Neue Zürcher Zeitung - 07.09.2019

(Ron) #1

Samstag, 7. September 2019 FEUILLETON 39


Der Vatikan selber regt an, über eine Lockerung


des Zölibats von Priestern nachzudenken SEITE 42


Heimo Zobernig spren gt mit seiner Kunst


Zeichensysteme der Moderne SEITE 46


Warum ich nicht mehr ins Theater gehe


In der subventionierten Nische richten sich die städtischen Bühnen bequem ein. Aber hat das Zukunft?Von Felix E. Müller


Das Ende kamschleichend.EinesTages
hörte ich dann ganz auf, insTheater zu
gehen. Die Stücke sprachen mich nicht
mehr an, die Sitze wurden immer unbeque­
mer, dasPausenritual war eine Qual. Ein
stiller Abschied, gänzlich untheatralisch.
Und: Ich vermisse nichts.
Jahre sind seither insFeld gezogen,
was einenVorteil bringt, der aber auch
ein Nachteil ist. Man kann zurückbli­
cken, man erinnertsich, manvergleicht.
Man sagt: «Einst.»
Einst warPeter Stein. DerRegisseur
wurde1969 aus Deutschlandnach Zürich
geholt, mit demRuf des Provokateurs im
Gepäck, und setzte um, was der Kritiker
Hugo Leber kurz vorher gefordert hatte:
«Legt endlichFeuer an dies Haus!» Die
Hütte war das Schauspielhaus.
Stein legte schon mit seiner ers­
ten Produktion die Lunte,«Early Mor­
ning» von EdwardBond, ein Stück,
das Gewalt, Mord und Kannibalismus
zelebrierte. Es war ein Skandal.Das
Publikum buhte und schrie:«Wir wollen
anständigesTheater!» Ein Schauspieler
auf der Bühne leitete den Protest
per Handbewegung Richtung Direk­
toriumsloge weiter, woPeter Löffler
sass, der damalige Direktor des Schau­
spielhauses.
Der Zürichberg, damals noch freisin­
nig und nicht wie heute sozialdemokra­
tisch, zeigtesich schockiert. Doch schon
mitder nächsten Produktion, «Change­
ling» (Wechselbalg) vonThomas Mid­
dleton undWilliamRowley, zwei Zeit­
genossen Shakespeares, folgte der
nächste Eklat.
Später sollte sich Ivan Nagel, als Kri­
tiker und noch nicht als Intendant des
Hamburger Schauspielhauses in Zürich
zugange,erinnern: «Ich sah, wie nach
den beiden Premieren dieDamen aus


ih ren kostbaren Täschchen die mitge­
brachten Tr illerpfeifen hervorzogen,
um die Schweiz vom Import der deut­
schenRevolution zuretten.»Das Schau­
spielhausentwickeltesichrasant schnell
zumPolitikum. Im städtischenParla­
ment wurde heftig debattiert, im Büro
des Stadtpräsidenten stapelten sich die
Protestschreiben. Stein war nicht zu hal­
ten; nach nur einer Spielzeit war er weg.
Er war gegangen, nur um gleichsam
durch die Hintertür zurückzukommen
mit den Produktionen, die er an der
Schaubühne in Berlin inszenierte und die
dort fürFuroresorgten. «PrinzFriedrich
von Homburg» von Kleist im damals von
der Stadt betriebenenTheater 11 in Oer­
li kon etwa. Elektrisierend, magnetisie­
rend, denkwürdig, einTheaterabend der
Gänsehaut, auch in der Erinnerung noch.

Wo bleibt dieKritik?


Mag sein, dass hier eine altersbedingte
Verklärung derJugendzeit, eine nostal­
gische Überhöhung der Erinnerung vor­
liegt. EineTatsache aber ist, dass das
Theater in der Öffentlichkeit damals
stets präsent war.Was in den Sälen der
Stadt, den etablierten und den neuen,
passierte, beschäftigte Medien undPoli­
tik, war Gesprächsthema undKonflikt­
linie im städtischen Diskurs. Einig waren
sich alle, dass hier zentraleFragen unse­
rer Zeit behandelt wurden.
Es ging um diese Gesellschaft und
um mögliche andere, um denkonkreten
Menschen und den möglichen anderen,
es ging um diese Machtträger und die
vorstellbarenAlternativen.Das Thea­
ter erfüllte seine eigentlicheRolle, den
Alltag zu transzendieren, daskonkrete
Gegebene mit dem Denkbaren infrage
zu stellen.Das Mittel war vielfach das

Werk eines Klassikers, die Methode
eine ästhetische.
Das ist so heute nicht mehr möglich.
Es sind nicht mehr Germanistik,Philoso­
phieund Soziologie die Leitwissenschaf­
ten wie damals, Geistes­ undKulturwis­
senschaften also, was – eben: einst – Lite­
ratur undTheaterinsZentrum des Inter­
esses rückte. HeutegehtesumDaten, um
Algorithmen,Datenanalyse und Statis­
tik, um Genetik und Genmanipulation.
Es sind sperrigeThemen für die Bühne,
man kann mit Goethe, selbst wenn man
ihn querlegt oder auf denKopf stellt,
Facebook und seine Manipulationen nur
schwer thematisieren.
Es sind halt auchkomplexeFragen,
dieKonfliktlinien gehen quer durch alle
gesellschaftlichenLager,Facebook ist
eineWaffe für mehr Demokratie oder
ein Krake,die uns digital vermisst. So
hat das Stadttheater,diese so eminent
deutscheInstitution,seine Missionver­
loren.Das Bildungsbürgertum, das es
einst getragen hat, gibt es kaum noch,
vor allem nicht in den Städten.Damit ist
dasFundament des Staatstheaters weg­
gebrochen.

Das Leben in derBlase


Der andere Ansatz der 68er aber, aus
demTheatereine Kampfzonegegen
diese Bürgerlichkeit zu machen, trägt
ebenfalls nicht mehr, weil die damalige
Minderheit heute in den Städten die
Macht übernommen hat. Der Zürich­
bergist nicht mehr freisinnig,die alten
Damen mitTr illerpfeife gibt es dort
nicht mehr, sondern postmateriellge­
steuerte Akademikerinnen.
Dass dasTheater zuweilen noch ver­
sucht,sich im alten Stil gegenrechtszu
positionieren, gegenPatriotismus, gegen

weisse Männer und Geldsäcke, für Soli­
darität mit den Flüchtlingen wirkt des­
wegen auf die linksliberalen Besucher
nur als müder Selbstbestätigungsmecha­
nismus für das eigeneWeltbild. Eigent­
lich müsste der Angriff gegen die links­
grüne städtische Majorität nun von
rechtskommen.Doch diese beherrschen
die Institutionen nicht und halten ihr
Theater an Schwingfesten undTr eichler­
umzügen draussen imLande ab.
Theater heute findet in einer Blase
statt:Das gleiche Milieu, dasregiert,
trägt die Organisationen und besucht
auch dieAufführungen, die – wie es auf­
grund der viel seltener publiziertenAuf­
führungskritiken scheint – primär das
Weltbild der Blase bestätigen.
So ist dasTheater nicht mehr der
Vordenker der Gesellschaft, nicht mehr
deren Gegendenker oder Andersden­
ker. Es hat sich aber in seiner Nische
durchaus bequem eingerichtet, denn
solange die Subventionen fliessen, so
lange muss man sich nicht fundamen­
talinfrage stellen. ChristophSchlin­
gensief, Regisseur und Provokateur,
war hellsichtig genug,um diese Zu­
sammenhänge früh zu sehen. ImJahr
2003 marschierte er mit dem Megafon
durch Zürich und schrie:«Wir fordern
den sofortigen Subventionsstopp für
alleTheater in der Schweiz, in Deutsch­
land, in Österreich, in Europa und in
der ganzenWelt.»
Die Blase hat applaudiert – und
nichts gemacht. Sie ist selbstgenügsam
geworden und verweist bei kritischer
Nachfrage gerne darauf, dass ebenThea­
terkrise herrsche.All diese Serien von
Netflix und Amazon, wer käme noch da­
gegen an! Die Schuldigen an der Krise,
sie sitzen im SiliconValley und sind
übermächtig.

Nurstimmt das sonicht.Diese Krise
ist eine Krise aus Deutschland. Es ist
eine Krise des Staatstheaters deutscher
Prägung. In London herrscht einThea­
terboom, dort werden gerade zehn neue
Bühnen gebaut; am Broadway sind die
Säle voll – alles ohne Unterstützung
des Staats. Offenbar schätzen die Leute
trotz Netflix und Co. das, wasTheater
einmaligmacht: Manspürtdie Körper
der Schauspieler, sieht ihren Schweiss,
hört ihren Atem,manlacht miteinan­
der, man weint miteinander. Zum An­
fassen ist es, es riecht nach Leben, auf
der Bühne und in denRängen.

Option: Unterhaltung


Alles nur Unterhaltung, hört man schon
die Blase schnöden.WoErfolg ist, kann
keineKultur sein. Oder schlimmer: nur
neoliberaleKultur, wasKultur in Anfüh­
rungszeichen meint. Doch das heisst, die
Leistung der Stückeschreiber und Pro­
duzenten in NewYork und London zu
unterschätzen.
Wer es wagt, über das Leben des ers­
tenFinanzministers der USA ein Musi­
cal zu schreiben und «Hamilton» zu
einem Grosserfolg zu machen, wer mit
«Book of Mormon» die verklemm­
ten Mormonen aus Utah ins Zentrum
eines Stücks stellt und daraus einen Hit
macht, der verfügt offenbar über eine
Ahnung, wie man das Publikum ins
Theater bringen kann. Unterhaltung?
Gewiss, aber eine durchaus mit Gehalt,
mit einer Moral. Der junge Mormonen­
missionarkehrt als toleranterer Mensch
aus Afrika nach SaltLakeCity zurück.
Was heisst das nun?Dass ich durch­
aus noch insTheater gehe, wie ich ge­
rade feststelle. Ich gehe nur nicht mehr
ins Stadttheater.

Da hatte das Stadttheater nocheine Mission: Szene aus den Proben fürFriedrichDürrenmatts«Physiker»amSchauspielhaus,1962. PHOTOPRESS-ARCHIV
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