WELT AM SONNTAG NR.36 8.SEPTEMBER2019 REISEN 53
etwa verbarg sich auch eine der versteckten Agenten-
schleusen, die „Stasiröhre“, im Dickicht. Nach der
WWWende, als sie publik wurde, wurde klar, warum hier inende, als sie publik wurde, wurde klar, warum hier in
der Gegend im Dunkeln immer mal schwarze Volvo-
Funktionärs-Limousinen mit getönten Fenstern vor-
beigerollt waren.
Über mehr als 1100 Kilometer folgt der gesamte
Radweg der ehemaligen Grenze zwischen Schleswig-
Holstein, Niedersachsen, Hessen und Bayern auf der
westlichen sowie den neuen Bundesländern Mecklen-
burg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Thüringen und
Sachsen auf der östlichen Seite. Er ist ein Abschnitt
des 10.400 Kilometer langen Radwegs Iron Curtain
Trail, der entlang des gesamten ehemaligen Eisernen
Vorhangs durch Europa verläuft, vom Arktischen Oze-
an bis zum Schwarzen Meer (mehr dazu im Interview,
siehe Kasten).
AAAuf dem deutschen Abschnitt brettebene Streckenuf dem deutschen Abschnitt brettebene Strecken
im Norden – an der Ostsee und im Wendland, wo der
Wind den Glücklichen vor sich herschiebt und den
Pechvogel ausbremst. Dagegen anspruchsvolle Berg-
etappen im Süden, über die kahlen Kuppen der Rhön
etwa, wo man sieht, was man geleistet hat und dies per
Selfie aller Welt zeigen kann.
Anerkennung ist dem gewiss, der im Harz den Abste-
cher auf den Brocken einschiebt – unter
Umständen im Wortsinn, denn mit
schwerem Gepäck ist die Stre-
cke nur für Konditionsstarke
durchgehend im Sattel zu
bewältigen. Mit Stei-
gggungen bis zu 13 Pro-ungen bis zu 13 Pro-
zent ist sie stellen-
weise steiler als die
Brennerstraße
üüüber den Alpen-ber den Alpen-
hauptkamm. Eher
also etwas für
Rennrad- oder E-
Bike-Fahrer. Wer
es nicht so genau
nimmt, kann den
Gipfel mit der
Dampf-Bimmel-
bahn erklimmen,
das Rad darf mit an
Bord.
Bei schönem Wetter
ist der 1141 Meter hohe
Brocken die Krönung der
Strecke, bei freiem Himmel
mit Rundumblick, die Norddeut-
sche Tiefebene zu Füßen. Dieser mar-
kante, baumlose Gipfel ist mit der Geschich-
te der deutschen Teilung eng verwoben. Kein anderer
Berg konnte beim Blick von hüben nach drüben so sehr
das Gefühl der verlorenen Einheit erzeugen. Schüler
aus ganz Norddeutschland, die von ihren Lehrern nach
Torfhaus, unten gleich gegenüber, geführt wurden und
dort unter Tannen die Geschichten von Heine und
Goethe auf dem Brocken vortragen mussten, können
ein Lied davon singen. Obwohl, das muss erwähnt wer-
den, in den 80er-Jahren im Westen nur wenige noch an
eine Wiedervereinigung glaubten. Heute strampelt der
Heine-Fan mit den – gewichtslosen, da heruntergelade-
nen – Gedichten ganz hinauf, um seinen Aufenthalt
oben zu kultivieren. Bei Wolken passen die Zeilen per-
fffekt, die dem Schriftsteller gern als angeblicher Eintragekt, die dem Schriftsteller gern als angeblicher Eintrag
in sein Gipfelbuch angedichtet werden: „Viele Steine /
Müde Beine / Aussicht keine / Heinrich Heine“.
Ihre Freude an der Teilung hatten an diesem Ort
auch die Spione der Stasi, deren Apparate vom Brocken
aus Autotelefonate bis nach Bonn abhören konnten.
AAAufgezeichnet wurde 1975 an dieser Stelle wohl auchufgezeichnet wurde 1975 an dieser Stelle wohl auch
das Gespräch zwischen CDU-Chef Helmut Kohl und
Generalsekretär Kurt Biedenkopf, das publik und we-
gen Schmähungen über Franz-Josef Strauß zum Skan-
dal wurde.
WWWer von Norden kommt und mit dem Rad dener von Norden kommt und mit dem Rad den
Harz überwunden hat, passiert bei der Fahrt gen Sü-
den keine flachen, bequemen Abschnitte mehr. Die
hessischen Berge rufen nun, dann die fränkischen, am
Ende die vogtländischen. Bevor es aber die Rhön hi-
naufgeht, kommt der brisanteste Abschnitt des gan-
zen Eisernen Vorhangs: der Fulda Gap, wie die Nato
die militärisch interessante, weil relativ leicht pas-
sierbare Lücke zwischen den Bergen von Harz und
Thüringer Wald nannte, mit dem „Observation Point
Alpha“. Von hier, im Westen des Warschauer-Pakt-
Gebiets, hätten dessen Truppen den Einmarsch in die
Bundesrepublik gestartet, Richtung Hochfinanz nach
Frankfurt und Richtung Bundeshauptstadt nach
Bonn. Das Museumsgelände in den damaligen Anla-
gen der US-Streitkräfte bringt die kritischen Zeiten
mit den Atomkriegsszenarien, Radaranlagen, Bun-
kern für Jagdbomber, Gullys für Kernsprengsätze zu-
rück ins Gedächtnis. Hier führt der Radweg mitten
durch den Kalten Krieg.
INSTALLATIONEN UND GESCHICHTEN„Point Al-
pha“ ist nur eines von Dutzenden Grenzland-Museen,
zählt aber zu den größten und professionellsten, ge-
meinsam mit dem Brockenhaus und der Gedenkstätte
Marienborn bei Helmstedt. Dort kann der Grüne-
Band-Radler auf dem riesigen Areal der Transit-Kon-
trollstelle heute hinter die Kulissen jener Grenzüber-
gänge schauen, an denen er vor der Wende im Auto
bangte, scharf kontrolliert wurde und
üüüberall geheimnisvolle Augen undberall geheimnisvolle Augen und
Ohren vermutete, die in seinen
Kofferraum oder sein Leben
hineinspionierten.
AAAllerdings sind auchllerdings sind auch
die vielen kleinen Mu-
seen an der Strecke
sehenswert, oft un-
terhalten von Ver-
einen und Ehren-
amtlichen, mit
liebevoll zur
Schau gestellten
Grenz-Installa-
tionen, Anden-
ken, Modellen
der Zäune, Grä-
ben, Hundelauf-
drähten, dazu Ge-
schichten, die die je-
weiligen Abschnitte
der „Zonengrenze“
schrieben. Man wird dort
empfangen von Menschen,
die diese Geschichten erlebt
haben – Fluchten, Wildwechsel,
Tragisches und Komisches.
In Schnackenburg an der Elbe etwa, wo
der Radfahrer den Grenz-Lehrpfad sogar ein paar Ki-
lometer befahren kann. Oder, nahebei, in Göhr bei
Schnega im Wendland, wo der Museumsinhaber als
leidenschaftlicher Fotograf in einer der gottverlas-
sensten Gegenden das Grenzleben zwischen den
Fronten festhielt. Ein Sonderfall ist das Museum in
Mödlareuth: Ein winziges Dorf, das zum Teil in Bay-
ern und zum Teil in Thüringen liegt, war von einer
Mauer wie in Berlin zerschnitten, zerrissene Famili-
en, geteilte Straßen, Grundstücke und Häuser waren
hier Alltag. Gezeigt werden hier nicht nur Mauer und
Stacheldraht – immerhin sind 700 Meter Betonsperr-
mauer, der Metallgitterzaun und ein Beobachtungs-
turm im Original erhalten geblieben. Vor Augen ge-
ffführt werden auch die gesellschaftlichen Folgen derührt werden auch die gesellschaftlichen Folgen der
Teilung, indem zum Beispiel Zwangsaussiedlungen,
Alltag an der Grenze und die Friedliche Revolution
thematisiert werden.
Die Strecke ist durchweg kommod befahrbar, wobei
sie meist abwechselnd zwischen Ost und West verläuft,
manchmal auch unmittelbar auf dem alten Todesstrei-
fffen. Den hat sich die Natur weitgehend zurückerobert –en. Den hat sich die Natur weitgehend zurückerobert –
so nachhaltig, dass die innerdeutsche Grenze heute, 30
Jahre nach ihrer Überwindung, an vielen Stellen gar
nicht mehr sichtbar ist. Wären nicht die Schilder, die
Gedenkstätten und die Erinnerungen, man könnte
glatt denken, dass hier nie etwas anderes als friedliche
Landschaft gewesen ist.
Kassel
GrenzlandmuseumGrenzlandmuseumGrenzlandmuseumGrenzlandmuseumGrenzlandmuseumGrenzlandmuseumGrenzlandmuseumGrenzlandmuseumGrenzlandmuseumGrenzlandmuseumGrenzlandmuseumGrenzlandmuseum
Schnackenburg Schnackenburg Schnackenburg
Gedenkstätte Gedenkstätte
Deutsche Teilung Deutsche Teilung Deutsche Teilung Deutsche Teilung Deutsche Teilung Deutsche Teilung Deutsche Teilung Deutsche Teilung Deutsche Teilung Deutsche Teilung Deutsche Teilung Deutsche Teilung Deutsche Teilung Deutsche Teilung Deutsche Teilung
Marienborn Marienborn Marienborn Marienborn
Grenzmuseum
Sorge
Zonengrenzmuseum
Helmstedt Helmstedt
Wend-Wend-
land
„Point Alpha”
WittenbergeWittenberge
Elbe
Ostsee
Magdeburg
Berlin
HamburgHamburgHamburgHamburgHamburgHamburg
Lübeck
Erfurt
Rhön
Bayreuth
HannoverHannoverHannoverHannover
Hanstein
Ludwigstein
Lindewerra
HarzHarzHarz
BrockenBrockenBrockenBrockenBrockenBrocken
Magdeburg
Brocken
Magdeburg
Brocken
Magdeburg
Brocken
Magdeburg
Mödlareuth
Thüringer
Fulda Wald
Grünes BandGrünes BandGrünes BandGrünes BandGrünes BandGrünes BandGrünes BandGrünes BandGrünes BandGrünes BandGrünes BandGrünes BandGrünes BandGrünes BandGrünes BandGrünes Band
TSCHECHIEN
DEUTSCHLANDDEUTSCHLAND
�� km
Stumme Zeugen Ehemaliger DDR-Wachturm im
Grenzmuseum Sorge in Sachsen-Anhalt
Michael Cramer, 70, zählt zu den erfolgreichsten
Fahrrad-Förderern unter den deutschen Politi-
kern. Der leidenschaftliche Radfahrer mit Grünen-
Parteibuch war entscheidend an der Entstehung
der drei großen Grenzlandradwege beteiligt: Berli-
ner Mauer-Radweg, Grünes Band durch Deutsch-
land, Iron Curtain Trail durch Europa.
VON ULLI KULKE
WELT AM SONNTAG: Wie legt man einen
10.000 Kilometer langen Radweg an?
Michael Cramer: Planung und Umsetzung des
Iron Curtain Trail haben die jeweiligen Länder
weitgehend selbst erledigt. Ich hatte 2005, ein
Jahr nach meinem Einzug ins Europaparlament,
dort einen Antrag
auf Unterstützung
gestellt und gleich
eine große Mehr-
heit erhalten. Die
EU-Kommission
hielt daraufhin
WWWorkshops mit al-orkshops mit al-
len 20 betroffenen
Ländern ab. Unsere
VVVorgaben waren:orgaben waren:
möglichst dicht an
der Grenze, diese
möglichst oft kreu-
zen, gute Fahrrad-
bedingungen und
die Strecke an den
historischen Zeug-
nissen des Eisernen
VVVorhangs vorbeiführen. Das Ganze ist jetzt derorhangs vorbeiführen. Das Ganze ist jetzt der
Fernradweg „Euro-Velo 13“.
Wenn man am Polarkreis losradelt, dem nörd-
lichsten Startpunkt des Iron Curtain Trail, fährt
man dann wochenlang durch menschenleere
Wildnis?
Wer will, kann es so haben. Mein Sohn hat mit
zwei Freunden nur im Zelt geschlafen und drei Ta-
ge keinen anderen Menschen gesehen. Wo erlebt
man das schon? Es gibt aber auch Hotels, meist im
Abstand von 60, 70 Kilometern. Und dort fährt
man gut, es ist flach, asphaltiert und abends lange
hell.
Aber nur im Sommer, ansonsten ist es im Nor-
den sehr lange dunkel.
AAAb Mitte Mai geht es. Wenn Sie früher loswollen,b Mitte Mai geht es. Wenn Sie früher loswollen,
müssen Sie im Süden am Schwarzen Meer begin-
nen.
Wie rücksichtsvoll sind unterwegs die Autofah-
rer?
Am besten ist es in Finnland. Dort behandeln sie
die Radelnden wie Elche, rechnen mit allem und
fffahren immer extrem langsam an ihnen vorbei. Amahren immer extrem langsam an ihnen vorbei. Am
gefährlichsten ist es in Russland, auf der Schnell-
straße bei Wyborg im Norden. Und in Rumänien an
einer Strecke entlang der Donau. Da fährt parallel
ein Zug, aber der nimmt keine Räder mit.
Das wäre doch aber geschummelt.
Bei der gefährlichen Straße dort würden Sie das
auch vorziehen.
TTTage ohneage ohne
Menschen
Wie man den „Iron Curtain
Trail“ schafft und genießt
Über GrenzenMichael
Cramer, 70, hat sich dafür
eingesetzt, dass der Berli-
ner-Mauer-Radweg auf
Europa übertragen wurde
GERHARD WESTRICH/ LAIF
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