FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Feuilleton SAMSTAG, 7. SEPTEMBER 2019·NR. 208·SEITE 13
Glühend gemalte Froschmenschen, Skulp-
turen von Stierfrauen, bröckelig gezeichne-
te Sensenmänner ohne Sense, ein Okto-
pus, der wie ein autonom herumlaufendes
Gehirn aussieht – mit seinem magischen
Realismus bezog sich der 1940 in Mexiko
geborene Künstler Francisco Toledo auch
auf eine Kultur, deren Spuren sich mit der
fortschreitenden Internationalisierung zu
verlieren drohten: Toledo gehörte zur Min-
derheit der Zapoteken, die vor der spani-
schen Eroberung der südmexikanischen
Region von Oaxaca eine Hochkultur mit
einer ganz eigenen Bildsprache ausge-
prägt hatten. Wilde Tänzer und Zwitterwe-
sen bevölkerten ihre Kunst, im schamani-
schen Weltbild der präkolumbischen Zeit
war jede Geschichte eines Menschen mit
dem Geist eines Tieres verwoben.
Toledo war einer der wichtigsten moder-
nen Künstler, die sich wieder auf diese Kul-
tur und ihre Mythologie bezogen haben.
Er amalgamierte ihre Formen mit einer
westlichen Moderne, deren Künstler ihrer-
seits von indigenen Kulturen, ihren Mas-
ken und Farben und Ritualen fasziniert wa-
ren. Nach seinem Studium an der Arts and
Crafts School des Instituto Nacional de
Bellas Artes y Literatura in Mexiko-Stadt
ging er nach Rom und Paris und studierte
die Zeugnisse der europäischen Antike
mit dem gleichen ethnologischen Interes-
se, mit dem etwa Aby Warburg oder Max
Ernst sich mit indigenen Kulturen in
Nord- und Mittelamerika befassten. In
den kommenden Jahren pendelte Toledo
nicht nur physisch, sondern auch künstle-
risch zwischen Mexiko und Paris, New
York und Barcelona.
In seiner Malerei finden sich Töne,
Farben, stilistische Spurenelemente von
Goya und Ensor, Klee, Mirò und Picasso –
und gleichzeitig begreift man, wie stark
sich diese Künstler auf außereuropäische
Formen und Symbole bezogen haben. To-
ledo arbeitete als Grafiker und Maler, als
Bildhauer und Keramiker, sein Stil war
mal gegenständlich, mal abstrakt – mit
Mustern, bei denen man nicht weiß, ob
man es dabei mit Op-Art zu tun hat, dem
Close-up eines Urwaldes oder dem Effekt
jener halluzinogenen Pilze, die in Mexiko
als „Fleisch Gottes“, verehrt werden. Für
seine Leistungen als Naturschützer und
Bewahrer einer Kultur bekam er den Alter-
nativen Nobelpreis verliehen; seiner Hei-
mat hinterlässt er ein bedeutendes Muse-
um mit mehr als 125 000 Objekten und
einer Bibliothek mit Bildern, Videos und
Tonbandaufnahmen. Am vergangenen
Donnerstag ist Francisco Toledo im Alter
von 79 Jahren gestorben. NIKLAS MAAK
Eine Eskapade wollte sie schreiben. So
richtig auf „den Putz hauen und loslegen“,
wie Virginia Woolf im März 1927 in ihrem
Tagebuch notierte. Eine Scherz-Biogra-
phie über ihre Geliebte Vita Sackville-
West sollte „Orlando“ werden, aus einer
Laune heraus entworfen, beim „Anblick
von Gamaschen“ herbeiphantasiert. Die
Geliebte zeigte sich von der Idee begeis-
tert: „Mein Gott, Virginia, wenn ich je er-
regt und erschrocken war, so bei der Aus-
sicht, in die Gestalt Orlandos projiziert zu
werden. Was für ein Spaß für dich; was für
ein Spaß für mich. Du hast meine volle Er-
laubnis.“ Dass sich eine Person so offen-
herzig als Sujet anbietet, dürfte in der Lite-
raturgeschichte eher die Ausnahme sein.
Es muss mit der außerordentlichen Aura
einer Autorin zusammenhängen, die von
inneren Stimmen getrieben aus dem
Nichts eine Welt aus Phantasmen erschaf-
fen konnte und bei der nicht zu befürchten
stand, dass sie die unzulängliche Wirklich-
keit realistisch in literarische Abbildungen
übertragen würde. Die Verfremdung und
Übersteigerung des Geschehens war
Woolfs poetisches Programm.
In einem Brief an ihren amerikani-
schen Verleger umriss sie schon bald präzi-
se Umfang und Handlung ihres neuen Bu-
ches: „Der Held wird von den Tagen Elisa-
beths bis zur Gegenwart leben und auf hal-
bem Weg eine Frau werden. Es wird völlig
phantastisch und sehr einfach geschrie-
ben sein... und 40 000 Wörter haben.“
Ein knappes Jahr später, im Oktober
1928, erschien „Orlando“. Ein Buch, bei
dessen Lektüre man das große Vergnügen
der Autorin am Bluffen und Täuschen auf
jeder Seite spürt. Es beginnt im Jahr 1500
und endet am 11. Oktober 1928, also am
Tag des Erscheinens. In 430 Jahren altert
Orlando nur um zwanzig Jahre, knapp
vier Jahrhunderte gehen an ihm vorbei
und entsprechen vier verschiedenen Le-
bensentwürfen: vom jungen Höfling und
erfolglosen Dichter steigt Orlando zu-
nächst zum Weiberheld und Diplomaten
in Konstantinopel auf, dann fällt er in ei-
nen tiefen Schlaf, aus dem er als Frau wie-
der erwacht. „Mann und Frau waren ein
und dieselbe Person“, heißt es im Buch
nonchalant, so als ob damit zu der Zeit
nicht eine größtmögliche Provokation aus-
gesprochen wäre. Aus „sie“ wird bei
Woolf einfach „er“ – auch die progressive
Sprache wollte die Geschlechterlage da-
mals noch eindeutig geklärt wissen und –
anders als heute – schnörkel- beziehungs-
weise sternelos bleiben. Als Frau wandelt
Orlando sich zur dilettierenden Dichterin
und Mutter, dann kommt das neunzehnte
Jahrhundert und erfindet den Muffin. Am
Ende sitzt sie mit Manuskriptstapel un-
term Arm einem Verleger in der Londo-
ner City gegenüber und erinnert sich an
jene Eiche vor vierhundert Jahren, an de-
ren Stamm gelehnt sie zum ersten Mal von
Freiheit träumte.
Der identitäre Übergang zum dritten
Geschlecht gelingt Orlando nicht, die Ge-
schlechterzuschreibung als Ganzes aufzu-
kündigen, dazu war Woolf noch nicht be-
reit. Stattdessen provoziert sie mit einer ra-
dikalen Umordnung der Zeitvorstellung.
Vergangenheit und Gegenwart sind in Or-
landos Bewusstsein gleich nah, vor ihrem
inneren Auge laufen die Epochen ineinan-
der über, ruft ein Ampellicht auf der Ox-
ford Street plötzlich Erinnerungen ans
Schlittschuhlaufen auf der Themse unter
König James I. hervor, treibt ihr ein Au-
ßenspiegel am Sportwagen auf einmal
eine Vision über persische Berge ins Ge-
dächtnis. An einer besonders schönen Stel-
le wird ihre Erinnerung als Metapher ge-
fasst, „so als ob Orlandos Geist ein Wald
geworden wäre mit Lichtungen, die sich
hier und da plötzlich auftun“.
Vor gut dreißig Jahren, im November
1989, inszenierte Robert Wilson „Orlan-
do“ an der Berliner Schaubühne mit Jutta
Lampe in der Hauptrolle. Der Zeitgeist
drehte sich damals mehr um historische
als um geschlechtliche Transformationen.
Wenn die britische Regisseurin Katie Mit-
chell Woolfs Roman nun heute am selben
Ort inszeniert, haben sich die Vorzeichen
sehr zu Gunsten des Stoffes gewandelt:
die Hinterfragung sexueller Normvorstel-
lungen ist das bestimmende gesellschafts-
politische Thema zumindest in den Krei-
sen, aus denen sich gewöhnlich das Pre-
mierenpublikum zusammensetzt.
Katie Mitchell hat mit Jenny König eine
Hauptdarstellerin, die mit ihren welten-
hungrig hervorstechenden Augen von fer-
ne an Tilda Swinton erinnert, die als Or-
lando in Sally Potters Verfilmung von
1992 unvergesslich geblieben ist mit ihrem
spöttischen Blick in die Kamera am Mor-
gen nach dem Umwandlungsschlaf, ihrem
jubelnden Ausruf „same birth, just a diffe-
rent sex“ (dieselbe Geburt, nur ein ande-
res Geschlecht). Auch Jenny König schaut
hin und wieder direkt in die verschiede-
nen Kameras, die Mitchells Team um sie
herumtragen lässt. Aber für mehr als ein
schnelles Augenzwinkern oder Stirnrun-
zeln bleibt meist keine Zeit, denn die Per-
fektion der Bildtechnik gibt dem Gesche-
hen eine enorme Geschwindigkeit vor.
Oben rechts sitzt in einem Aufnahmestu-
dio Cathlen Gawlich und liefert als
schnellsprechende Erzählerin die Rah-
menhandlung. Neben ihr sind auf einer
Leinwand im 16-zu-9-Format jene Szenen
zu sehen, die unten auf der Bühne in einer
Art Filmstudio hastig und dabei doch
atemberaubend präzise hergestellt wer-
den. Von Beginn an wuseln Schauspiele-
rinnen und Techniker durcheinander,
wird angespielt und angedeutet, gedou-
belt, gefakt und abgebrochen. Der Boden
ist übersät mit bunten Klebemarkierun-
gen für die vielfältigen Kameraeinstellun-
gen, die Beleuchtung ist perfekt, die Aus-
stattung wirkt bis ins Detail verschwende-
risch. Was an diesem Drehabend entsteht,
ist eine Art „Orlando“-Teaserfilm, der
hier und da mit Doku-Material von einer
Brexit-Demonstration oder einem schmel-
zenden Gletscher angereichert wird.
Mitchell inszeniert Woolfs Roman als
tumultartiges Fest des Schummelns und
des Verkleidens. Unablässig sind Kostüm-
und Maskenbildnerinnen damit beschäf-
tigt, das Ensemble für eine weitere Zehn-
Sekunden-Szene umzuziehen und neu zu
schminken, spurten Kameramänner
durchs Halbdunkel, um die nächste Ban-
kettsequenz im richtigen Kerzenlicht ein-
zufangen. Gesellschaften seien grundsätz-
lich nichts als „eine Fata Morgana“, prokla-
miert die Erzählerin einmal. Mitchell baut
ihre ganze Inszenierung auf diesem Satz
auf und ignoriert alle schicksalshaften Mo-
mente jener transsexuellen Nomadin, die
an kein Geschlecht und kein Jahrhundert
gebunden scheint. Was durch die schnelle
Bildregie auch unbeachtet bleibt, ist
Woolfs ironische Imitation heroisch-bio-
graphischen Schreibens, das von Jahrhun-
dert zu Jahrhundert eine andere Note an-
nimmt und somit nicht nur die Künstlich-
keit von Gender, sondern auch die von
Genres vorführt.
Nach der Veröffentlichung und dem an-
sehnlichen Verkaufserfolg von „Orlando“
gestand Woolf ihrem Tagebuch, dass sie
das Buch „wohl als Scherz begann und
ernst damit weitermachte“. Mitchell hat
das Scherzhafte an „Orlando“ durchaus
ernst genommen. Aber dann nicht ernst-
haft weitergedacht. SIMON STRAUSS
Mythomane
Zum Tod des Künstlers
Francisco Toledo
A
uch wenn das Gespenst eines
„No deal“- Brexits durch die Be-
schlüsse des britischen Unter-
hauses in dieser Woche vorerst
gebannt scheint, bleibt die irische Gren-
ze, diese umstrittene Trennlinie zwi-
schen Nordirland (mithin dem Vereinig-
ten Königreich) und der Republik Irland,
der Knackpunkt bei den Brexit-Verhand-
lungen. Der „Backstop“ – aus Sicht füh-
render Brexiteers nur ein Vorwand, das
Vereinigte Königreich auf unbestimmte
Zeit an die Brüsseler Fremdherrschaft zu
ketten – ist nach wie vor das Haupthin-
dernis auf dem Weg zu einem geregelten
Austritt Großbritanniens aus der Euro-
päischen Union. Nichts deutet darauf
hin, dass London, Dublin oder Brüssel
einlenken könnten, weshalb ein harter
Brexit nach wie vor wahrscheinlich
bleibt. Der britische Premierminister Bo-
ris Johnson verkündet derweil, die öko-
nomischen Folgen eines Verzichts auf
die Vorteile des EU-Binnenmarkts könn-
ten durch ein umfassendes Handelsab-
kommen mit den Vereinigten Staaten
aufgewogen werden – eine Vorstellung,
die von Brexiteers in seiner eigenen Par-
tei ebenso enthusiastisch mitgetragen
wird wie vom amerikanischen Präsiden-
ten Donald Trump. Tatsächlich hat
Trump ein „substantielles Handelsab-
kommen“ zwischen beiden Ländern in
Aussicht gestellt, das zu einem vier- bis
fünfmal höheren Handelsvolumen füh-
ren soll.
Hier stellt sich jedoch ein massives
Problem: Jeder Brexit, der durch die Wie-
dererrichtung einer physischen Grenze
auf der irischen Insel das Karfreitagsab-
kommen von 1998 gefährdet, wird nicht
nur die überwiegende Mehrheit der iri-
schen Bevölkerung (im Norden und Sü-
den) empören, sondern auch amerikani-
sche Abgeordnete. Kaum wurde Boris
Johnsons These im Sommer publik, stell-
te Nancy Pelosi, die einflussreiche Spre-
cherin des amerikanischen Repräsentan-
tenhauses, unmissverständlich klar, ein
Handelsabkommen zwischen Amerika
und dem Vereinigten Königreich habe
„keinerlei Chance“, wenn der Friedens-
prozess in Nordirland durch einen unge-
ordneten Brexit gefährdet werde.
Namhafte Abgeordnete beider Partei-
en wie etwa der Demokrat Richard Neal
und der Republikaner Pete King warn-
ten, dass ein Handelsabkommen vom
Kongress höchstwahrscheinlich blo-
ckiert werde, falls der Brexit auf eine har-
te Grenze in Irland hinauslaufe. Sie wis-
sen, wovon sie reden. Neal und King sind
Vorsitzende der „Friends of Ireland“ im
Kongress. Dieser parlamentarische
Club, 1981 gegründet von Senator Ted
Kennedy und Tip O’Neill, dem langjähri-
gen Sprecher des Repräsentantenhauses,
ist kein nostalgischer Verein, dessen Mit-
glieder in Erinnerungen an die Grüne In-
sel schwelgen, sondern eine ernstzuneh-
mende politische Lobbygruppe, zu deren
Unterstützern mehr als fünfzig Kongress-
mitglieder beider Parteien gehören. Laut
King wäre ein Verzicht auf den Back-
stop, der die offene Grenze gefährdet,
eine „unnötige Provokation“, die er
Trump nicht durchgehen lassen würde.
Um zu verstehen, warum eine Grenze
auf einer windumtosten Atlantikinsel so
bedeutsam für amerikanische Politiker
ist und warum dieses Thema im bevorste-
henden Präsidentschaftswahlkampf eine
zentrale Rolle spielen könnte, muss man
zurückgehen in die lange Geschichte der
irischen Emigration in die Vereinigten
Staaten. Etwa 33 Millionen Amerikaner,
mehr als zehn Prozent der gesamten Be-
völkerung, bezeichnen sich laut Volks-
zählung von 2017 als „irischstämmig“,
viele von ihnen wohnen heute in den be-
sonders wahlrelevanten „swing states“.
Zwischen 1820 und 1975 wanderten
mehr als 4,7 Millionen Iren nachAmeri-
ka aus und machten rasch ihren Weg –
bei Polizei und Feuerwehr in den Städten
an der Ostküste, in der katholischen Kir-
che, in den Gewerkschaften, an Universi-
täten und in den Parteien. Von John F.
Kennedy, Ronald Reagan und George
Bush bis Bill Clinton und Barack Obama
haben erfolgreiche Präsidentschaftskan-
didaten stets ihre „irischen Vorfahren“
herausgestellt, um im Wahlkampf zusätz-
lich zu punkten. Das gilt auch für Bürger-
meister in Städten wie New York, Pitts-
burgh oder Boston, die vielfach die „iri-
sche Karte“ gespielt haben, um Wähler
zu gewinnen.
Trump weiß das natürlich. Historisch
hatten die Irischamerikaner deutlich
mehr Sympathien für die Demokraten
als für die Republikaner, aber seit Rea-
gan muss man von einem ausgewogenen
Verhältnis sprechen. Während des letz-
ten Wahlkampfs waren die drei wichtigs-
ten Moderatoren von Trumps Leib-und-
Magen-Sender Fox News Irischamerika-
ner: Megyn Kelly, Bill O’Reilly und Sean
Hannity. Auch einige Spitzenpositionen
hat Trump mit Irischamerikanern be-
setzt: Mit Vizepräsident Mike Pence und
den Beratern Kellyanne Conway, Mi-
chael Flynn, John Kelly und Steve Ban-
non hatte die Regierung Trump anfäng-
lich ein „irischeres“ Gesicht als jede ih-
rer Vorgängerinnen.
Für Trump, der eine zweite Amtszeit
anstrebt, wird das Wahlverhalten der
Irischamerikaner von enormer Bedeu-
tung sein, und das wissen auch die Iren.
Der irische Botschafter in den Vereinig-
ten Staaten, Dan Mulhall, und verschie-
dene irischamerikanische Interessen-
gruppen haben eine PR-Kampagne ins
Leben gerufen, um über die negativen
Auswirkungen eines Brexits für Irland zu
informieren. Und hier kommt die irische
Grenze ins Spiel. Vor bald hundert Jah-
ren, 1921, endete der irische Unabhän-
gigkeitskrieg mit dem sogenannten An-
glo-Irischen Vertrag. Im Süden sollte ein
unabhängiger irischer Freistaat errichtet
werden, während sechs Grafschaften im
Nordosten, mit einer Mehrheit von pro-
testantischen Unionisten und einer star-
ken katholischen Minderheit, weiterhin
zum Vereinigten Königreich gehören
würden. In einem zunehmend militant-
nationalistischen Klima löste die Frage,
ob dieser Vertrag ratifiziert werden soll-
te, einen Bürgerkrieg (1922 bis 1923)
aus, dessen schmerzhafte Wunden bis
auf den heutigen Tag in der irischen Poli-
tik zu spüren sind.
Die Teilung Irlands war für nieman-
den ein Sieg. Nordirland, regelmäßig er-
schüttert von gewaltsamen Auseinander-
setzungen zwischen Katholiken und Pro-
testanten, erwies sich für London als
kostspielige Bürde, während die Repu-
blik sich immer mehr vom Norden ab-
wandte, ohne die Grenze von 1921 völlig
ignorieren zu können, eine mehr oder
weniger willkürlich gezogene Linie von
etwa fünfhundert Kilometern Länge,
vom Carlingford Lough im Osten bis
zum Lough Foyle im Norden. In den spä-
ten sechziger Jahren, während der soge-
nannten Unruhen, verwandelte sich die
Grenze in eine militärisch gesicherte
Zone mit Armee-Checkpoints, die häu-
fig Ziel der IRA wurden.
Dank des Karfreitagsabkommens von
1998, bei dem der amerikanische Diplo-
mat George Mitchell eine zentrale Ver-
mittlerrolle spielte und die Vereinigten
Staaten sowie die EU als internationale
Garantiemächte fungierten, konnte
schließlich ein fragiler Frieden entste-
hen. Auch die Tatsache, dass Irland und
das Vereinigte Königreich der EU ange-
hörten, war wesentlich für das Gelingen
des Friedensprozesses und die wirt-
schaftlichen und kulturellen Vorteile,
die eine offene Grenze bot. Es schien,
wie der irische Essayist Hubert Butler
1955 gehofft hatte, als sollte „die Grenze
bedeutungslos werden und wie ein Pflas-
ter von einer geheilten Wunde schmerz-
los abfallen“. Aber die Wunde ist nicht
verheilt, und die Unruhen könnten wie-
der aufflammen. Falls das Vereinigte Kö-
nigreich ohne Abkommen aus der Euro-
päischen Union austritt, werden Grenz-
kontrollen zwischen Nordirland und der
Republik unumgänglich sein.
An der neuen EU-Außengrenze in Ir-
land wird deutlich mehr grenzüberschrei-
tender Güter- und Personenverkehr statt-
finden als an der gesamten Außengrenze
in Osteuropa, von den baltischen Staaten
bis hinunter zur Türkei. Die historische
Erfahrung der Unruhen in den siebziger
Jahren sollte als Warnung dienen, dass
diese Grenze nicht zu kontrollieren ist.
Radikale Republikaner (die in den letz-
ten Monaten aktiv geworden sind, was
nichts Gutes verheißt) werden ihren
Kampf gegen eine physische Grenze ver-
mutlich wiederaufnehmen und gewalt-
sam jenes vereinigte Irland propagieren,
das die Democratic Unionist Party, die
die Regierung von Boris Johnson derzeit
stützt, so nachdrücklich ablehnt. Auch
deutet einiges darauf hin, dass moderate
nordirische Unionisten, besonders jene,
die als Geschäftsleute oder Landwirte an
einer offenen Grenze interessiert sind, ei-
ner Vereinigung mit der Republik weni-
ger ablehnend gegenüberstehen könnten,
weil sie ihnen, verglichen mit dem ökono-
mischen Chaos, das ein Brexit bringen
wird, als das geringere Übel erscheint.
Niemand kann sagen, wie dieses Dra-
ma sich entwickeln wird oder wie es zu
verhindern wäre. Die Wiedervereini-
gung Irlands, die auf einmal möglich er-
scheint, sollte das Vereinigte Königreich
im Gefolge des Brexits auseinanderbre-
chen, wäre für die Republik außerordent-
lich kostspielig und ist beiderseits der
Grenze nicht unumstritten. Zwei der
leidenschaftlichsten Brexit-Befürworter
(Theresa Villiers und Owen Paterson)
waren Nordirland-Minister in Whitehall,
haben aber, eigentlich unfassbar, nie be-
dacht, welch katastrophale Folgen ein
Brexit für Nordirland hätte. Für die EU,
die die historischen Probleme, die mit
der Grenze einhergehen, erstaunlicher-
weise viel klarer sieht als London, kann
es keine Nachverhandlungen über den
Backstop geben, wenn sie die Interessen
der kleineren Mitgliedstaaten auch künf-
tig glaubwürdig vertreten will. Aus all
diesen Gründen könnte das lebhafte In-
teresse Amerikas an Irland in entschei-
dender Weise eine Lösung für eine an-
sonsten unlösbare Situation ermögli-
chen.
Der HistorikerRobert Gerwarthleitet das Institut
für Kriegsstudien am University College in Dublin.
2018 erschien sein Buch „Die größte aller Revolu-
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Aus dem Englischen vonMatthias Fienbork.
Die irische
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Brexit ohne Backstop?
Das werden die Iren in
den Vereinigten
Staaten zu verhindern
wissen.
Von Robert Gerwarth
Die Bühne ist auch ein Filmset, ein Mann ist auch eine Frau: Jenny König als Orlando in Katie Mitchells Version von Virginia Woolfs Roman Foto Stephen Cummiskey