Neue Zürcher Zeitung - 07.09.2019

(Ron) #1

Samsta g, 7. September 2019 ZÜRICH UND REGION 17


FDP und SVP versuchen, ein geplantes Entlastungspaket


zugunsten der Gemeinden zu verhin dernSEITE 19


Wegen zweier sadistischer Morde stehen am Montag


ein Ehepaar und sein Komplize vor GerichtSEITE 21


Blockchainerob ert Zürich


Startups der wachsenden Kryptoszene gehen davon aus, dass die neue Technologie die Gesellschaft umkrempelt


DANIEL FRITZSCHE


Das Schaufenster kündet von der gros-
sen Verheissung: «Evolving Blockchain
Enterprises» steht dort in knalliger
blauer Schrift. Im Innern des glasumman-
teltenGeschäftshausesimZürcher See-
feld riecht es nach neuen Möbelstücken.
«Chainwork», so heisst dieser Cowor-
king-Space,der seit April auf 2000 Qua-
dratmetern rund 125 Arbeitsplätze auf
Zeit anbietet.Zielpublikum sindJung-
unternehmerinnen und -unternehmer im
Tech-Bereich. Im Zentrum steht die viel-
gehypte, aber schwer fassbare Technolo-
gie, die dasPotenzial hat, ganze Branchen
umzupflügen: Blockchain.
Die offenen Büros im ersten Stock
sind an diesem Abend nur spärlich be-
setzt. Ein junges Startup-Team packt ge-
rade seineLaptops ein und bricht auf.
Hier treffen wir Alexander Brunner. Er
ist einKenner der noch jungen Schwei-
zer Blockchain-Szene.Vor kurzem hat
der 44-jährige Betriebswirt ein Buch
zumThema veröffentlicht: «Crypto-Na-
tion. Die Schweiz im Blockchain-Fie-
ber». Brunner bereitet dieVernissage
seinesWerks vor. Ende Monat feiert er
sie im «Chainwork» mit einer grossen
«Crypto-Party».
In seinem Buch beschreibt Brunner
anschaulich, wie das «Raumschiff Block-
chain» 2011 in der Schweiz gelandetist
und wie dieReise seither – mit Höhen
undTiefen – weiterging. Dazu hat der
Ex-Banker Interviews mit 90Personen
geführt, unter ihnen Investoren, Profes-
soren,Juristen,Regulatoren und Alt-
bundesratJohann Schneider-Ammann.
Gut erinnert sich derAutor daran,
wie er vor vierJahren zum ersten Mal
von der neuenTechnologie gehört hat.
«Ich war verwirrt und fasziniert zu-
gleich», sagt er. Die Blockchain war für
ihn ein grosses, leuchtendes Etwas, das
aber nicht wirklich greifbar war.


Mehr alsnur Bitcoins


Mittlerweile weiss Brunner, was man
sich daruntervorstellen kann. Basie-
rend auf der Blockchain-Technologie
entstehen weltweit dezentrale Netz-
werke, über die digitaleWährungen
oder Informationen schneller,günstiger
und sicherer transferiert werdenkön-
nen.Das neue Modell stellt ganz vieles
infrage. Zum Beispiel, ob es in Zukunft
die klassischeBank oderVersicherung
noch braucht, wenn ihreRolle alsVer-
mittlerin wegfällt.
Ihren Ursprung hat dieTechnologie
in der «libertären Cypherpunk-Szene»,
wie Brunner sagt. Etwas, das ihn als frei-
sinnigen Zürcher Stadtparlamentarier
auch aus staatsphilosophischerWarte
interessiere. Doch nicht nur dasFinanz-
wesen stellt die Blockchain poten-
ziell auf denKopf.Alexander Brunner
ist heuteTeil der Geschäftsleitung von


Utopia Music. DieFirma will die Abgel-
tung von Urheberrechten in der Musik-
brancherevolutionieren. Zurzeit erledi-
gen diese Arbeit territorial verankerte
Verwertungsgesellschaften wie etwa die
Suisa in der Schweiz. In Zukunftkönnte
dies durch digitale Smart Contracts ge-
regelt werden,voll automatisiert und
grenzüberschreitend.
«Die Möglichkeiten sind gross», sagt
Brunner. Blockchain sei eineRenais-
sance-Technologie, die weitreichende
soziale und wirtschaftliche Folgen
haben werde – wennsie sich denn ein-
mal durchsetze.


Brunners Utopia Music hat ihren Sitz
wie so viele Blockchain-basierteFir-
men im Kanton Zug. Rund 400 von 800
registrierten Unternehmen haben sich
in den letztenJahren im sogenannten
CryptoValley angesiedelt. Dort haben
Startups gute steuerliche Bedingun-
gen und starken politischenRückhalt.
Doch Zürich entwickelt sich. Mit knapp
140 Blockchain-Firmen liegt der Kan-
ton im SchweizerVergleich auf Platz 2,
vor Genf (45), demTessin(43) und der
Waadt (26).Das geht aus einem Bericht
hervor, den CryptoValley Venture Capi-
tal letzteWoche veröffentlicht hat.
Die Bedeutung von Zürich für die
wachsende Branchekönnte in Zukunft
noch zunehmen, glaubt Brunner. Schon
heute sei es so,dass viele Zuger Krypto-
firmen ein Zweitbüro in Zürich betrie-
ben, etwa fürForschung und Entwick-
lung. DieNähe zu den Hochschulen mit
ihrenTalenten sei entscheidend, ebenso
die Kontakte zumFinanzplatz und zu
grossenTech-Firmen wie Google.
Zudem begünstige das entstehende
Ökosystem die Gründung von Start-
ups. Sogenannte Hubs wie das «Chain-
work», die ihrenFokus auf die Block-
chain-Technologie legten, seien dabei
wichtige Puzzleteile. «Es brauchtsolche
Räume», sagt Brunner.

Die Ängste nehmen


Der grösste Blockchain-Hub in Zürich


  • und laut Angaben der Gründer auch
    der grösste weltweit – hat eine vornehme
    Adresse: Bahnhofstrasse 3. Hier im«Trust
    Square», direkt vis-à-vis der National-
    bank, arbeiten über vierzigJungunter-
    nehmen unter einemDach, verteilt auf
    verschiedene Stockwerke. Rund 250 Mit-
    arbeiter beschäftigen sie. Darunter befin-
    den sich etwa B3i, einKonsortium welt-
    weit führenderVersicherungskonzerne,
    oder Modum.io, ein Startup, das den
    Transport vonWaren effizienter gestal-
    ten will.Auch die KryptobankSygnum,
    die vor kurzem von derFinanzmarktauf-
    sichtFinma eineBankenlizenz erhalten
    hat, war hier früher einquartiert.
    Auf der grosszügigenDachterrasse
    des ehemaligenBankgebäudes treffen
    wir den Geschäftsleiter des Hubs, Tho-
    mas Meister.Seit der«Trust Square»
    vor anderthalbJahren eröffnet habe, sei
    viel passiert, sagt er. 130 Events habe


man veranstaltet und 60 internationale
Delegationen begrüssenkönnen, unter
ihnen den amerikanischen Botschafter.
«Das Interesse am Blockchain-Standort
Zürich ist gross», sagt Meister.
Zu Gast waren auchRegierungs-
räte und Bundesrat Ueli Maurer. Sie
alle wollen ein Stück des Glanzes ab-

bekommen, welchen die Zukunftstech-
nologie ausstrahlt. Die ZürcherVolks-
wirtschaftsdirektorin CarmenWalker
Späh (fdp.) sieht Zürich und den«Trust
Square» als Innovationsstandort in der
Schweiz, an dem zu Blockchain ge-
forscht wird.Das sagte sie kürzlich in
einem Interview mit der NZZ.Dass das
«Testlabor» für das Spezialfeld Krypto-
währungen anderswo liege, etwa in Zug
oder mit derFacebook-Währung Libra
in Genf, hält sie fürkeinen Nachteil.
Im «Trust Square» wird der Block-
chain-Begriff weit gefasst und ist nicht
nur auf Bitcoins undFintech beschränkt.
Aufgenommen werden auch vielegrosse
Themen.An einemTagder offenenTüre
haben dieTeilnehmer kürzlich etwa dar-
über philosophiert, ob man Blockchain-
basierten Algorithmen vertrauenkönne
und welche ethischenFragen sich dar-
aus ergäben. «Es ist wichtig, dass wir
uns auch mit solchenThemen ausein-
andersetzen», sagt Meister. Ein Ziel des
«Trust Square» sei es, der Bevölkerung
die Angst vor der potenziell disruptiven
Technologie zu nehmen.
Neben fixen Hubshaben sich in der
Zürcher Blockchain-Szene mehrereFör-
derprogramme etabliert. Eines der be-
kanntesten ist der «Kickstart», dessen
di esjährigeAusgabe amFreitagabend
im Kraftwerk Selnau eröffnet wurde.
Über mehrereWochenkommen Start-
ups aus allerWelt nach Zürich, um hier
ihre Geschäftsidee zu überprüfen, um
Investoren zu finden und neuePart-

nerschaften mit Grossunternehmen wie
Swisscom, Axa oder Credit Suisse (CS)
zu knüpfen.Seit dem ersten «Kickstart»
2016 haben sich mehrere Blockchain-
Startups daran beteiligt.
DiesesJahr hat es unter anderen die
ZürcherFirma Atpar in dieAuswahl ge-
sch afft. Der 42-jährige Gründer Michael
Svoboda hat sich erst AnfangJahr selb-
ständig gemacht.Vorher arbeitete er für
die Swisscom. «Ich musste diesen Schritt
einfach wagen», sagt er bei einem Kaffee
auf demVorhof des Kraftwerks.

Die Weichen sind gestellt


Dass die Anfangseuphorie rund um die
Kryptowährungen wie Bitcoin verflogen
ist, findet er eine «gesunde Entwicklung».
Auch dass dieFinma sich der Branche
annimmt, hält er in der heutigenForm
für richtig. «Eine gewisseRegulierung
ergibt Sinn», sagt er.Auch wenn dies
den «Puristen» unter den Blockchain-
Enthusiasten vielleicht nicht passe. Die
neu eTechnologieder Tokenisierung er-
laube es kleinen Playern wie Atpar, neue
Märkte anzusprechen – und damit auch
die übermächtigen Platzhirsche wie CS
und UBS herauszufordern.
Atpar arbeitet an einer schlanken,
effizienten und offenenFinanzmarkt-
infrastruktur auf der Blockchain.Das
Startup will bald seine ersteFinanzie-
rungsrunde abschliessen.Verhandelt
hat es vor allem mit Investoren aus den
USA. Dort sei die Bereitschaft, Geld
in junge Blockchain-Firmen zu ste-
cken,momentan noch grösserals in der
Schweiz, sagt Svoboda.
Sonst seien die Bedingungen am
Blockchain-Standort Zürich aber sehr
gut. Bis sich dieTechnologie durchsetze,
werde es aber sicher noch einigeJahre
dauern.Blockchain-Experte Alexan-
der Brunner teilt diese Einschätzung.
«Heute würde es noch niemandem auf-
fallen, wenn es die Blockchain nicht
mehr gäbe», sagt er. In einigenJahren
könntedies aber anders sein.Dann
werde unsereWelt vermutlichganz von
der neuenTechnologie erfasst sein.Von
derTemperaturkontrolle bis zur Zoll-
abwicklung, überall wirke die Block-
chain dann im Hintergrund mit. Zürich
und die Schweizhätten die Chance,sich
an dieser Entwicklung zu beteiligen.Die
Weichen dafür seien gestellt.

«Ein leuchtendes Etwas»: Blockchain-Technologie hat dasPotenzial, ganzeBranchen umzupflügen–auchinZürich. GORAN BASIC/NZZ

Die Bedeutung
von Zürich für die
wachsende Branche
könnte in Zukunft
noch zunehmen.

Das di gitale Fundament
ist gelegt
Kommentar auf Seite 11

BEZIRKSGERICHTZÜRICH

Aggressionen


amHeiligabend


Zwei Frauen liefern sich vor einem
Zürcher Klub eine wüste Schläger ei

TOM FELBER

Am frühen Morgen des Heiligabends
2017 vergassen zwei junge, alkoholi-
sierte Schweizerinnen vor dem Eingang
zum Klub Kanzlei in Zürich das besinn-
liche Motto derWeihnachtszeitund gin-
gen ziemlich wildaufeinander los. In den
Anklagen istvon Haarereissen, Bissen,
Kratzern, Schlägen, Fusstritten und
einemWurf mit einer Dose dieRede, die
eine blutende Stirnwunde zurückliess.
Die 33-jährigeFrau mit derWurfhand
ist Mutter von zwei Kindern und Pflege-
assistentin, beruflich also eher heilend
als verursachend unterwegs. Ihre 26-jäh-
rigeKontrahentin arbeitete nebenberuf-
lich alsPolizeidolmetscherin.
Dadie angeklagten Tätlichkeiten
und einfachenKörperverletzungen An-
tragsdelikte sind,schlägtder Einzel-
ri chterVergleichsverhandlungen vor,
auf die beideFrauen eingehen–unter
Ausschluss der Öffentlichkeit und des
Reporters. Nach eineinhalb Stunden ei-
nigen sich dieFrauen tatsächlich einver-
nehmlich und ziehen ihre Anträge zu-
rück.Da die 33-Jährige derKontrahen-
tin aber im Streit noch dasPortemon-
naie weggenommen haben soll, ist auch
das OffizialdeliktRaub angeklagt, und
der Prozess wird damit fortgesetzt. Zum
Streit soll es nämlich gekommen sein,
weil dieJüngere der Älterenkein Geld
für den Eintritt habe geben wollen.

«Besoffen» und «vertüütet»


Die Pflegeassistentin bestreitet dies.
DerVorwurf stimme überhaupt nicht.
Zudem sei sie «besoffen» und «vertüü-
tet» gewesen, habe Drogenkonsumiert
und ein Blackout gehabt. Es stehtAus-
sag e gegenAussage,die beiden Beteilig-
ten widersprechen sich gegenseitig und
nach Ansicht des Einzelrichters auch
selber.Weil er nicht klären kann,was
mit demPortemonnaie geschah, spricht
er die 33-Jährige in dubio proreovom
Vorwurf desRaubs frei und verurteilt
sie nur wegen Drogenkonsums zu einer
Busse von 300 Franken.
Anschliessend muss sich dieJüngere
in einem weiteren Prozess noch wegen
Beschimpfung verantworten. Im Okto-
ber 2018 soll sie nach einem Streit mit
anderenFrauen im Klub Plaza vollkom-
men ausgerastet sein und mit zwei aus-
gerückten Stadtpolizisten unter anderem
über dieWorte «Scheiss-Cop»,«Drecks-
bullen», «Du hast kleine Eier», «Fickt
euch selberin den Arsch», «Nur mit
Handschellen bist du Arschloch stark»
kommuniziert haben.Wieder versucht es
der Richter mit einemVergleich. Die bei-
denPolizisten lehnen aber kategorisch
ab. Er arbeite schon seit zehnJahren im
Kreis 4. So massiv sei er noch nie be-
schimpft worden,sagt der eine Beamte.

Schwester soll es gewesen sein


Die Beschuldigte bestreitet die Vor-
würfe. Nicht sie habe das gesagt, sondern
ihre Schwester. Diese sei mit ihr im Klub
gewesen und sehe ähnlich aus. Sie habe
ja als DolmetscherinVerständnis für die
Polizei undkenne deren Probleme. Eine
solche Beschimpfung sei das Letzte, was
sie machen würde. Zudem werde sie
nicht zu einer bevorstehenden eidgenös-
sischenFachprüfung in ihrem Haupt-
beruf zugelassen, wenn sie verurteilt
würde. Der Einzelrichter hat angesichts
der Aussagen derPolizisten und eines als
Zeugen befragten Security-Mannes aber
keine Zweifel an ihrer Schuld und ver-
urteilt die 26-Jährige wegen Beschimp-
fung zu einerbedingten Geldstrafe von
20 Tagessätzen à 50Franken.

Urteile GG190114, GG190115 und GG190123,
noch nicht rechts kräft ig.
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