sondern feuert sie noch an. In
diesem Fall heißt er Andreas Scheuer.
Die Elektroroller sind ein Herzens -
projekt des Ministers. Bereits kurz nach sei -
nem Amtsantritt im März 2018 hatte er sei-
ne Leute gedrängt, die Dinger endlich zu
erlauben. Als sie ihm eine erste Verord-
nung vorlegten, wischte er die vom Tisch:
zu viele Auflagen. Die Fahrer hätten ihr
zufolge Helme tragen, einen Führerschein
machen und über 16 Jahre alt sein sollen.
Mit seinen Plänen war das nicht vereinbar.
Scheuer wollte mit dem E-Scooter be-
weisen, wie modern er ist. Er linste auf die
jungen, urbanen Schichten. Zudem ent-
sprachen die Geräte dem kindlichen Na-
turell, das immer wieder in dem Minister
aufflackert. In den Tagen nach der Jung-
fernfahrt dokumentierte sein Sprecher auf
Instagram emsig fast jeden Ausflug des Mi-
nisters. Das Regierungsviertel gab die Büh-
ne ab für Scheuers Inszenierung, im Rest
des Landes brach sich der Irrsinn Bahn.
Ein Reisender aus Dubai landete mit sei-
nem E-Scooter bei Köln auf der A 57, weil
sein Navi ihn dort hingelotst hatte. In Berlin
stürzte ein E-Scooter-Fahrer mit 2,23 Pro-
mille auf den Bordstein, zog sich eine
Platzwunde zu, wehrte sich gegen die her-
beigeeilten Sanitäter und demolierte im Ret-
tungswagen vor Wut einen Kühlschrank.
726 alkoholisierte Rollernutzer wurden
allein in München von der Streife ertappt.
In den Städten wurde hektisch nachjus-
tiert. Im Juli drohte der Parkchef des Eng-
lischen Gartens in München E-Scooter-
Fahrern mit bis zu 60 Euro Strafe für den
Fall, dass sie wiederholt bei ihm aufkreuz-
ten. Im August erließ Dresden um den his-
torischen Altmarkt ein Parkverbot für
E-Scooter, Berlin verhängte ein Parkver-
bot rund ums Brandenburger Tor, und Hid-
densee verbannte sie ganz von der Insel.
Seit zwei Wochen gibt es neue Regeln.
Die Verleiher sollen künftig dafür sorgen,
dass die Roller geordnet geparkt werden.
Nutzer sollen über die App dazu aufgefor-
dert werden und mit Fotobeweis Vollzug
melden. Wild abgestellte Geräte sind vom
Verleiher einzusammeln. Bislang kümmer-
ten sich die Firmen nur um ihre Scooter,
wenn die Strom brauchten. Oder Hilfe.
Es ist Mitternacht, acht Arbeiter stehen
vor einer Hamburger Lagerhalle um einen
Grill und schneiden Bratwürste. Essens-
pause. Die Männer kommen aus Deutsch-
land und Kasachstan, Südostasien und
Afrika, doch hier sind sie eine Mannschaft
mit einer Mission: E-Roller einsammeln,
reparieren, aufladen, wieder auf die Straße
stellen. Sie arbeiten für Lime, der US-Ver-
leiher hat die rund 2000 Quadratmeter
große Halle angemietet. Darin stehen
Werkbänke und aufgeschraubte Roller.
Offiziell vertraut Lime auf sogenannte
Juicer. Privatpersonen, die einen Roller
über Nacht in ihrem Wohnzimmer an die
Steckdose anschließen. Der Job ist prekär
und miserabel entlohnt. Von den fünf
Euro, die Lime bestenfalls bezahlt, gehen
noch Steuern ab, obendrauf kommen
Strom- und Benzinkosten. Deswegen hält
sich die Zahl der Juicer in Grenzen.
Ab 22 Uhr, wenn sich für die paar Euro
kein Privatier mehr von der Couch erhebt,
schwärmen die Männer von der Werkstatt
aus und befüllen geliehene Kleintranspor-
ter. Rekord pro Auto: 81 Scooter. Gesta-
pelt, gereiht, übereinandergeworfen. Und
immer wieder kaputt.
Chris, der Chef der Truppe, der seinen
Nachnamen für sich behalten möchte, zeigt
typische Schäden, die an den Scootern ent-
stehen. Abgerissene Klingeln, geklaute Ak-
kus, zerstörte Reflektoren. Rund 40 Fahr-
zeuge stehen am hinteren Rand der Halle,
sie mussten ausrangiert werden, weil Ersatz-
teile fehlen. Wie fast alle Roller werden auch
die von Lime in China gebaut, der Nach -
schub benötigt dementsprechend lange.
Noch einmal so viele Roller, berichten
die Männer, seien verschwunden. Wurden
sie geklaut? Eingebunkert? Versenkt? Ein
DER SPIEGEL Nr. 37 / 7. 9. 2019 61
JENS GYARMATY / VISUM
Verkehrsminister Scheuer
»Auf der Straße?«