Neue Zürcher Zeitung - 07.09.2019

(Ron) #1

6INTERNATIONAL Samstag, 7. September 2019


Algeriens Jugend hat noch lange nicht genug


Die Unzufriedenen haben seit dem Rücktritt Bouteflikas schon viel gewonnen, aber der Abgangder altenGarde steht nochaus


ULRICH SCHMID, TELAVIV


Wer Geduld hat, hat Erfolg – manch-
mal. DerJubel kanntekeine Grenzen,
alsAlgeriensFussballer imJuli in Kairo
den Afrikacup gewannen – nach 29 lan-
gen, erfolglosenJa hren. Und dass die
Szenen, die sich in den Strassen Algiers
daraufhin abspielten, aufs Haar den
Tumulten derFreude glichen, zu denen
es nach der Bekanntgabe von Präsident
BouteflikasRücktritt Anfang April ge-
kommen war, istkein Zufall. Zwanzig
Jahre hatten die Bürger warten müs-
sen, bis ihr greiser, malader, ungelieb-
terStaatschef, der seit einer Serie von
Schlaganfällen imRollstuhl sitzt, das
Handtuch warf. Monatelang hatten die
Unzufriedenen protestiert und auf die-
sen Moment gedrängt.Dann kam er.


Eine revolutionäre Kraft


Fussball ist in Algerien einPolitikum,
wie überall in Afrika. Er versammelt
nicht nur die Aficionados,sondern weit
mehrals in denDemokratien Euro-
pas auchdie Rastlosen undAufmüpfi-
gen, die «kleinenLeute».Afrikas Staa-
ten sind fast durchwegs Diktaturen, und
in der brodelnden und nichtkontrol-
lierbaren Emotion desFussballstadions
artikuliert sich oft genug vulkanartig
Dissidenz. Die Ultrasdes Klubs al-Ahly
von Kairo wurden zu wichtigen Akteu-
ren in der Arabellion in Ägypten 2011,
im Sudan feuerte diePolizei im Dezem-
ber 20 18 Tr änengasgranaten aufranda-
lierendeFussballfans, die denRücktritt
Omar al-Bashirs verlangten.
In Algerien ist viel Protest gegen Bou-
teflika und das hinter ihm stehende klan-
destine MachtzentrumvonFussballfans
gekommen. Das Lied «Casa del Moura-
dia» ist zur Hymne der Demonstranten
geworden, sie ist auf den grossenKund-
gebungen ebenso zu hören wie imFuss-
ballstadion. Der Sieg in Kairo werde die
Protestbewegung nur noch stärken, heisst
es in Algier. Die Despoten versuchen
seit je, denTr end zu drehen und sonnen
sich im Licht der Stars. Erdogan posierte
mit Mesut Özil,Ägyptens Präsident Sisi


schüttelte Mohammed Salah, demStar-
spieler des FC Liverpool, die Hand. Die
algerischenFussballer indes halten sich
von der Machtelite fern.Adlène Gue-
dioura, ein Mittelfeldspieler, verglich den
Sieg seiner Mannschaft am Afrikacup mit
der algerischenVolksbewegung.

TrügerischesWahlversprechen


Die friedliche algerischeRevoltekann
denAufwinddes Afrikacupsiegs durch-
aus brauchen. Sie hat ihn vielleicht sogar
nötig. Denn obwohl Bouteflika gegan-
gen ist und obwohl dasRegimeWahlen
inAussicht gestellt hat, ist der Macht-
kampf noch längst nicht entschieden.

Zum starken Mann in Algerien ist der
Chef der Streitkräfteavanciert, Gene-
ralAhmed Gaid Salah. Gaid Salah ruft
immer wieder nach einerraschen Prä-
sidentenwahl, da sonst die öffentliche
Ordnung gefährdet sei.Ursprünglich
hätte dieWahl am 4.Juli stattfinden sol-
len, so zumindest hatte es der zum inte-
rimistischen Staatschef gewählteParla-
mentsvorsitzende Abdelkader Bensa-
lah bestimmt.Das Datum wurde bald
als unrealistisch erkannt und gestri-
chen. General Gaid Salah aber möchte,
dass der Urnengang noch in diesemJahr
über die Bühne geht und fordert Ben-
salah immer wieder dazu auf, bis Mitte
September dasWahlkollegium einzube-

rufen, damit Mitte Dezember gewählt
werden kann.Doch die jungen De-
monstranten in Algier und in anderen
Städten desLandes wollenkeine frühen
Wahlen.Auf den ersten Blick erscheint
das paradox. Aber die Demonstranten
handeln nurkonsequent, und dieWei-
gerung, sich überhastet in einen Prozess
zwingen zu lassen, den sie nichtkontrol-
lierenkönnen, istein weiteres Indiz für
ihre Besonnenheit.
Seit Monaten sagen die Demons-
tranten, dass eskeineWahl geben dürfe,
bevor nicht die wichtigstenFiguren der
Ära Bouteflika abgetreten seien, und
zu diesen gehört General Gaid Salah
ebenso wie Bensalah, der Übergangs-

präsident. Der Armeechef war lange
Mitglied von Bouteflikas unmittelba-
rer Entourage und unterstützte zu-
nächst dessenWiederwahl, bevor er
eine Kehrtwende vollzog und unter
dem Eindruck der Demonstrationen
die Abdankung Bouteflikas forderte.
Der Zentrist Bensalah war immer ein
Gefolgsmann Bouteflikas und sprach
sich AnfangJahr ebenfalls noch für eine
fünfte AmtszeitdesPräsidenten aus.
Beide, der General wie derPolitiker,
sindRepräsentanten des altenRegimes,
beide auch geschmeidige Opportunis-
ten. Organisieren sie dieWahl,könnte
das die Unzufriedenen teuer zu stehen
kommen.

Der Ton wird rauer


IhrArgwohn ist begründet.Dass seit
BouteflikasRücktritt imRahmen einer
Antikorruptionskampagne mehrere
hohePolitiker verhaftet worden sind, ist
für siereineKosmetik. Said Bouteflika,
der Bruder des früheren Präsidenten,
Djamel Ould Abbes, der Chef von Bou-
teflikasFront de libération nationale, so-
wie mehrere Minister, unter ihnen der
verhasste JustizministerTayeb Louh,
sitzen bereits hinter Gittern. Doch die
Opposition verlangt volleTr ansparenz
und tiefgreifende Gesetzes- undVerfas-
sungsreformen.
Die Elite weiss, dass das ihre Macht-
stellung dauerhaft untergrübe, also gibt
es Gegenwind. General Gaid Salah
sagte am Montag mit einer Offenheit,
die ihn ehrt, eine «bemesseneRevision
derWahlgesetze»komme allenfalls in-
frage, «nicht aber eine totale und tiefe
Neugestaltung, wie das von einigen ver-
langt wird». Das ist eine klare Ansage.
DerTon wirdrauer. Für Gaid Salah sind
die jungenAufbegehrenden«Verschwö-
rergegen dasVolk und die Nation».Die
Demonstranten protestieren nun schon
seit sieben Monaten, sie tateneswieder
amWochenende,sie bleiben amBall.
Si e wollen nicht lockerlassen, bis die
alte Garde desFeldes verwiesen ist.Ob
sie Erfolg haben werden, ist offen. Der
Machtkampf in Algerien geht weiter.

Jubel über den Gewinn des Afrikacups in Algier im vergangenenJuli. Doch die Algerierwollen mehr. RAMZI BOUDINA /REUTERS

Ungarn preist seine Familienpo litik


als Lösung für Mitteleuropa an


Schrille Töne aneinem Demografie-Gipfel in Budapest


PAUL FLÜCKIGER,WARSCHAU


ZweiTage lang haben in BudapestPoli-
tiker, Geistliche und NGO an einerKon-
ferenz überFamilienpolitik diskutiert.
DasTreffen, das diesesJahr zum dritten
Mal stattfand,warvon Ungarn 2015, auf
dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise,
initiiert worden.Das Land preist seine
konservativeFamilienpolitikregelmässig
als Lösung fürandereStaaten an.Polen
begnügte sich mit einerNebenrolle;der
Auftritt der neuen Familienministe-
rin beschränkte sich auf ein zehnminü-
tiges Impulsreferat.BeideLänder lie-
gen im Mittelfeld derjenigen EU-Staa-
ten mit grossen demografischen Proble-
men. Am schlimmsten dürfte es nach
Uno- und EU-Prognosen Bulgarien
treffen, dessen Bevölkerung bis 2035 um
13 Prozent schwinden soll. Dies wegen
einer Sterberate, die viel grösser ist als
die Geburtenrate,aber auchwegen der
Abwanderung junger Bürger. Lettland,
Litauen, Estland undRumänien kämp-
fen mit denselben Problemen.
Bis aufRumänien sind alle genannten
Länder für eine sehr vorsichtige Einwan-
derungs- und Flüchtlingspolitik bekannt.
In Estland etwa hat dieAufnahme nur
weniger tausend ukrainischer Arbeits-
migranten wesentlich zurWende nach
rechts bei derParlamentswahl im ver-
gangenen März beigetragen. Ungarn
soll laut Uno-Angaben bis 2060 über
eine Million Einwohner einbüssen. Man
stelle sich diesemTr end vehement ent-


gegen, erklärteViktor OrbansFamilien-
ministerin Katalin Novak zumAuftakt
des Gipfels. Seit dem Machtwechsel 2010
hat dasLand die fürFamilienprogramme
eingesetzten Steuergelder verdoppelt.
Dies führte laut Regierungsangaben
zu wesentlich mehr Heiraten.Auch die
Geburtenratekonnte leicht angehoben
werden, von 1,22 auf 1,49 Kinder jeFrau.
2019 wurden neue Hilfsprogramme ange-
schoben.Familien mit mehr als drei Kin-
dernkönnen sich ein grösseresAuto vom
Staat bezuschussen lassen,auch müssen
sie einen Kredit von umgerechnet 33 000
Franken nicht zurückzahlen, sobald das
dritte Kind auf derWelt ist.
Auch das katholischePolen versucht
seit der Machtübernahmevon Jaroslaw
KaczynskisParteiRecht und Gerech-
tigkeit (PiS), die bedenklich niedrige
Geburtenrate anzuheben.Anders als
in Ungarn ist das Kindergeld von um-
gerechnet 125Franken monatlich aber
nicht an eine Arbeitsstelle gebunden.
Auch liess Kaczynskikeine Programme
aufgleisen, die die Berufstätigkeit von
Müttern fördern.DiePiSverfolgt hier
ehereine Politik vonFrau und Herd.
Die ungarischeFamilienministerin
dagegen hob stolz hervor, dass der An-
teil erwerbstätigerFrauen in Ungarn seit
2010 um 24 Prozent gestiegen sei. Sowohl
Ungarn als auchPolen haben wegen der
Abwanderung mit einemgrossen Man-
gel an Arbeitskräften zu kämpfen.
Neben sachlichenWortmeldungen
gab es auch schrilleTöne an derKon-

ferenz. Ministerpräsident Orban wie-
derholte in einerRede vor den Gipfel-
teilnehmern seine Behauptung, dass die
MigrationspolitikvonBrüssel und Ber-
lin darauf hinauslaufe, dass die christ-
liche Bevölkerung Europas dereinst in
der Minderheit sein und die muslimi-
sche die Mehrheit stellen werde. «Es gibt
Kreise in Europa, die aus ideologischen
und anderen Gründen die ganze Bevöl-
kerung auswechseln wollen», so Orbans
Warnung. Dagebe es nur eine Alterna-
tive: mehr Kinder zurWelt bringen oder
aussterben, sagte Orban sinngemäss.
Der serbische Präsident Aleksandar
Vucic und der tschechischeRegierungs-
chef AndrejBabis stimmten ein Klage-
lied auf die schleichende Entvölkerung
ihrerLänder an. «FürFamilien, die sich
für ein drittes Kind entscheiden, müs-
sen wir mehr Unterstützung bereitstel-
len», sagteBabis. Der Bevölkerungs-
rückgang ist in Tschechien etwas weni-
ger ausgeprägt als in Deutschland.Das
Land steht damit am Schluss derRang-
liste jener EU-Staaten mit erheblichen
demografischen Problemen.
Deutschland wolle das Problem sei-
ner schwindenden Bevölkerung aller-
dings mit dem massenweisen Zuzug von
Flüchtlingen beheben, hiessanderKon-
ferenz immer wieder. UngarischePoliti-
ker führten dafür gar die kulturelleViel-
falt an, die es zu erhalten gelte. InsFeld
geführt wurde dazu nicht mehr das christ-
liche Abendland allein, sondern auch das
jüdisch-christlicheErbe Europas.

Trump bremst Macron


Die USA schliessenLockerung der Iran-Sanktionen aus


PETER WINKLER,WASHINGTON

Der amerikanische PräsidentTr ump
hat den Bemühungen seines französi-
schen Amtskollegen Macron zurRet-
tung desNuklearabkommens mitIran
am Donnerstag einen weiteren Dämpfer
verpasst. In einemTelefongespräch der
beiden unterstrichTr ump nach Angaben
desWeissen Hauses, dass eine Locke-
rung der Sanktionen gegenwärtig nicht
infragekomme. Für den iranischen Prä-
sidentenRohani wäreein solcherSchritt
aber eineVorbedingung zurAufnahme
von Gesprächen mit den Amerikanern.

Beide Seiten unnachgiebig


SowohlTeheran als auchWashington
sind zurzeit bemüht,sich unnachgiebig
zu zeigen, und sie verstärken beide den
Druck. Iran verabschiedet sich schritt-
weise vom Atomabkommen,das die
Europäer bewahrenwollen, und die
USA verstärken ebenso sukzessive die
Sanktionen, die sie wieder in Kraft setz-
ten, alsTr ump dem Atomabkommen
denRückenkehrte.Dabeinehmen die
Amerikaner zunehmend ein offenbar
lukratives Geschäft mit Erdöl insVisier,
das die iranischenRevolutionswächter
im Untergrund betreiben.
In dieserWoche setzteWashington
eine Belohnung von bis zu 15 Millionen
Dollaraus für Informationen über die-
ses verdeckteHandelssystem. Gleich-
zeitig wurde bekannt, dass der Iran-
Sonderbeauftragte imAussenministe-
rium, Brian Hook, den indischen Kapi-
tän desTankers «AdrianDarya 1» mit

derAussicht auf eine Belohnung habe
ködern wollen. Dieser hätte im Gegen-
zug das Schiff mit iranischem Öl an
Bord in einen Hafen, in dem es hätte
beschlagnahmt werdenkönnen,steuern
sollen. Der Kapitän lehnte offenbar ab.
Wie Hook in einem Pressegespräch be-
stätigte, wurden sowohl der Kapitän per-
sönlich als auch das Schiff vergangene
Woche unterneue Sanktionen gestellt,
die sich ebenfalls gegen das Ölgeschäft
derRevolutionswächter und ihrer Ab-
leger richten.
Hook hatte in seiner Präsentation
auch eine Botschaft an China parat, das
sich an die amerikanischen Sanktionen
offensichtlich nicht gebunden fühlt, son-
dern nebenSyrien zu den grösstenAb-
nehmern iranischen Erdöls gehört.Laut
iranischen Angaben willPeking auch
280 Millionen Dollarin den iranischen
Ölsektor investieren. Hook unterstrich,
die USA würden alle Aktivitäten, die
vom amerikanischen Sanktionenregime
abgedeckt würden, ohneRücksicht auf
die Akteurebestrafen.

Eskalation mit Risiken


Nach wie vor denken die meisten Be-
obachter inWashington, dass gegenwär-
tigkeiner der Beteiligten eine militäri-
sche Lösung desKonflikts ernsthaft ins
Auge fassen will. Allerdings haftet der
Strategie, eine Situation zuerst eskalie-
ren zu lassen, bevor sie wieder entspannt
werden kann, immer einRestrisikoan.
Hardliner, die ihr eigenes Süppchen
kochen wollen und darum provozieren
möchten, gibt es auf beiden Seiten.
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