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men lassen wollen«, weiß der Sozialpsychologe Harald
Welzer.
Das gilt auch für die Mär, 80 Prozent der Ostdeutschen
seien in den frühen Neunzigerjahren zumindest vorüber -
gehend arbeitslos geworden und von einer Umschulung
zur anderen geschickt worden. Amtliche Statistiken und
Erhebungen renommierter Wissenschaftler an ostdeut-
schen Instituten weisen nach, dass ein Viertel bis ein
knappes Drittel aller DDR-Werktätigen ununterbrochen
am selben Arbeitsplatz geblieben ist.
Selbst für Arbeitnehmer, deren Betriebe abgewickelt
wurden, habe »eine größere Erwerbsstabilität« ge-
herrscht, »als man in der Öffentlichkeit oft glaubt«, sagt
der Soziologe Raj Kollmorgen. 60 Prozent der 1990 in
der DDR Beschäftigten seien »fünf Jahre später immer
noch in ihren Berufen tätig« gewesen,
»die sie vorher ausgeübt hatten«. Für
die Mehrheit habe es trotz Eigentümer-
wechsel oder Versetzung an einen an-
deren Arbeitsplatz »keine ganz schar-
fen Brüche und keine totale Umwäl-
zung« gegeben.
Arbeitslos, für kurze Zeit oder auf
Dauer, wurde höchstens ein Drittel der
im Sommer 1990 beschäftigten DDR-
Arbeitnehmer. Die Treuhand selbst
bilanzierte Ende 1994, dass von den ursprünglich 3,5 Mil-
lionen Werktätigen, die im Juli 1990 in den ihr unter -
stellten Betrieben beschäftigt waren, 17 Prozent arbeitslos
geworden seien, das sind in absoluten Zahlen 595 000.
42 Prozent seien in den privatisierten Betrieben weiter -
beschäftigt worden, 14 Prozent in Arbeitsförderungs- und
Qualifizierungsmaßnahmen gewechselt, 5 Prozent in Rente
oder Vorruhestand gegangen, 8 Prozent hätten selbst ge-
kündigt, bei 11 Prozent sei der Verbleib unbekannt. Rund
eine halbe Million Menschen sind allein im ersten Halb-
jahr 1990 aus den Unternehmen ausgeschieden – mithin
vor der Gründung der Treuhandanstalt.
D
ennoch zählen sich Millionen Ostdeutsche unbe-
rechtigterweise zu Opfern der Treuhand. Dieses
ständige Opfernarrativ könne für die soziale Ord-
nung und demokratische Verhältnisse gefährlich
werden, warnt Experte Kollmorgen, der 1963 in Leipzig
geboren wurde. Man müsse »aufpassen, dass die Ausein -
andersetzung mit der Treuhand dieses Opfernarrativ nicht
stärkt«. Deshalb müsse man immer wieder klar machen,
welche Rolle ostdeutsche Akteure in der Konzipierung,
Durchsetzung und in der langfristigen Wirkung der Treu-
hand gespielt hätten. Denn die sei ganz erheblich gewesen:
»Zu sagen, die Ostdeutschen hätten nie Chancen erhalten,
in diesen Privatisierungs- und Reprivatisierungsprozessen
tätig zu werden, das ist, mit Verlaub, schlicht Humbug.«
Schon die Idee einer Treuhandanstalt hat zumindest
ostdeutsche Wurzeln, wenngleich dahinter ein anderes
Konzept stand. Eine Gruppe aus der Bürgerrechtsbewe-
gung »Demokratie Jetzt!« legte am 12. Februar 1990 am
Zentralen Runden Tisch einen Antrag vor, eine »Treu-
handgesellschaft« zu gründen, die an alle DDR-Bürger
Anteilsscheine am »Volkseigentum« der DDR ausgeben
sollte. Die Initiatoren glaubten, das sogenannte Volks -
eigentum habe »insgesamt einen Wert von etwa 100 000
DM pro Kopf«, von dem ein Viertel an jeden Ostdeut-
schen ausgeschüttet werden sollte. Sie übersahen oder
leugneten, wie marode die durch die SED-Planwirtschaft
heruntergekommenen Betriebe waren. Die spätere Treu-
handanstalt musste allein 104 Milliarden Mark für Alt-
schulden der Betriebe und mehr als 40 Milliarden Mark
für die Umweltsanierung aufwenden, damit die Unter -
nehmen überhaupt Käufer fanden – oft für eine symboli-
sche Mark, damit die neuen Eigentümer Hunderte Mil -
lionen investierten. Dadurch fiel die Bilanz der Privatisie-
rung durch die Treuhand so verheerend aus, mit einem
Minus von knapp 260 Milliarden Mark. Die Anteilsscheine
wären Schrottaktien gewesen. »Wäre die Bevölkerung
durch Anteilsscheine Eigentümer dieser Betriebe gewor-
den, hätte sie auch die Schulden am Hals gehabt«, sagt
Richard Schröder.
DDR-Verklärer leugnen oft den katastrophalen Zustand
der volkseigenen Betriebe und behaupten, manches liqui-
dierte Unternehmen hätte überleben können. Detlef Scheu -
nert, vormals persönlicher Referent des DDR-Ministers
für Maschinenbau, dann einziger ostdeutscher Treuhand-
Direktor, ist ein unverdächtiger Zeuge dafür, dass es zur Pri-
vatisierung, wie die Treuhand sie betrieb, keine wirkliche
Alternative gab, wie er dem Deutschlandfunk berichtete.
»Jeder hat gewusst, dass fast alles Schrott ist. Ich bin 1989/90
mit meinem Minister in den Betrieben immer rumgefahren.
Es standen die Arbeiter da und haben gesagt: ›Guck dir das
doch mal an.‹ Alles war zusammengefallen, Umwelt -
verschmutzung, es war Dritte Welt, was sich dort abspielte.«
Von den 12 162 Betrieben, die zwischenzeitlich durch
Teilungen der Treuhand-Unternehmen entstanden waren,
wurden letztlich 3718 stillgelegt, rund 30 Prozent.
Kritiker verweisen stets darauf, dass 80 Prozent des
von der Treuhand verwalteten Produktivvermögens an
Westdeutsche und 14 Prozent an Ausländer gefallen seien,
ehemalige DDR-Bürger aber nur 6 Prozent bekommen
hätten. Um große Unternehmen zu erwerben, fehlte Ost-
deutschen das Kapital. Aber beim Verkauf von rund
3000 kleineren und mittelgroßen Betrieben an leitende
Mitarbeiter kamen fast durchweg Ostdeutsche zum Zug.
Und bei der »kleinen Privatisierung« von 22 340 Geschäf-
ten, Gaststätten und Hotels, 1734 Apotheken, 475 Buch-
handlungen und 481 Kinos sind fast ausschließlich Einhei-
mische Eigentümer geworden.
Gewiss wurden Fehler gemacht, falsche Entscheidun-
gen getroffen und kriminelle Handlungen begangen. Be-
trügerische Investoren haben die von ihnen gekauften Fir-
men geplündert und staatliche Subventionen erschlichen,
korrupte Treuhand-Mitarbeiter halfen ihnen dabei. Aber
solche Handlungen waren nicht das Massenphänomen,
als das sie gern dargestellt werden.
Wenn die geforderte Aufarbeitung der Treuhand und
ihres Wirkens einen Sinn haben soll, darf die Diskussion
nicht in den jahrzehntelang verfestigten Vorurteilen
stecken bleiben und den alten Reflex »Ja, wie wahr!« aus-
lösen. Die Öffnung der Akten ist eine Chance, differen-
ziert und sachlich zu argumentieren, ohne Übertreibun-
gen und Pauschalisierungen. Und die ostdeutschen
Treuhand-Kritiker müssen neue Einsichten zulassen, auch
wenn sie ihnen unbequem sind.
DER SPIEGEL Nr. 37 / 7. 9. 2019
Norbert F. Pötzl, 71, war von
1972 bis 2013 Redakteur des
SPIEGEL. Der Essay basiert
auf seinem am 10. September
erscheinenden Buch »Der Treuhand-
Komplex«. Kursbuch Edition;
256 Seiten; 22 Euro.
DDR-Verklärer
leugnen oft den
katastrophalen
Zustand der volks -
eigenen Betriebe.