Süddeutsche Zeitung - 07.09.2019 - 08.09.2019

(Rick Simeone) #1
Die Krankschreibung liegt vor, doch die
Arbeit muss trotzdem weitergehen. Was
Vorgesetzte in diesem Fall von ihren Mit-
arbeitern verlangen dürfen und wie sie
sich am besten verhalten, weiß Manfred
Schmid, Fachanwalt für Arbeitsrecht bei
der internationalen Wirtschaftskanzlei
Pinsent Masons in München.

SZ: Es soll ja vorkommen, dass Chefs
sich telefonisch bei ihren krankge-
schriebenen Mitarbeitern melden, um
noch etwas Dienstliches zu klären oder
um mal zu gucken, ob jemand wirklich
krank ist. Dürfen Arbeitgeber das?
Manfred Schmid: Das ist eine Ermessens-
entscheidung. Der Arbeitgeber braucht
ein überwiegendes Interesse an einem
solchen Anruf. Das kann zum Beispiel der
Fall sein, wenn er dringend eine Informati-
on für einen Kunden benötigt, der ein
Angebot erwartet. Soweit ein solches Inter-
esse ersichtlich ist, muss der Arbeitneh-
mer das Telefonat auch bei Krankheit füh-
ren. Was nicht geht: Dass der Anruf nur er-
folgt, um den Arbeitnehmer unter Druck
zu setzen.
Muss der kranke Mitarbeiter denn über-
haupt ans Telefon gehen?
Grundsätzlich muss der Arbeitnehmer
bei Krankheit gar nicht telefonisch er-
reichbar sein, er kann sich tot stellen. Er
muss auch keine Fragen zu seiner Krank-
heit beantworten. Wenn der Arbeitgeber
die Frage „Wie geht es?“ aber ernst meint,
ist es eine nette Geste.
Kann der Chef verlangen, dass man
trotz Krankmeldung Aufgaben erle-
digt, etwa wichtige Mails weiterleitet?
Ganz klare Ansage: Krank ist krank. Das
heißt, ich muss gar nichts machen, was
mit dem Geschäft zu tun hat. Eine Arbeits-
unfähigkeitsbescheinigung ist absolut,
ich bin eben ganz krank oder gar nicht.
Der Arbeitgeber muss Vorsorge treffen,
um das Geschäft trotzdem am Laufen zu
halten.
Muss ein kranker Mitarbeiter beispiels-
weise zu einem Personalgespräch im Be-
trieb erscheinen?

Personalgespräche sind für gesunde Mit-
arbeiter verpflichtend, soweit es nicht um
die Beendigung des Arbeitsverhältnisses
geht. Das gilt aber nicht bei Krankheit.
Auch hier gilt: Das Bundesarbeitsgericht
differenziert nicht zwischen ein bisschen
krank und ganz krank. Der Arbeitnehmer
ist eben krank und muss nicht erschei-
nen. Sein Fernbleiben darf auch nicht
sanktioniert werden. Gibt es ein überwie-
gendes Interesse des Arbeitgebers, eine
bestimmte Frage zu klären, ist er auf das
Telefonat verwiesen.

Gesetzt den Fall, dass ich krank bin und
wichtige Mails eintreffen könnten: Darf
der Chef in mein Postfach schauen?
Das ist ein diffiziles Thema, das zu der Fra-
ge führt, ob die Privatnutzung des berufli-
chen E-Mail-Accounts erlaubt oder verbo-
ten ist. Hat der Arbeitgeber sie untersagt,
darf er hineinschauen. Es ist dann nichts
anderes als das Postkörbchen vor 20 Jah-
ren. Private Post sollte da nicht enthalten
sein. Ist die Privatnutzung dagegen gestat-
tet oder geduldet und hat der Mitarbeiter
sein Einverständnis nicht erteilt, darf der
Chef auch nicht reinschauen. Allerdings
kann es die Treuepflicht des Arbeitneh-
mers gegenüber dem Arbeitgeber gebie-
ten, dass der Mitarbeiter in wichtigen Fäl-
len den Zugriff auf sein Postfach erlauben
muss. interview: ina reinsch

von ina reinsch

K


rank ist jeder mal. Aber nicht
jeder, der sich krank meldet,
ist auch arbeitsunfähig. Ob
ein Mensch mit Beschwerden
arbeiten kann, hängt immer
vom Einzelfall ab. Vor allem davon, welche
Tätigkeiten er ausübt. So kann eine Infor-
matikerin mit einem Beinbruch in der Re-
gel arbeiten, eine Flugbegleiterin nicht.
Doch das sind nicht die einzigen Feinhei-
ten rund um die Arbeitsunfähigkeit (AU).
Immer wieder gibt es Ärger, weil Mitarbei-
ter sich zu spät krank melden, kein Attest
vorlegen oder mit ihrer Krankmeldung
bei ihrem Vorgesetzten Misstrauen erre-
gen. Besonders dann, wenn das Arbeitsver-
hältnis ohnehin belastet ist, sollten kran-
ke Arbeitnehmer dem Chef keinen Grund
für eine Abmahnung oder gar Kündigung
liefern. Hier die wichtigsten Fragen:


Ich bin so krank, dass ich es nicht zum
Arzt schaffe. Kann ich mich auch rück-
wirkend krankschreiben lassen?
Ja, das geht. „Allerdings grundsätzlich nur
bis zu drei Tage rückwirkend“, sagt Jana
Hassel, Fachanwältin für Medizinrecht in
Berlin. Früher waren es maximal zwei Ta-
ge. Geregelt ist das ganze in der Arbeitsun-
fähigkeitsrichtlinie. Im Ausnahmefall sei
auch eine längere Rückdatierung möglich.
„Arbeitnehmer müssen aber bei Krank-
heit immer zuerst den Arbeitgeber infor-
mieren“, so Hassel. „Schaffen sie es dann
nicht zum Arzt, sollten sie ihren Hausarzt
anrufen und das Problem schildern. Der
Hausarzt wird dann einen Vermerk in der
Akte machen und weiß Bescheid.“


Wann brauche ich überhaupt ein Attest?
„Eine AU-Bescheinigung ist grundsätzlich
erst erforderlich, wenn die Krankheit län-
ger als drei Kalendertage dauert“, sagt Ste-
fan Müller, Fachanwalt für Arbeitsrecht in
Leipzig. „Der Arbeitgeber kann aber festle-
gen, dass Mitarbeiter bereits ab dem ers-
ten Tag eine Krankschreibung brauchen.“
Ganz praktisch bedeutet das, dass die Be-
scheinigung dann am ersten Tag der
Krankheit dem Chef im Original vorliegen
muss. „Allerdings nur, wenn es möglich
und zumutbar ist“, schränkt Müller ein.
Wer so krank ist, dass er das nicht schafft,
sollte das dokumentieren. Müller: „Einen
Boten muss man hier nicht beauftragen.“


Ich bin psychisch krank. Wenn ich mich
krankschreiben lasse, erfährt mein
Chef davon, weil er den Stempel des
Psychiaters sieht. Was kann ich tun?
Diese Frage sei kaum zufriedenstellend zu
lösen, sagt Sandra Flämig, Fachanwältin
für Arbeitsrecht in Stuttgart. Denn der Ar-
beitnehmer muss die AU-Bescheinigung
im Original vorlegen. „Sie ist eine Urkun-
de und hat vor Gericht einen hohen Beweis-
wert. Wenn der Psychiater den Patienten
krankschreibt, dann ist das die Krankmel-
dung.“ Die Bescheinigung vom Hausarzt
umschreiben zu lassen gestaltet sich in
der Praxis bisweilen als schwierig, da
Hausärzte dies wegen möglicher Haf-
tungsrisiken manchmal ablehnen. „Wer


aber zum Beispiel an einer Depression lei-
det, kann sich auch vom Hausarzt krank-
schreiben lassen“, sagt Flämig. „Der Haus-
arzt kann dann für eine Weiterbehand-
lung beim Psychiater sorgen.“

Kann ich mich für eine schönheitschir-
urgische OP krankschreiben lassen?
„Hier muss man unterscheiden, ob der Ein-
griff eine reine Schönheitsoperation dar-
stellt oder ob dafür eine medizinische Indi-
kation besteht“, sagt Flämig. Körperliche
Besonderheiten können bisweilen psychi-
sches Leid verursachen. „In diesen Fällen
besteht eine medizinische Notwendigkeit
für den Eingriff, eine Krankschreibung ist
gerechtfertigt.“ Bei einer reinen Schön-
heits-OP ohne medizinische Indikation ist
das nicht der Fall, etwa dann, wenn man
sich ein Tattoo entfernen oder Falten auf-
polstern lassen möchte. Flämig: „Hier gibt
es weder für den Eingriff noch für die Re-
konvaleszenz eine AU-Bescheinigung. Der
Mitarbeiter muss Urlaub nehmen.“

Muss ich für eine Darmspiegelung Ur-
laub nehmen?
„Vorsorgeuntersuchungen, die ab einem
bestimmten Alter empfohlen werden,
müssen grundsätzlich außerhalb der Ar-
beitszeit erfolgen. Wird durch die Untersu-
chung aber eine Arbeitsunfähigkeit her-
vorgerufen, dann erhält der Arbeitnehmer
eine AU-Bescheinigung“, erklärt Medizin-
rechtlerin Hassel. Allerdings müssen Pati-
enten auf Termine beim Facharzt oft wo-
chenlang warten, Terminwünsche werden
kaum berücksichtigt. „Wenn der einzige
Termin dann an einem Montag frei ist und
die Untersuchung notwendig ist, sollte der
Patient eine AU-Bescheinigung erhalten“,
fordert Hassel. Von der Rechtsprechung
entschieden ist das allerdings noch nicht.

Wann und wie muss ich den Chef infor-
mieren, dass ich krank bin?
Das Gesetz sagt „unverzüglich“. Wer aller-
dings gerade im Krankenwagen abtrans-
portiert wird oder auf dem OP-Tisch liegt,
kann nicht den Chef anrufen. „Es muss
dem Mitarbeiter schon möglich und zu-
mutbar sein“, sagt Anwalt Müller. Notfalls
muss man auch Verwandte oder Freunde
um Hilfe bitten. „Arbeitnehmer mit nor-
malen Erkrankungen sollten allerdings
nicht erst zum Arzt gehen und dann im
Laufe des Vormittags gemütlich den Chef
anrufen, sondern morgens vor Arbeits-
beginn Bescheid geben.“ Dabei sollte der
Mitarbeiter auch angeben, wie lange er
voraussichtlich krank sein wird. Eine be-

sondere Form schreibt das Gesetz nicht
vor. Müller: „Die Krankmeldung ist per Te-
lefon, Fax oder E-Mail möglich.“

Kann ich mich wegen kranker Kinder
krankschreiben lassen?
„Nein“, warnt Rechtsanwältin Flämig,
„denn man selbst ist ja nicht krank. Wer
das macht, begeht gemeinsam mit dem
Arzt einen Betrug.“ Ist das Kind jünger als
zwölf Jahre, haben gesetzlich versicherte
Eltern Anspruch auf jeweils zehn Kinder-
krankentage pro Jahr. Eltern von zwei klei-
nen Kindern kommen so auf jeweils 20 Ta-
ge. „Bei mehr als zwei Kindern ist der An-
spruch auf 25 Tage pro Jahr begrenzt“, so
Flämig. „Alleinerziehende haben 20 Tage
pro Kind.“ Bei mehr als zwei Kindern liegt
die Obergrenze bei 50 Tagen. Das Kinder-
krankengeld zahlt nicht etwa der Arbeitge-
ber, sondern die Krankenkasse.
Privat versicherte Mitarbeiter und ge-
setzlich Versicherte mit älteren Kindern
haben diesen Anspruch nicht. Doch auch
sie müssen den kranken Nachwuchs nicht
allein zu Hause lassen. 㤠616 BGB erlaubt
es Mitarbeitern, für eine verhältnismäßig
nicht erhebliche Zeit der Arbeit fernzublei-
ben, wenn zum Beispiel ein Kind krank
wird, das gepflegt werden muss.“ Als ange-
messenen Zeitraum würde die Rechtspre-
chung fünf Tage pro Jahr ansehen.

Kann ich mir eine Arbeitsunfähigkeits-
bescheinigung per Whatsapp holen?
Neuerdings gibt es tatsächlich Anbieter,
die eine AU-Bescheinigung per Whatsapp
zuschicken. Dabei stellt ein Arzt den „gel-
ben Schein“ aus, ohne den Patienten per-
sönlich gesehen zu haben, sozusagen per
Ferndiagnose. Der Patient beantwortet da-
zu online einige Fragen. Die Bescheini-
gung erhält er als Pdf-Datei über Whats-
app sowie per Post im Original. Für diesen
Service muss er privat zahlen. Allerdings
stellt das sowohl für den Arzt als auch für
den Patienten eine rechtliche Grauzone
dar. „Die Muster-Berufsordnung für Ärzte
steht dem aus meiner Sicht entgegen“,
sagt Jana Hassel, Fachanwältin für Medi-
zinrecht in Berlin. Zwar wurde vor Kurzem
das Fernbehandlungsverbot gelockert.
„Doch der Arzt muss den Patienten auch
für eine Fernbehandlung grundsätzlich
kennen, was hier nicht der Fall ist.“ Hinzu
komme, dass der Arzt sich nicht selbst
vom Zustand des Patienten überzeugen
könne, die Diagnose stelle letztlich das Pro-
gramm. Hassel: „Das ist aus berufsrechtli-
cher Sicht bedenklich.“
Auch dem Patienten droht Ungemach.
„Sieht der Arbeitgeber genau hin, erkennt
er, dass die Bescheinigung den Stempel ei-
nes Arztes aus einer anderen Stadt trägt“,
sagt Timo Hufnagel, Fachanwalt für Ar-
beitsrecht in Frankfurt am Main. Grund-
sätzlich kommt einer AU ein hoher Beweis-
wert zu. „Der kann aber erschüttert wer-
den“, sagt er. „Das Bundesarbeitsgericht
hat schon 1976 entschieden, dass das der
Fall ist, wenn eine AU-Bescheinigung oh-
ne Untersuchung durch einen Arzt ausge-
stellt wurde.“ Dann steht der Vorwurf im
Raum, dass der Schein erschwindelt wur-
de und der Mitarbeiter blaumacht.

Wer zu Hause bleiben muss, kann den gelben Schein neuerdings auch per Whatsapp anfordern und einreichen. Doch das kann heikel werden. FOTO: IMAGO / WESTEND61


Manfred Schmid
FOTO: PRIVAT

Gesundheit!


Amersten oder am dritten Tag? Am Telefon oder


per Whatsapp? Mit Angabe des Grundes oder ohne?


Viele Beschäftigte sind unsicher,


wie sie sich richtig krankmelden


DEFGH Nr. 207, Samstag/Sonntag, 7./8. September 2019 65


BERUF & KARRIERE


Arbeitnehmer
solltennicht erst im Laufe
des Vormittags gemütlich den
Chef anrufen, sondern
morgens vor Arbeitsbeginn.“

STEFAN MÜLLER, ARBEITSRECHTLER

„Krank ist krank“


Wozu Mitarbeiter an Fehltagen verpflichtet sind


Europas führendes ExpoEvent


rund um die Arbeitswelt


//MORE TOPICS


CORPORATE
HEALTH

SERVICES &
OPERATIONS

FUTURE
OF WORK

DIGITAL LEARNING STARTUP
EXPERIENCE

INFOS //
REGISTRIERUNG

Die Suche nach gut ausgebildeten, motivierten
Mitarbeitern ist für Unternehmen aller Branchen
eine der größten Herausforderungen. So ist es nicht
verwunderlich, dass Personalabteilungen heuzutage
mit immer mehr Hypes konfrontiert werden. Doch
wie sieht das Recruiting der Zukunft wirklich aus?
Ob Anbieter von intelligenter Software, Vertreter
von Jobportalen oder Personalmarketing-Experten


  • die Zukunft Personal Europe bringt Sie mit den
    wichtigsten Keyplayern des gesamten Recruitingpro-
    zesses zusammen! In Zeitendes Fachkräftemangels ist


auch Employer Branding ein echter Wettbewerbsvorteil!
Erleben Sie zahlreiche Best Practices zur Gestaltung
Ihrer Arbeitgebermarke. Wie hat sich das Berufsbild der
Recruiter verändert und wie wird es künftig aussehen?
Wie hilft die Technik, Kandidaten zu fi nden, die andere
nicht fi nden? Welchen Einfl uss hat Künstliche Intelligenz
auf die Personalarbeit und wo sind ethische Grenzen?
Auf den Bühnen des Recruitingbereiches gibt es Impulse
und praktische Lösungen zum Finden und Binden
Ihrer wichtigsten Ressource den Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern!

ATTRACT. INSPIRE. GROW


MEHR DAZU FINDEN SIE AUF
WWW.ZUKUNFT-PERSONAL.COM/EUROPE

ZP EUROPE


KOELNMESSE


17.–19. SEPTEMBER 2019


// RECRUITING


& ATTRACTION


HIGHLIGHT TOPIC


SPONSOR
RECRUITING & ATTRACTION
Free download pdf