Samstag, 7. September 2019 INTERNATIONAL
Das blaue Wunder im roten Knittelfeld
In der Oberst eiermark brache n die Welten der Sozialdemokraten und der Freiheitlichen zusammen – nun versuchen beide den Neuanfang
IVO MIJNSSEN, KNITTELFELD
«Das war ein grösstenteils selbstver-
schuldeter, von aussen unterstützter
Suizid.» Andreas Mölzer ist der heim-
liche Chefideologe derFreiheitlichen
Partei Österreichs (FPÖ), ohne offi-
zielleFunktion,aber mit Flair für heikle
Themen. Derrechte Publiziststammt
aus der Obersteiermark, einem sozial-
demokratisch gep rägten Industrie-
gebiet, mit dem seinePartei ihre grösste
Krise verbindet: den sogenannten Knit-
telfelder Putsch.Ausgerechnet dierote
Hochburg symbolisiert die Anfälligkeit
der «blauen» FPÖ, sich selbst zu zer-
fleischen und zu demontieren. Und seit
dem Ibiza-Skandal ist Knittelfeld wie-
der in aller Munde.
Politisches Erdbeben
Was am 7. September 2002 in der Eisen-
bahnerstadt passierte, erschütterte
Österreichs Politik. Denn die FPÖ sass
damals zusammen mit derkonservati-
ven Volkspartei (ÖVP) inder Regie-
rung. Die unterJörg Haider zurrechts-
populistischen Protestbewegung ge-
formteTruppe tat sich schwer. Zwar
hatte Haider das Steuer ehersalonfähi-
gen nationalliberalenPolitikern über-
geben, doch die Spannungen zwischen
dem Volkstribun und den freiheitlichen
Ministern stiegen.
Wegen eines Streits um eine verscho-
bene Steuerreform derRegierung und
den Kauf vonAbfangjägern kam es zum
Aufstand: Exponenten aus der zweiten
Reihe forderten einen Sonderparteitag.
Vizekanzlerin Susanne Riess-Passer von
der FPÖ drohte mit ihremRücktritt,
worauf sie sich mit Haider auf einen
Kompromiss einigte. Doch er spielte
mit gezinkten Karten,und die von ihm
in Knittelfeld versammeltenRebellen
zerrissen dieVereinbarung – im wahrs-
ten Sinne desWortes. Die FPÖ-Minis-
ter traten amTag darauf zurück,Kanzler
Wolfgang Schüssel rief Neuwahlen aus,
in denen seineÖVP triumphierte. Die
Freiheitlichen stürzten ab.
Die beiden Parteien setzten die
Regierungskoalition zwar fort,doch die
Spaltung der stark geschwächten FPÖ
war nicht mehr aufzuhalten. 2005 grün-
dete Haider eine eigenePartei.DieFrei-
hei tlichen brauchtenJahre, ehe sie unter
Heinz-Christian Strache mit einem
pointiert nationalistischen und fremden-
feindlichenKurs zu alter Stärke zurück-
fanden. Mölzer,der in Knittelfeld ins
Gymnasium ging, gehörte zur Gruppe
um Strache.Schüssel bezeichnete ihn
gar als einen der Drahtzieher des Put-
sches von 2002, was der heute 66-Jäh-
rige abstreitet.Auf das Kulturhaus Knit-
tel feld fiel dieWahl zufällig, da dieVer-
sammlung kurzfristig organisiert wurde.
Doch der Zufall enthüllt eine tiefere
Wahrheit,denn in der Steiermark finden
sich viele Erklärungen für denAufstieg
der FPÖ. Die sogenannte Mur-Mürz-
Furche wurde früh industrialisiert und
war nach dem ZweitenWeltkrieg ein
Zentrum der verstaatlichten Industrie.
MölzersVater war Arbeiter im Stahl-
werk von Donawitz.Die nationalsozialis-
tischePrägung vonTeilen derFamilie sei
in derRegion nicht ungewöhnlich gewe-
sen, meint Mölzer: «Die Arbeiter waren
oft Bauernsöhne, das Nationale war des-
halb stark verbreitet. Diese subkutanen
Prägungen halfen später der FPÖ.»
Das System SPÖ
Bis in die achtzigerJahre dominierte
jedoch die SozialdemokratischePartei
(SPÖ), die in den Städten teilweise bis
heuteabsoluteMehrheiten hält. Michael
Verderber, der in den sechzigerJahren
nach Knittelfeld zog,umbei den Öster-
reichischen Bundesbahnen (ÖBB) zu
arbeiten, erinnert sich, wie man ihm
sofort das SPÖ-Beitrittsformular vor-
legte: «‹Wer unterschreibt,kann zu uns
kommen,wenn erwas braucht, die ande-
ren nicht.› So lief das.» Die allmächti-
ge n Funktionäre entschieden auch über
Wohnungen und Dienstleistungen.
Doch in den siebziger und achtzi-
ger Jahren kam dasSystem SPÖ durch
Preiseinbrüche auf dem Stahlmarkt,
eine globaleRezessionund eineReihe
von Skandalen insWanken. In Industrie-
gebieten wie der Obersteiermark stieg
die Arbeitslosigkeit, währendTeile der
Bevölkerung wegzogen. Haider machte
Karriere, indem er die Unzufrieden-
heit über das «System Österreich» poli-
tisch bewirtschaftete. Zu denKernwäh-
lern der FPÖ aus dem nationalsozialis-
tischen Milieu gesellten sich die Mo-
dernisierungsverlierer. Kam die SPÖ
bei der Nationalratswahl1979 in Knit-
telfeld noch auf 59,9 Prozent der Stim-
men,so waren es zwanzigJahre später
nurmehr 41,3. Die FPÖ erhöhte ihren
Anteil hingegen um über 20 Prozent-
punkte auf 26,3.
Die Freiheitlichen schafften es, sich
nach dem Absturz von 2002 wieder zu
etablieren – in einerRegion, die sich
seither stark gewandelt hat. Knittelfeld
sieht aus wie viele Kleinstädte, nicht be-
sonders charmant und mit einemoffen-
sichtlichen Verkehrsproblem.Doch
rund um den erneuerten Hauptplatz
liegt eine kleineFussgängerzone, und
das Kulturhaus, in dem sich einst die
FPÖ traf, ist ein moderner Glasbau. Die
Wirtschaft hat sich erholt, die Abwan-
derung wurde gestoppt. EndeAugust
erfolgte die Grundsteinlegung für eine
neue Lehrlingswerkstätte der ÖBB auf
ihrem teilweise etwas verwilderten Be-
triebsgelände in Knittelfeld, und vor
drei Jahren bauteVoestalpine das erste
neue Stahlwerk Europas in dreissigJah-
ren in Donawitz. Red Bull hat auf dem
Österreich-Ring im benachbarten Spiel-
berg mit Millioneninvestitionen dieFor-
mel 1zurückgebracht.
KeinRostgürtel mehr
Zu Recht nehmen die Sozialdemokra-
ten für sich in Anspruch, an dieser Sta-
bilis ierung bedeutenden Anteil gehabt
zu haben. «Mir wäre als Kind nie auf-
gefal len, dass ich imRostgürtel Öster-
reichs lebe», erzählt Maja Höggerl,Vor-
sitzende der SozialistischenJugend (SJ)
Steiermark und SPÖ-Kandidatin bei der
Nationalratswahl im September. Die
Tochter einesArbeiters und einer Haus-
frau stammt aus Zeltweg,einer weiteren
Gemeinde bei Knittelfeld.Sie studiert in
Graz. Ohne die Sozialdemokratie wäre
ihr Lebensweg nicht möglich gewesen,
ist die 20-Jährige überzeugt.
Höggerl freut sich darauf, nach dem
Studium wieder in die Obersteiermark
zu ziehen; die Wohnungen seien güns-
tig er als in derLandeshauptstadt, und
die S-Bahn-Anbindung an die Zentren
habe sich stark verbessert. Umgekehrt
pendeln viele Angestellte der Indus-
triebetriebe mit demAuto. Ihr Arbeits-
umfeld hat sichradikal verändert: Die
Fliessbandjobs wichen derAutomatisie-
rung, die Facharbeiter sind hochspeziali-
siert.Auch deshalb hat sich die Zahl der
Studierenden an der 30 Kilometer von
Knittelfeld entfernten Montanuniversi-
tät L eobenseit derJahrtausendwende
mehr als verdoppelt. DieVernetzung
von Industrie undWissenschaft ist ein
wichtiger Standortvorteil.Der moderni-
sierungskritischen FPÖ hat das nichtge-
schadet. Die Universität ist eine Hoch-
burg der schlagenden Burschenschaften,
der Personalreserve derFreiheitlichen.
Die Bevölkerung in der Obersteiermark
ist heute sozial wie kulturell vielfältiger.
Die grosseFrage für die SPÖ lautet,
ob sie diese neue Entwicklung inWahl-
gewinne ummünzen kann. Die Aus-
gan gslage ist nicht sehr günstig: Zum
einen trübt der Handelsstreit mit den
USA die wirtschaftlichenAussichten,
gerade in der Stahlindustrie.Zum ande-
ren wirkt die steirischeLandesregierung
aus SPÖ undÖVP zerstritten; Letztere
will ihre guten Umfragewerte nutzen
und hat für einen vorgezogenen Urnen-
gang gestimmt, der Ende November
stattfinden wird.
Schliesslichräumen auch SPÖ-Ver-
treter ein,dassregionaleThemen gegen-
wärtig wenigAuswirkungen auf dieWahl
hätten. Diese steht ganz im Schatten der
Entwicklungenauf dem nationalenPar-
kett , und dort tut sich die Spitzenkan-
didatinPamelaRendi-Wagner schwer.
Viele Österreicher nehmen es ihr übel,
dass sie im Mai massgeblich anKurz’Ab-
wahl beteiligt war.Trifft ein,was die Um-
fragewerte vorhersehen lassen,droht der
SPÖ ein historischer Absturz auf zwan-
zig Prozent –auch in der Steiermark.
Die Sozialdemokraten wollen ihre
an die FPÖ verlorenenWähler mit der
Betonung von sozialer Gerechtigkeit,
Volksnähe und Einigkeit zurückholen.
Dass der obersteirische Spitzenkandi-
dat Max Lercher bei derWahl vonRen-
di-Wagner zurParteichefin letztesJahr
unter Nebengeräuschen als Bundes-
geschäftsführer abgesetzt wurde, zeigt
aber, wie schnell innerparteiliche Span-
nungen an die Oberflächekommenkön-
nen. Offiziell stellt sich Lercher hinter
Rendi-Wagner.Die Obersteiermark
soll für die SPÖ-Politik einVorbild
sein: «Die Bürgermeister hier sind die
Schutzmacht der Bevölkerung. Sie sind
greifbar und kümmern sich.»
Die FPÖ hält sich – trotz «Ibiza»
Im Gegensatz dazu sei die FPÖ eine
Partei, die gewählt werde, weil manPer-
sonen wie Haider oder Strache wolle, ist
Lercher überzeugt. Ihr prominentester
Vertreter in der Obersteiermark,Wolf-
gang Zanger, geht im Gespräch nur kurz
auf lokale Projekte ein und betont, er
stehe für eine «Politik mitEhre,Anstand
und Moral». Mit solchenWorten warb
auch Strache für sich und schaffte es,
durch sein Charisma, denAufbau einer
parallelen Medienwelt und die Bespie-
lung des Ausländerthemas, befeuert
durch die Flüchtlingskrise von 2015, eine
Stammwählerschaft aufzubauen.
Diese scheint ihm auch seineKor-
ruptionsanfälligkeit zu verzeihen, die
im Ibiza-Video ans Lichtkam. Die FPÖ
wird zwar verlieren, doch ein Einbruch
wie nach 2002 dürfte ausbleiben.«Wir
hätten natürlich gern ein zweitesKnit-
telfeld», erklärt Maja Höggerl inAnspie-
lung auf Spekulationen in den Medien
über eine erneute Implosion derPartei.
Ein Kollege meint, im Stadtrat von Knit-
telfeld witzle man darüber, man könne
der FPÖ gern erneut dasKulturhaus an-
biet en für einenParteitag.
«SchwüleWunschträume der FPÖ-
Gegner» seien das, findet Andreas Möl-
zer. Die Partei sei geeint. Doch die poli-
tische Zukunft und die Uneinsichtig-
keit Straches hängen wie einDamo-
klesschwert über derPartei und führen
vermehrt zu öffentlichen Unmutsbekun-
dungen. Die FPÖ-Führung will sich
durch die Distanzierung von Strache er-
neut alsKoalitionspartnerin derÖVP
anbieten. Sie weiss aber auch, dass sie
dies wohl aus einer geschwächtenPosi-
tion heraus tun müsste. Mölzerräumt
ein, der Preis einer zukünftigenRegie-
rungsbeteiligung sei die «Gretchen-
frage» – er hat nichtvergessen, wie die
Partei nach dem Knittelfeld-Putsch 2002
in eine neueRegierung mit derÖVP
«kroch». Sollten dieVerluste amWahl-
tag doch grösser ausfallen, als sich dies
die FPÖ erhofft, werden die Diskussio-
nen darüber, ob ein Gang in die Oppo-
sition erfolgversprechender ist, wieder
aufflammen.Auch dieses Dilemma ist
der Partei aus Knittelfeld bekannt.
September 2002:Jörg Haider spielt am Sonderparteitag in Knittelfeld mit gezinkten Karten und reisst die FPÖ in den Abgrund.EPA
100 Kilometer NZZVisuals/efl.
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