Die Welt am Sonntag Kompakt - 08.09.2019

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52 REISEN WELT AM SONNTAG NR. 36 8. SEPTEMBER 2019


infach mit dem Fahrrad durchs Dorf fahren,
üüüber die Werra-Brücke, dann rechts dieber die Werra-Brücke, dann rechts die
Uferböschung entlang. So geht das heute, 30
Jahre nach dem Mauerfall. Ein Fluss, ein
steinerner Übergang, nicht weit vom geogra-
fffischen Mittelpunkt Deutschlands, tiefe Provinz imischen Mittelpunkt Deutschlands, tiefe Provinz im
Mittelgebirge. All das auf asphaltiertem Radweg, mit
AAAussicht auf ein Weizenbier in der komfortablen Rad-ussicht auf ein Weizenbier in der komfortablen Rad-
ler-Unterkunft am Abend, ganz egal, auf welcher Fluss-
seite, ob in Hessen oder Thüringen.

VON ULLI KULKE

Damals, in den 60er-Jahren, saßen an dieser Bö-
schung westdeutsche Jugendgruppen und sangen
„Kein schöner Land ...“, „Wildgänse rauschen durch
die Nacht“ und ähnlich unverfängliches bis verfäng-
liches Liedgut, immer feste gegen die Kommunisten
oben auf dem Wachturm. Der stand am Werra-Ufer
gegenüber, am Rande des Dörfchens Lindewerra. In
dem alle Stunden mal irgendeine Gestalt von einem
Haus ins andere huschte, gerade noch zu erkennen
durch den engmaschigen Gitterzaun, hinter dem
Stumpf einer gesprengten Brücke, auf dem schon Bü-
sche wucherten. Drüben eine nahe, aber fremde Welt,
kein Geräusch drang von dort herüber. In der Erinne-

rung ein alter Schwarz-Weiß-Film, ein Stummfilm.
Heute läuft hier ein Farbfilm. Die Brücke aus Sandstein,
zzzwischen Nordhessen und Lindewerra in Thüringen,wischen Nordhessen und Lindewerra in Thüringen,
ist wieder befahrbar, durch Getreidefelder brummen
die Mähdrescher, die Werra dazwischen ist nur noch
blau, ohne die weißen Schaumberge, die damals die
Kaliindustrie der DDR flussabwärts in den Westen
schickte. Der breite Todesstreifen, der sich dahinter bis
vor 30 Jahren den Berg hinaufzog wie eine Skipiste mit
Flutlicht, ist heute zugewachsen. Die Teufelskanzel,
der sagenumwobene Aussichtspunkt auf einer Felsklip-
pe, hat ihren grünen Laubwald-Teppich zurück. Man
muss sie suchen, die Zeugnisse der Teilung.
Das moderne Tourenrad läuft nun, trotz Gepäcks für
zzzwei Wochen, praktisch von allein, bei fernen Erinne-wei Wochen, praktisch von allein, bei fernen Erinne-

rungen an die quälend langen Rückmärsche, damals
mit zwölf Jahren auf demselben Weg, nach dem „Kein
schöner Land“-Gesang. Zur Jugendburg Ludwigstein
geht es damals wie heute, sie thront auf dem Berg wie
die Kinderzeichnung einer Burg-Ikone. Der berühmte
ZZZweiburgenblick, auf Briefmarken abgebildet, hübenweiburgenblick, auf Briefmarken abgebildet, hüben
Ludwigstein, drüben die Ruine Hanstein, war ein be-
kanntes Symbol der deutschen Teilung – heute ist er ei-
nes der Einheit.

AGENTENSCHLEUSE IM DICKICHTIn eigenartiger
VVVerbindung standen sie schon früh. Im thüringischenerbindung standen sie schon früh. Im thüringischen
Hanstein hatten die Raubritter gehaust, der Ludwig-
stein gegenüber in Hessen wurde vom Landgrafen er-
richtet, um den Handel durchs Werratal vor den Bandi-
ten drüben zu schützen. In den 1980ern haben in den
Gewölben der Burg Hanstein dann die Stasi und Karl-
Eduard von Schnitzler geheime Partys mit West-Whis-
kkky im Ost-Sperrgebiet gefeiert.y im Ost-Sperrgebiet gefeiert.
Die sanfte Hügeltour entlang der Werra liegt etwa
auf halber Strecke des deutsch-deutschen Radweges,
der sich von der Ostsee bis zur tschechischen Grenze
zieht, immer am „Grünen Band“ entlang, den Natur-
räumen am früheren Todesstreifen. Hier verläuft er
durch Mitteldeutschland, ein abgelegenes Terrain, aber
mit illustrer Historie. Ganz in der Nähe des Hansteins

PA/ DPA

/ KLAUS-DIETMAR GABBERT

Jahre


FREIHEITFREIHEITFREIHEIT


Ein schöner Land


in dieser Zeit


Wo bis vor 30 Jahren kilometerlange


Zäune die Natur verschandelten, verläuft


heute eine fabelhafte Fernradroute


E

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