Der Spiegel - 07.09.2019

(Ron) #1

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Wissenschaft

M


anchmal geht es durchaus
noch lustig zu bei den Freun-
den der Paranoia, fast wie in
alten Zeiten. Warum zum Bei-
spiel geriet Angela Merkel zuletzt auf
Empfängen so verdächtig ins Zittern? Und
gleich zweimal gerade dann, als die Natio-
nalhymne gespielt wurde?
Ein kleines Video auf dem YouTube-
Kanal »NWOFakten« löst das Rätsel: Da
hatten die Echsenwesen aus dem All of-
fenbar ein Problem mit der Steuerung der
Kanzlerin.
Merkel ist, wie Eingeweihte längst wis-
sen, von einem dieser außerirdischen
Reptilien besessen; in seinem Bann, heißt
es, mache sie Politik gegen die Menschheit.
Kein Wunder also, dass der Merkeldämon
bei der Nationalhymne immer so zappelig
wird – er kann deren patrio -
tische »Frequenz« nicht aus -
stehen.
Solche Verschwörungslogik
nimmt sich heute fast possier-
lich aus; über das kosmische
Komplott der Reptiloiden gibt
es dicke Bücher zu lesen. Es ist
der Musterfall vergleichsweise
harmloser Spökenkiekerei, die
lange niemand ernst nahm.
Nun aber sieht es aus, als
würden Verschwörungsgläu-
bige anfangen, die Welt nach ihren
Ideen zu verändern – notfalls mit Gewalt.
Am 3. August, einem Samstag, schritt
der zweite Massenmörder in diesem Jahr
zur Tat, der sich auf Widerstand gegen ei-
nen vermeintlich finsteren Plan berief. Ein
schwer bewaffneter Mann betrat einen
Walmart im texanischen El Paso, vier Kilo -
meter vor der Grenze zu Mexiko. Dann
nahm er sein halbautomatisches Gewehr
und erschoss binnen weniger Minuten
22 Menschen.
Kurz vor der Tat war im Netz ein Mani-
fest erschienen, das der Täter wohl selbst
verfasst hat. Von einer »hispanischen In-
vasion« in Texas ist darin die Rede, die
Weißen im Lande sollen angeblich »er-
setzt« werden.
Das klingt wie ein Echo auf den Terror-
anschlag in Christchurch vom 15. März.
Ein Australier hatte in der neuseeländi-
schen Großstadt zwei Moscheen überfal-


len und 51 Menschen getötet. Von ihm
fand sich im Internet ein Manifest, es trägt
den Titel »Der große Austausch«.
Das ist ein Schlagwort, das die extreme
Rechte auch in Deutschland elektrisiert. Es
geht da um ein ganz großes Komplott. Eine
globale »Finanzoligarchie«, so heißt es,
wolle die angestammte Bevölkerung erset-
zen. Muslime und Andersfarbige aller Art
träten dann an ihre Stelle. Dafür würden
planmäßig Flüchtlinge nach Europa ge-
schleust – als lebende »Migra tionswaffe«.
Selbst von Auslöschung und Genozid
ist mitunter die Rede. Ist es wirklich über-
raschend, wenn Mörder sich von derart
apokalyptischem Gerede zum »Wider-
stand« mit der Waffe beauftragt fühlten?
Wochen vor dem Anschlag in El Paso
hatte das FBI noch intern vor ebendie ser
Verkettung gewarnt: Verschwö-
rungstheorien könnten Gewalt-
täter in Gang setzen.
Im Wahngebilde eines Kom-
plotts finden die An hänger
immer ein starkes Motiv zur
Tat – selbst wenn an seiner
Spitze womöglich außerir-
disch gelenkte Reptilien ste-
hen. Sollte Angela Merkel tat-
sächlich einen »Gebur ten-
Dschihad« betreiben, spielt
es keine Rolle, wer sie angeb-
lich steuert. Jede Spinnerei kann den
Gläubigen das Gefühl höchster Dringlich-
keit ein flößen.
Die Furcht vor einem »Bevölkerungs-
austausch« ist offenbar bereits weit ver-
breitet. 20 Prozent der Deutschen glauben,
es gebe da einen geheimen Plan. 35 Pro-
zent sind der Ansicht, die Regierung ver-
heimliche zumindest die wahre Zahl der
Einwanderer, die im Land leben. Das fan-
den voriges Jahr die Meinungsforscher der
britischen Firma YouGov heraus.
Zu einem ähnlichen Befund kam die
»Mitte-Studie« der Friedrich-Ebert-Stif-
tung. Demnach glauben 46 Prozent der
Befragten, geheime Organisationen hätten
großen Einfluss auf politische Entscheidun-
gen. Ein knappes Drittel hält Politiker für
Marionetten anderer Mächte.
Die eingebildete Verschwörung gedeiht
am besten im Panikmodus, sie malt gern
das Schlimmstmögliche aus: Flugzeuge

Weltmacht Paranoia


SozialforschungFrüher die Passion von Sonderlingen, gewinnen Verschwörungstheorien durch
das Internet immer mehr Zulauf. Keine harmlose Spinnerei: Mit dem Märchen vom

»Bevölkerungsaustausch« rechtfertigen rechte Wirrköpfe jede Gegenwehr – bis zum Bürgerkrieg.


DER SPIEGEL Nr. 37 / 7. 9. 2019

verteilen im Auftrag der Regierung giftige
Chemikalien in der Luft – erkennbar an
langlebigen Kondensstreifen (»Chem-
trails«)! Oder: »Big Pharma« zerrüttet
aus Profitgier die Volksgesundheit, ge-
deckt von höchsten Kreisen! Oder auch:
Der geheime Illuminatenorden bereitet
den dritten Weltkrieg vor, um die gesamte
Menschheit in die Sklaverei zu führen!
Solche Szenarien bieten möglichen
Tätern auch moralische Deckung: Eine Tat,
begangen aus den schäbigsten Motiven,
lässt sich mit ihrer Hilfe zum Akt des
Widerstands zurechtlügen.
In ruhigen Zeiten ist das nur eine Option.
Ob sie genutzt wird, liegt am Ende an der
politischen Lage, an der Stimmung im
Land, an den Aussichten, Anhänger zu
mobilisieren. Und nun, da die Zeiten un-
ruhig sind, die Menschen oft verunsichert,
scheint etwas in Bewegung zu geraten,
auch außerhalb der rechts extremen Kern-
milieus.
Die Grenzen zwischen harmloser
Schrulligkeit und Menschenhass ver-
schwimmen. Oft ist es schon schwer zu
sagen, wo die Geistesverwirrung aufhört
und die Gewaltbereitschaft anfängt. Bei
vielen »Reichsbürgern« zum Beispiel
mischt sich wunderliche Esoterik mit anti-
semitischer Bosheit und dem Streben nach
Waffenbesitz.
Die Reichsbürger erkennen den deut-
schen Staat nicht an, sie halten ihn für
das Konstrukt einer Nachkriegsverschwö-
rung. Deshalb rufen sie gern eigene
Hoheits gebiete aus, wo immer die Polizei
gerade nicht hinguckt. Gelegentlich ver-
fassen die sonderbaren Separatisten sogar
hochtrabende Schriftstücke an ausländi-
sche Botschaften und ersuchen um völ-
kerrechtliche Anerkennung. Wie neulich
herauskam, betrieben zwei Anhänger in
Dresden ein »Verkehrsamt«, das eigene
Nummernschilder und Kfz-Papiere he-
rausgab.
Manche dieser Eiferer haben Umgang
mit Engeln, andere fürchten, von der
Schulmedizin schleichend vergiftet zu wer-
den. Einer ihrer bekanntesten Vertreter ist
der umtriebige Autor Jo Conrad; auf dem
Videoportal Bewusst.tv plaudert er oft mit
Gesinnungsgenossen. Dieser »Talkmaster
der Reichsbürger« (»taz«) ist auch vom

50 %
der Befragten
geben an, den
eigenen Gefühlen
mehr zu vertrauen
als Experten.
Quelle: Mitte-Studie,
Friedrich-Ebert-Stiftung,
Befragung von September 2018
bis Februar 2019
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