Neue Zürcher Zeitung - 07.09.2019

(Ron) #1

40 FEUILLETON Samstag, 7. September 2019


Auf halber Höhe zum Himmel steckt der Tote fest


Für alles Komische in der Tragik hat Sibylle Lewitscharoff ein Flair. Nun hält sie in ihrem Roman eine schöne Leich am Wickel


PAUL JANDL


Der Himmel über Berlin ist nicht der
Himmel, von dem man so viel hört. Er
istkein Elysium mit Engeln und Schal-
meien, sondern ein städtischer Luft-
raum mitLandeanflügenundAusdüns-
tungen schlechterLaune. Durchstochen
von einemkolossalenFernsehturm, der
soviele Meterhoch ist, wie das Jahr
Tage hat. Man muss das sagen, weil es
in Sibylle Lewitscharoffs neuemRoman
«Von oben»eineRolle spielt.Die Seele
eines gerade erstVerstorbenen ist nicht
weit genug aufgestiegen, sondern in den
Wolken über Berlin hängengeblieben.
IhreVerdammnis besteht darin, dass
sie alles sehen kann, was sich in der fla-
denhaft unter ihr liegenden Stadt tut.
Eingreifen aber kann sie nicht.Aus dem
Flattern der Seele und der misslichen
Lage entsteht ein fulminanterRoman,
der wie eine Summe vielerThemen aus
Sibylle Lewitscharoffs Literatur wirkt
und derPathos gleichermassen erzeugt,
wie er es vernichtet. DieAuffahrt in den
Himmel wird hier als technisch-theolo-
gische Katastrophe beschrieben. Näher
mein Gott zu Dir!, aber dann bleibt im



  1. Stock der Lift stecken.
    Das Ich in Sibylle Lewitscharoffs
    Roman hat einiges hinter sich gelassen.
    Die eigene sterbliche Hülle, diejetzt am
    SchönebergerFriedhof unter grabstein-
    verzierenden tönernen Spatzen und in
    der Nähe von Marlene Dietrich ruht.
    Aus demLeimgegangene Bekannte,
    die sich ihremTod erst noch entgegen-
    trinken. Und eine Identität, über die
    sich gar nicht genau sagen lässt, was sie
    eigentlich war. Genau hier gibt es selt-
    sam weisse Flecken der Erinnerung.


Alles bleibt Stückwerk


Dass dieses Ich männlich war, scheint
festzustehen, obwohl in den Empfindun-
gen der jetzigenDaseinsform nichts dar-
aufhinweist.Mankönnte esaus Gesprä-
chen schliessen, die dieFreunde Mar-
git undRudi in Lewitscharoffs Stamm-
lokal Manzini führen, wo sie über den
«schwäbischen Philosophiezwerg» ab-
lästern, den sie gekannt haben. «Kopf
immer ganz hoch oben, intellektuelles
Gedöns ohne Ende.»
In Augenhöhe mit einer Pfeffer-
mühle fliegend, kann das unkörper-
liche Ich in diese Gespräche nicht ein-
greifen.Anderswo erfährt es auch noch,
dass die geliebte Marie ihn mit Ger-


hard betrogen hat, demWilmersdorfer
Schwerenöter, der nahm, was kam, und
der auch mitDavid Bowie um die Häu-
ser gezogen ist.Von Szene zu Szene wird
eine Biografie erzählt, deren Löcher sich
nachträglich nicht mehr stopfen lassen.
Die Stückwerk bleibt und bleiben muss,
so hoffnungslos endgültig, wie derTo d
nun einmal ist.
DerTod macht uns nicht klüger, das
Ich in Lewitscharoffs«Von oben» aber
immerhin gesprächig. Eskommt vom
Hundertsten insTausendste, dreht sich
in ein philosophisches «Rumgesirmel»
hinein, um beim ganz Privaten wieder
herauszukommen. Bei seiner allein-
erziehenden Mutter und einemVater,
der sich davongemacht hat.Aus der per-
spektivischenVerkleinerung desJen-
seits schaut auch die Liebe noch küm-

merlicher aus. Die sie begleitende Ero-
tik tritt imRoman in zeitgenössischen
ideologischen Schrumpfformen auf.
Wenn die Berliner Libertinage der
siebziger und achtzigerJahre oft nur
eine inverseForm der Spiessigkeit war,
dann hat Lewitscharoff dafür gültige
Bilder gefunden. Der Salonlöwe Nico-
demus Lombart steht für denrealen
Soziologen Nicolaus Sombart und wird
im Roman als pseudointellektueller
Dummkopf und misogynerTr ophäen-
sammler gebrandmarkt.

Oben sitzt Gott


Darüber, wie nahe sie am Gesche-
hen ist, will dieAutorin den Leser gar
nicht täuschen.Vieles aus Lewitscha-
roffsBiografie findet sich auch in«Von

oben». Die StuttgarterKindheit und
die Lebenswelt Berlins, derenMilieus
dieFreiheit zwischen Glanz und Elend
zelebrieren. Als schönes Scheitern und
Scheitern der Schönheit.Wie imFilm
reist man mit demRoman durch die
Stadt und sieht dieKulturbetriebler,
wenige Glückliche und vieleVerzwei-
felte. Eine jungeFrau, die sich in die
Tiefe stürzt und auf dem Asphalt auf-
schlägt. Einen Mann, der in einer Nobel-
villa seine Gattin verprügelt.Angela
Merkel, wie sie im graukariertenBade-
mantel abends noch in ihrerKüche sitzt
und beim Kräutertee Akten studiert.
Lewitscharoffs Ich schaut auf sie hin-
unter, und auf der BerlinerRehwiese
schauen die Menschen zum Mond hin-
auf. Ein Blutmondstehtrot undrätsel-
haft über der Stadt.

«Oben» ist bei Sibylle Lewitscharoff
ein illustrer Ort. Hier sitzt Gott inmit-
tender «Schwirrnis vonEngeln», und
wenn es ihm beliebt, kann er sich auch
schon einmal erniedrigen. Er nimmt
dann Menschengestalt an. Der Mensch
wiederum strebt nach dem Status der
Gottähnlichkeitund versucht in seiner
Hybris einenAufstieg, der nurauftragi-
komischeWeise scheitern kann.
Die Konkurrenz von Gott und
Mensch breitet die deutsche Schrift-
stellerin in einemRoman aus, der Gott-
sucher und Gottesleugner,Theologie
und irdische Eitelkeit durcheinander-
mischt. Oft wissen die Narren dabei
mehr als dieWeisen.Vor der psychia-
trischen Klinik in derLandhausstrasse
liegt ein Mann auf der Strasse, von dem
es heisst, dass er «inKontakt mit was
von oben ist». Er hält die Zeigefinger
gen Himmel undredet von der gros-
sen Macht des «Rudeldudel». Ein ande-
res Kaliber ist die schwäbelndeTante
Gerda, die ganz auf dem Boden des ge-
sunden Hausverstandes und seiner un-
verrückbarenWeisheiten steht: «Des
kommt oftanders, als mer denkt.»

Auch die Hölleist im Himmel


Mit ihrer frei schwebenden Beobach-
tungsinstanz ist Sibylle Lewitscharoff
zwar nicht wirklich dabei, aber immer
mittendrin. IhreSeelendrohne schwebt
über denKöpfen, um wiederum durch
unsereKöpfe zu schwirren mitihren
Geschichten. Mit den kleinen Episoden
und der grossen Conditio humana.
DieKönigsdisziplin der Literatur, hat
Sibylle Lewitscharoff in einem Essay ge-
schrieben, sei es, «denTaumel im leeren
Raum der Gottesferne zu beschreiben».
Um diesenRaum auch nurannähernd
fassen zukönnen, wirbelt derRoman
einen Schwebstoff namens Ich auf, ein
aus unsichtbaren Gründen aufsteigen-
des und wieder herabsinkendes Staub-
körnchen im gottverlassenen All.
«Oben»: so steht es auf Kisten mit
kostbarem Inhalt, damit man sie nicht
verkehrtherum lagert.Wenn in Sibylle
Lewitscharoffs knisternd klugem und
turbulentkomischemRoman aus Phy-
sikTr anszendenz wird und ausTr anszen-
denz Physik, dann ist am Ende nichts
mehr so, wie man es sich vorgestellt hat.
Der Himmel unten und die Hölle oben.

Sibyll e Lewitscharoff: Von oben. Roman. Suhr-
kamp-Verlag, Berl in 2019. 240S., Fr. 37.90.

Als wäre es dasAuge desToten, schaut einBlutmondauf die Stadt herunter. CARSTEN KOALL / GETTY

Aufklärung statt Augenwischerei


Das 20.Jahrhundert ist für Ungarn in vieler lei Hinsicht traumatisch verlaufen. In scharfsinnigen Essays kritisiert Zsófia Bán alte und neu e Irrwege


ILMA RAKUSA


Zum Glück gibt es sie: die Schriftstel-
ler undpublic intellectuals, die inViktor
Orbáns Ungarn energisch ihre Stimme
erheben, um gegen die fortschreitende
Aushöhlung demokratischer Prinzi-
pien zu protestieren. ZsófiaBán,Auto-
rin und Professorin für Amerikanis-
tik an der Budapester Elte-Universität,
gehört zu ihren wichtigstenVertretern.
1957 als Kind ungarisch-jüdischer Eltern
in Rio deJaneirogeboren und dort auf-
gewachsen, entwickelteBán schon früh
einkosmopolitisches Denken,das natio-
nalistischer Enge undVerdrängungs-
wutParoli bot.Mitihrem literarischen
Debüt «Abendschule» (dt. 2012) und
dem Erzählungsband «Als nur dieTiere
lebten» (dt. 2014) bewies sie ihr heraus-
ragendes sprachlichesTalent, mit ihren
zahlreichen kunst-, film- und literatur-
kritischen Essays ihre vielseitigenInter-
essen.Was ZsófiaBánim Innersten
umtreibt, verrätnun ein deutscherAus-
wahlband ihrer Essays, erschienen unter
dem oszillierendenTitel «Der Sommer
unsres Missvergnügens» und vonTeré-
zia Mora brillant übersetzt.
Es geht darin um Mangel,Verdrän-
gung undVerschweigen, um das Sicht-
barmachen des Unsichtbaren,um per-


sönliche Standfestigkeit angesichts poli-
tischerWidrigkeiten, umFamilienfotos
in der privaten undkollektiven Erinne-
rung, um die «Melancholie der Anato-
mie» inPéter Nádas’ «Parallelgeschich-
ten» oder um die ironischeRede in Imre
Kertész’ «Roman eines Schicksallosen».
AuchW.G.Sebald und sein Spiel mit
«Authentizität» beschäftigt dieAuto-
rin sowie der erschütternde KZ-Film
«Sauls Sohn» von NemesJeles,der den
unaussprechlichen Schrecken in Bilder
zu bannen versucht.

Den Schatten erzeugen


Immer wieder ist es dasVerhältnis von
Bild undWort, demBán nachspürt, ob
es sich umVerdeckungsmanöver oder
erhellende Verfahren der Ekphra-
sis handelt. In Bezug auf Nádas’ «Par-
allelgeschichten» zeigt sie dies an vie-
len Beispielen undkonstatiertüber den
Roman, dieser thematisiere das, was in
der ungarischen Literatur sozusagen
systematisch ausgeblendet werde: «die
Horthy-Ära, dieTeilnahme am Zwei-
tenWeltkrieg, den Holocaust, denKör-
per, die Sexualität und ihre Sprache, die
Eugenik, dieRevolution von1956, die
Beziehung zur deutschenKultur und
Geschichte, die deutschsprachige Min-

derheit in Ungarn, die Geschichte der
Juden, die Geschichte derRoma».
Mit derselben Präzision, die im
Detail das grosse Ganze auszumachen
weiss, widmet sichBán auch der iro-
nischenFigurenrede in ImreKertész’
«Roman eines Schicksallosen». Wenn
der jugendliche Ich-Erzähler angesichts
der monströsenWelt des Holocaust die
Worte «natürlich» und «versteht sich»
verwendeund im Zusammenhangmit
demKonzentrationslager von «Glück»
rede, so klinge das so, wie wenn man den
Gelben Stern alsAccessoire bezeichnet.
Alles, so folgert dieAutorin, seikontext-
abhängig, eineFrage der Situation. Oder
anders: Die Grenzen derWelt des jun-
gen Ich-Erzählers werden «zur Grenze
seiner Sprache und vice versa».
ZsófiaBán nimmt es mitWorten und
Bildern genau. Ergreifendihr Essay
«Negative des Mangels»,darin sie be-
richtet, wie sie in der KZ-Gedenkstätte
Theresienstadt nach einemFoto ihrer
Mutter, die dort inhaftiert gewesen war,
sucht, ohne es zu finden.Und darüber
Erleichterung empfindet. Die Mutter
hat dasLager überlebt, doch stets dar-
über geschwiegen.Also wäre einLa-
gerbild gleichsam ohne eine dazugehö-
rige Geschichte gewesen. Etwas anders
ist derFall der erstenFrau ihresVaters,

die inAuschwitz umkam. Mühsam ent-
deckteFotos erwiesen sich als Ikonen
des Mangels undVerlustes, weil die
AutorindiesePerson nie gekannt hatte.
Es gebe Bilder, soBán, die in Ermange-
lung einesKörpers und einer Geschichte
nicht in derLage seien, einen Schat-
ten zu werfen. In diesemFall sei es an
uns, diesen Schatten zu erzeugen, durch
unsern eigenenKörper. Ein ebenso poe-
tischer wie profunder Gedanke.

Phantomschmerz undTrauma


Prägnantes steuertBán auch zur ungari-
schen Geschichte und Gegenwart bei. In
«DerTurulvogel und der Dinosaurier»
legt sie dar, wie Ungarn mangelsVer-
gangenheitsbewältigung sichan«ver-
staubte, diereal timevollkommen ausser
Acht lassendeSymbole wie die Árpá-
denflagge, die Karte Grossungarns oder
den nicht besonders liebenswürdig aus-
sehenden, aggressivenTurul» klammere,
einenVogelaus mythischerVorzeit,
der das Mutterland vor demTr ianon-
Tr auma verkörpere.Lauter Ersatzerin-
nerungen, moniertBán, von Spin-Dok-
toren derPolit-Pop-Kultur geschickt
instrumentalisiert.
Im Essay «FieberimAugust», der den
Sommer 1914 und seine Kriegseuphorie

in den Blick nimmt, wird sie nochkon-
kreter. Die Phantomschmerzen des zer-
platzten Grossreichs überdeckten das im
ZweitenWeltkrieg erlittene,nicht weni-
ger staatstragendeTr auma: «das aktive
staatlicheMitwirken an derVernichtung
von 60 0000 ungarischen Staatsbürgern
jüdischer Herkunft». Heute fusse das
Wort «national» auf einerrevanchisti-
schen, kriegerischen Rhetorik. «Die ‹Ge-
burtstage desKönigs› bzw. die diese er-
setzenden, den nationalen Zusammen-
halt zu fördern berufenenFeiertage (wie
z.B.derTr ianon-Gedenktag) produzie-
ren verblendendeFeuerwerke bzw. blinde
Flecke der Geschichtserinnerung.»
Mit Blick auf Ungarn und die Euro-
päische Union mahntBán, die Demo-
kratie, die dem «nationalen Urmythos
fremd ist»,und derenInstitutionen nicht
offiziell oder halboffiziell abzuwickeln.
Sie weiss, wovon sie spricht. Und ihr
Aufruf zum «self-empowerment» rich-
tet sich nicht nur, wennauchmit beson-
derem Nachdruck an Gleichgesinnte in
Ungarn, das diesenAusdruck erstnoch
in seinenWortschatz aufnehmen muss.

Zsófia Bán: Der Sommer unsres Missvergn ü-
gens. Aus dem Ungarischenvon Terézia Mora.
Mit eine m Nachwort von Daniela Strigl. Verlag
Matthes & Seitz, Berlin 2019. 256S., Fr.31.90.
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