SEITE 14·SAMSTAG, 7. SEPTEMBER 2019·NR. 208 Feuilleton FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG
N
achdem Christoph von Doh-
nányi am 17. September 1977
an der Hamburgischen Staats-
oper seine erste Vorstellung
als Chefdirigent geleitet hatte
- Giuseppe Verdis „Un ballo in masche-
ra“ mit Plácido Domingo –, lobte ein Mit-
glied aus dem Kreis der Förderer den ge-
lungenen Einstand und fügte mit hanseati-
schem Überlegenheitsgefühl hinzu, dass
Verdi-Aufführungen folgen mögen, die
„noch mehr unter die Haut gehen“. Der
Dirigent lächelte kühl und fragte, ob das
vielleicht auch „eine Frage der Haut sein
könnte“. Anders als viele leicht erregbare
Kollegen war der Bruder des Politikers
Klaus von Dohnányi immer in der Lage,
in der Hitze des Gefechts seine Gedanken
auf Eis zu legen; und welche bedeutende
Karriere hätte sich je im warmen Klima
von eitel Harmonie vollzogen?
Christoph von Dohnányi wurde in Ber-
lin als Sohn des Juristen Hans von Dohná-
nyi und seiner aus der Bonhoeffer-Fami-
lie stammenden Frau Christine geboren.
Das Studium von Komposition, Klavier
und Dirigieren an der Münchner Hoch-
schule für Musik, abgeschlossen mit der
Auszeichnung des Richard-Strauss-Prei-
ses, setzte er an der Florida State Universi-
ty fort – bei seinem Großvater Ernst von
Dohnányi, der, gleich Béla Bartók und
Zoltán Kodály, zum Pantheon der ungari-
schen Komponisten gehörte. Einladun-
gen in die Vereinigten Staaten durch Leo-
nard Bernstein, an dessen Institut in Tan-
glewood er bei Seymour Lipkin studiert
hatte, schlug er aus. 1953 wurde er mit 24
Jahren Assistent von Georg Solti an der
Frankfurter Oper, deren Leitung er 1968
übernehmen sollte. In der Zeit davor hat-
te er mit 27 Jahren als jüngster General-
musikdirektor die Leitung der Oper Lü-
beck, danach die der Oper Kassel und zwi-
schen 1964 und 1969 die des Kölner Rund-
funk-Sinfonie-Orchesters übernommen.
1965 dirigierte er in Berlin die Urauffüh-
rung von Hans Werner Henzes „Der jun-
ge Lord“, ein Jahr später in Salzburg die
der „Bassariden“.
Die Frankfurter Oper, bei seinem An-
tritt ein „Trümmerhaufen“ (so Kulturde-
zernent Hilmar Hoffmann), wurde unter
seiner Leitung zum Zentrum eines experi-
mentierfreudigen Musiktheaters, das idea-
le Spielfeld für Regisseure wie Achim
Freyer, Hans Neuenfels, Peter Mussbach
und Jürgen Flimm. Damals kam John Neu-
meier als Ballettchef nach Frankfurt, zu-
gleich hatte Dohnányi mit dem Engage-
ment von Sängerinnen wie Agnes Baltsa,
Ileana Cotrubaş, Lilian Sukis und Júlia Vá-
rady eine glückliche Hand. Bei der Pla-
nung des Repertoires folgte er der Maxi-
me, dass ein Dirigent oder ein Intendant,
der sich nur auf den „Erfolgssessel setzt,
verantwortungslos handelt“. Er kam zu
dem „schlechten Ruf“, sich für die Musik
der Zweiten Wiener Schule einzusetzen.
Seine Zeit an der Hamburger Staats-
oper, verbunden mit der Leitung des Phil-
harmonischen Staatsorchesters, brachte
viele bedeutende Erfolge ebenso wie leidi-
ge Dissonanzen mit dem Orchester, dem
der Ehrgeiz des gleichfalls von Dohnányi
geleiteten Cleveland Orchestra – „second
to none“ zu sein – fremd war. Die Leitung
des durch George Szell berühmt geworde-
nen Orchesters zu übernehmen war die
Erfüllung des Traums eines vom Opernbe-
trieb genervten Dirigenten. Als sein
Name vor den Proben zu seinem Debüt-
konzert am 1. Dezember 1981 den Musi-
kern genannt wurden fragten sie: „Chris-
toph von... Who?“ Dann fanden sie in
ihm einen Dirigenten, der sich „mit der
Tradition des Orchesters, insbesondere
mit dem strengen Arbeitsethos“ identifi-
zierte. Das Orchester hat er zwischen
1984 und 2002 nicht nur mit Erfolg gelei-
tet, sondern auch mit der Weitsicht eines
unvergleichlichen Programmplaners. Er
engagierte Gastdirigenten, um wenig ge-
spielte Werke aufzuführen, und holte
Pierre Boulez nach vierzehnjähriger Ab-
wesenheit nach Cleveland zurück. Als Ge-
rard Mortier, zuvor Dohnányis Assistent
in Frankfurt und Hamburg, die Leitung
der Salzburger Festspiele übernahm, kün-
digte er die Zusammenarbeit des Festi-
vals mit dem Cleveland Orchestra an. Die
Aufführung von Richard Strauss’„Salo-
me“ (Regie: Luc Bondy) wurde auch für
den zunächst salzburgisch-zynisch ange-
feindeten Mortier zum entscheidenden
Erfolg. Viele CD-Aufnahmen zeigen,
dass Dohnányi das spieltechnische Ni-
veau des Orchesters, das reflexartig auf
die Arbeit unter George Szell zurückge-
führt wird, gesteigert hat. „Aber wenn
uns ein besonders gutes Konzert gelun-
gen ist“, sagte er ohne Bitterkeit, „wird
George Szell gerühmt.“
Seit 1997 war Dohnányi zehn Jahre
lang Principal Conductor des Londones
Philharmonic Orchestra, von 1998 bis
2000 Leiter des Orchestre de Paris, von
2004 bis 2010 des NDR Sinfonieorches-
ters – und weiterhin ist er regelmäßig zu
Gast in New York, Boston, Chicago, Phila-
delphia, Los Angeles, Washington oder
Berlin. Am Sonntag wird einer der heraus-
ragenden deutschen Dirigenten, der nie
ein Star sein wollte, neunzig Jahre alt. In
Hamburg soll seine Arbeit fortgesetzt wer-
den: durch den neuen Chefdirigenten des
NDR Elbphilharmonie Orchesters Alan
Gilbert, der in Cleveland sein Assistent
war. JÜRGEN KESTING
Erlauben Sie mir, Ihnen einen in moder-
nen Demokratien kaum vorkommenden
Begriff vorzustellen: die „Wahlökono-
mie“. Dabei handelt es sich um ein Wirt-
schaftsmodell, das in Ländern mit „fort-
geschrittener Demokratie“ wie der Tür-
kei quasi Dauerkonjunktur hat. Wenn ge-
gen Ende ihrer Amtszeit der Wahltermin
näher rückt, starten Regierungen regel-
mäßig die Wahlökonomie. Um aufs
Neue als Sieger hervorzugehen, setzen
sie Praktiken um, die nichts mit wirt-
schaftlicher Logik zu tun haben, den
Wählern aber wunderbar Sand in die Au-
gen streuen. Für Wahlgeschenke ver-
schleudern sie den Haushalt, der sich aus
Steuergeldern zusammensetzt. Steuer-
strafen werden erlassen, Preis-
erhöhungen werden auf die Zeit nach
den Wahlen verschoben. Die Regierun-
gen verkünden Ermäßigungen, die
jeweils bis zum Wahltag gültig sind.
Es werden Grundsteine für Projekte
gelegt, die nie vollendet werden sollen,
und Förderprogramme zuhauf ange-
kündigt.
Seien wir aber nicht ungerecht, diese
Praxis ist keine Erfindung Erdogans. Al-
lerdings gehörte die vor den Kommunal-
wahlen im März eingesetzte Wahlökono-
mie zu den effektivsten der politischen
Geschichte der Türkei. Als die Zeichen
vor den Wahlen nicht auf Sieg für Erdo-
gan standen, öffnete er den Beutel noch
einmal weit. Kurz vor den Wahlen sagte
er zwar: „Wir gehen diesen Weg ohne Ab-
striche von Haushaltsdisziplin, Sparen
und Strukturreformen“, wandte aber Mil-
liarden aus dem Staatsbudget auf, um
vor allem die für die Finanzierung seiner
Politik unverzichtbaren Kommunen zu
halten.
Staatliche Banken verteilten Woh-
nungskredite in Höhe von Milliarden
Lira zu Niedrigzinsen. Sie waren zu-
gleich als Rettungsring für den eingebro-
chenen Bausektor gedacht. Gewerbetrei-
bende bekamen etliche Milliarden Lira
für Investitionen. Manche Steuer-, Versi-
cherungs- und Verkehrsstrafen wurden
erlassen, andere in Ratenzahlungen um-
gewandelt. Auf den Kauf von Autos, wei-
ßer Ware und Möbeln gab es Steuerermä-
ßigungen. Sozialhilfeempfängern wurde
gratis Strom versprochen. Personen mit
Kreditkartenschulden bekamen von
Staatsbanken Geld zu quasi Nullzinsen
zur Tilgung ihrer Schulden. Und der von
der AKP-Kommune in Ankara betriebe-
ne Jahrmarkt war bis zum 31. März –
dem Wahltag – für Besucher gratis.
Trotzdem fuhr Erdogan die schwerste
Niederlage seiner politischen Laufbahn
ein. Die für die Wirtschaft maßgeblichen
Metropolen verlor er an die Opposition.
Und am 31. März lief das Haltbarkeitsda-
tum der Wahlgeschenke ab. Mit der Ent-
scheidung, die Istanbul-Wahl wiederho-
len zu lassen, setzte die Wahlökonomie
kurz darauf noch einmal ein. Nun wurde
die Laufzeit der Versprechen bis zum
Tag der Neuwahlen am 23. Juni verlän-
gert. Um Istanbul, dessen Verlust die Re-
gierung besonders schmerzte, zurückzu-
holen, wurde gar der Sicherheitsfonds
der Zentralbank bereits Anfang April
dem schrumpfenden Haushalt zugeschla-
gen. Weil Erdogan so hartnäckig auf Is-
tanbul bestand, verlängerte sich die
Wahlökonomie und wirkte sich negativ
auf die ohnehin mit der Krise kämpfen-
den Märkte aus. Das zum Jahresende er-
wartete Haushaltsdefizit klaffe bereits in
der ersten Jahreshälfte auf.
Die Ungewissheit ließ Investoren vor
Investitionen zurückscheuen. Die Kos-
ten der Staatsverschuldung zogen auf-
grund steigender Zinsen an. Wegen der
Wirtschaftsflaute und der von der Regie-
rung verkündeten Steueramnestie und
Steuersenkungen blieben die staatlichen
Einnahmen weit unter den Schätzungen
des Haushalts. Aus all diesen Gründen
leerte sich die Staatskasse und wir alle
bekamen die Rechnung für die Wahlge-
schenke präsentiert. Nachdem Erdogan
Istanbul nach drei Monaten zum zweiten
Mal verlor, hagelte es Preiserhöhungen,
um das Loch im Budget zu stopfen. Tee
und Zucker, unentbehrliche Frühstücks-
utensilien in der Türkei, wurden um fünf-
zehn Prozent teurer. Treibstoff verteuer-
te sich in zwei Monaten ganze fünf Mal.
Die Steuern auf Zigaretten und Alkohol
wurden erhöht und auf die gestiegenen
Produktpreise draufgeschlagen. Und
nach dem Wegfall der Steuerermäßigun-
gen stiegen die Preise für weiße Ware
und Autos automatisch um gut zehn Pro-
zent. Die Steuer auf Handys wurde um
fünfzig Prozent angehoben.
Am härtesten traf die Türken die Ent-
scheidung, den Erdgaspreis heraufzuset-
zen. Die Verteuerung von Energie sorgt
automatisch für weitere Preiserhöhun-
gen bei allen Produkten. Im Laufe des
vergangenen Jahres sank der Erdgas-
preis weltweit um die Hälfte, in der Tür-
kei aber stieg er um mehr als fünfzig
Prozent.
Nicht nur mit Preissteigerungen zah-
len wir die Rechnung der Wahlökono-
mie. Unsere Verarmung hat Stabilität.
Die vor wenigen Tagen veröffentlichte of-
fizielle Statistik weist aus, dass die türki-
sche Wirtschaft im vierten Quartal in
Folge geschrumpft ist. Das Pro-Kopf-Ein-
kommen ist unter das Niveau von vor
zehn Jahren gesunken. 2013 hatte das
Bruttonationaleinkommen einen Gipfel
erreicht, sinkt aber stetig, seit Erdogan
seine Doktrin der „fortgeschrittenen De-
mokratie“ bekanntgab, also dafür sorgte,
dass sein Regime immer autoritärer wur-
de. Die Abstriche an unserer Demokra-
tie nehmen uns nicht nur unsere Freihei-
ten, sie ziehen uns auch noch den letzten
Kurusch aus der Tasche.
Aus dem Türkischen vonSabine Adatepe.
In einem Berliner Hinterhof an der be-
lebten Potsdamer Straße zwischen Tier-
garten und Schöneberg lädt ein kleiner
Raum im Erdgeschoss zum Verweilen
ein. Hier stehen Druckmaschinen, eini-
ge Bücher liegen aus, an den Wänden
hängen eingerahmte Wörter, Buchsta-
ben, Zahlen in verschiedenen Typo-
graphien. An diesem Abend wird Wein
ausgeschenkt, es gibt etwas zu feiern.
Der in Berlin ansässige Secession
Verlag für Literatur – nicht zu verwech-
seln mit der neurechten Zeitschrift „Se-
zession“ von Götz Kubitschek – be-
geht sein zehnjähriges Jubiläum. Und
nicht nur das: Stolz präsentieren die
Verleger Christian Ruzicska und Joa-
chim von Zepelin die neue Buchreihe
„Femmes de Lettres“. In ihr sollen
europäische Autorinnen vor allem des
siebzehnten und achtzehnten Jahrhun-
derts zu Wort kommen, die vergessen
oder nie entdeckt worden sind, deren
Werke hierzulande nicht übersetzt
oder publiziert wurden und deshalb
bislang kaum zugänglich waren.
Die europäische Literaturgeschich-
te, wie wir sie kennten, stimme nicht,
sagt Renate Kroll. Die Erzählungen
seien von Männern dominiert, dabei
habe es schon in der Frühen Neuzeit
so viele Frauen gegeben, die in ihrem
Schreiben den männlichen Schriftstel-
lern weit voraus gewesen seien. Fän-
den sie Berücksichtigung, müsste die
Literaturgeschichte umgeschrieben
werden, glaubt Kroll. Die emeritierte
Literaturwissenschaftlerin hat die Rei-
he in Kooperation mit der Fonte-Stif-
tung ins Leben gerufen.
Den Auftakt macht dabei die franzö-
sische Autorin Louise Labé, die wahr-
scheinlich von 1524 bis 1566 gelebt
hat. In einer ausgesprochen schönen
Ausgabe erscheinen ihre Werke unter
dem Titel „Torheit und Liebe“ zwei-
sprachig: auf Mittelfranzösisch und in
deutscher Übersetzung von Monika
Fahrenbach-Wachendorff. Schon auf
den ersten Seiten staunt man über La-
bés emanzipatorische Kritik an der
Ungleichbehandlung der Geschlech-
ter. Sie wünsche sich, dass die Frauen
„nicht nur an Schönheit, sondern auch
an Gelehrsamkeit und Tugend die Män-
ner übertreffen“, schreibt sie im Wid-
mungsbrief, mit dem das Buch be-
ginnt. Welch ungeheure Kraft die Sät-
ze haben, wird erst richtig deutlich, als
die Schauspielerin Angela Winkler sie
meisterhaft zum Sprechen bringt. Tief
berührend sind die Gedichte von Labé,
in denen sie über den Tod nachdenkt,
über den Sinn der Ehe, über Glück und
Leid in der Liebe.
Die sehr gelungene Buchreihe ist
ein Trost für alle, die fürchten, schöne
Bücher gingen in diesen krisengeschüt-
telten Zeiten unter. Und sie drückt ei-
nen doppelten Widerstand aus: gegen
die männlich dominierte Literaturge-
schichte und gegen die eindimensiona-
le Digitalisierung, die das gedruckte
Buch verdrängt und mit ihm die Ruhe,
sich von diesen besonderen Texten
ansprechen zu lassen, ihnen zuzuhö-
ren und sie immer wieder genau zu le-
sen. HANNAH BETHKE
Die Rechnung, bitte
Was Erdogans „fortgeschrittene Demokratie“ die
Türkei kosten kann. Von Bülent Mumay
Frauen vor!
Eine Buchreihe debütiert
BRIEF
AUS
ISTANBUL
Kühler Kopf,
weite Sicht
Christoph von Dohnányi Foto Ullstein
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Der Dirigent Christoph von Dohnányi
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