Der Spiegel - 07.09.2019

(Ron) #1
Netzwelt

»Ganz neue Qualität von


Stammtischparolen«


Die Würzburger Sozio -
login Elke Wagner, 44,
über Shitstorms im
Internet und die Krise
der Kommunikation
in Zeiten von Facebook
& Co.

SPIEGEL:Steinigungen gibt es hierzulan-
de nicht. Digitale Steinigungen aber
gehören in den sozialen Netzwerken zum
Alltag. Warum ist das so?
Wagner:Der Ton im Netz hat sich in den
vergangenen Jahren radikal verschärft,
vor allem im Zuge der sogenannten
Flüchtlingskrise. Eine hoch emotionale
Form des Schlagabtauschs
findet dort statt, die sich
gegenüber früheren For-
men des Meinungsaus-
tauschs stark geändert hat.
SPIEGEL:Inwiefern?
Wagner:Im Netz üben Per-
sonen oftmals nicht mehr
das Geben und Nehmen
der klassischen Argumenta-
tion ein. Hier prallen ein-
fach Betroffene mit ihren
jeweiligen Wahrnehmun-
gen und Meinungen aufei-
nander. Der eine sagt etwas,
der andere sagt das Gegen-
teil. Die Vermittlung zwi-
schen beiden Positionen ist
schwierig bis unmöglich.

Wie ich in meinem Buch ausführe, werden
bei den aktuellen Netzdebatten die Wahr-
nehmungsfragen zunehmend wichtiger als
die Informationsfragen. Die Öffentlichkeit
im Internet nimmt eine neue Gestalt an.
SPIEGEL:Ihren Ärger haben sich Frustrier-
te doch auch schon vor 2000 Jahren
auf den Hauswänden von Pompeji von
der Seele geschrieben.
Wagner:Natürlich. Die Wut ist alt. Neu
ist, dass jetzt ein Speicher- und Verstärker-
medium dazwischengeschaltet ist. Und
das verleiht den Stammtischparolen eine
ganz neue Qualität. Auf einmal sind
dieselben Sätze auf gleicher Augenhöhe
unterwegs mit Argumentationen, die
mühsam erarbeitet worden sind.
SPIEGEL:Waren Journalisten früher bes-
ser in der Lage zu informieren?
Wagner:Ohne Zweifel. In der alten Bun-
desrepublik waren Journalisten noch die

»Gatekeeper«, die ganze Debatten gestal-
ten konnten. Als kritischer Leser hatte
man da aber wenig Möglichkeiten, in die
Debatten einzugreifen. Das hat sich jetzt
in weiten Teilen zumindest im Netz geän-
dert – nicht immer zum Besseren: Es
kommt jeden Tag vor, dass Journalisten
mühsam Artikel recherchieren, und dann
kommt ein Leser und schreibt üble
Beschimpfungen darunter.
SPIEGEL:Ist das ein bleibendes Kommu -
nikationsproblem?
Wagner:Ich denke schon. Früher konnte
sich der Sprecher, dem zugehört wurde,
auch der Journalist, durch Sachkenntnis
Autorität aufbauen. Jetzt wird das Fach-
wissen zunehmend zum Gegenstand der
Kritik. Es ist teilweise nicht mehr von Vor-
teil, wenn man das bessere Wissen hat.
SPIEGEL:Muss man so einen Quatsch
überhaupt ernst nehmen?
Wagner:Diese Netzdebatten
werden von den Teilnehmern
ernst genommen, und das soll-
te eine politisch liberale Öf -
fentlichkeit auch tun. Es gibt
Opfer von Shitstorms, hier
werden schließlich Leute diffa-
miert. Leider ist es so, dass
alle Versuche, Regeln im Netz
durchzusetzen, nicht so gut
funktionieren. Oft weiß man
nicht einmal, ob man es mit
einem Menschen oder einem
Bot zu tun hat, also einem
Computerprogramm. ME

Elke Wagner: »Intimisierte Öffentlich-
keiten. Pöbeleien, Shitstorms und
Emotionen auf Facebook«. transcript;
200 Seiten; 29,99 Euro.

DER SPIEGEL Nr. 37 / 7. 9. 2019 97

Die englische Sprache ist manchmal ehrlicher als die deutsche.
Drogen und Medikamente, beides heißt dort »drugs«. Es spielt
eben keine Rolle, ob eine Substanz verboten, frei verkäuflich
oder auf Rezept erhältlich ist; entscheidend ist, dass sie auf die
physiologischen Vorgänge im Körper einwirkt.
Im Deutschen werden viele wertvolle Mittel mit dem Stigma
»Droge« belegt, was den Blick der Gesellschaft dafür trübt, dass sie
bei bestimmten Leiden eine wirksame Therapie darstellen können.
Je nach Anwendungskontext und Dosierung sind viele Drogen in
Wahrheit potenzielle Medikamente – und andersherum. Mit dem
Wirkstoff Psilocybin, einem Hauptbestandteil halluzinogener
»magic mushrooms«, haben Mediziner in klinischen Studien schon
erfolgreich Patienten behandelt, die unter Depressionen, Angst -
störungen und posttraumatischen Belastungsstörungen litten. Auch
MDMA, bekannt als die Partydroge Ecstasy, wird in Verbindung
mit herkömmlicher Psychotherapie bereits versuchsweise einge-


setzt, um schwere seelische Verletzungen zu behandeln. Ketamin
ist ein Narkosemittel, das aber auch auf Sexpartys und in Dance-
Clubs eine Rolle spielt. Eine Überdosis kann tödlich sein. Aber eine
Variante dieser Substanz ist vor sechs Monaten von der US-Arznei-
mittelbehörde FDA zugelassen worden – als hochwirksames Anti-
depressivum, das bereits viele Selbstmorde verhindert hat.
CBD, oder Cannabidiol, ist ein nicht berauschender Bestand -
teil von Cannabis und laut FDA eine hochgradig wirksame Arznei
bei bestimmten Epilepsien im Kindesalter. CBD hilft offenbar
ebenfalls vielen Schmerzpatienten und Leuten, die an Schlaflosig-
keit leiden. Auch in Deutschland sind getrocknete Cannabisblüten
als Medizin seit 2017 legal und werden unter anderem erfolgreich
verschrieben gegen Übelkeit in der Chemotherapie oder Spasti-
ken bei Multipler Sklerose. Keine Macht den Drogen also? So ein-
fach ist es nicht. Zwischen Missbrauch und vernünftiger Nutzung
muss genau unterschieden werden. Marco Evers

Kommentar

Ecstasy für die Seele


Manche Drogen sollten nicht zu sehr verteufelt werden – mitunter können sie Kranken helfen.

JUSTIN SULLIVAN / AFP
Facebook-Chef Mark Zuckerberg
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