SEITE 2·SAMSTAG, 7. SEPTEMBER 2019·NR. 208 F P M Politik FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG
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s ist doch wirklich so: Man will im-
mer das haben, was man nicht hat,
und das sein, was man nicht ist. Wäh-
rend der Fischer in Afrika davon
träumt, Hartz-IV-Empfänger und Die-
selfahrer in Deutschland zu werden,
versaut sich der Banker aus Frankfurt,
der vom E-Roller bis zum E-Porsche al-
les in der Garage stehen hat, was ein
gutes Gewissen macht, seine CO 2 -Bi-
lanz, um wenigstens einmal im Jahr
drei Tage lang auf den Seychellen in ei-
ner Schilfhütte übernachten zu dürfen.
Auch in der Politik ist dieses Phäno-
men häufig anzutreffen. Die SPD
sehnt sich nach der Opposition seit
dem ersten Tag in der Regierung. Oder
nehmen wir den Fall Boris Johnson.
Als er auch altersmäßig noch ein Kind
war, wollte er König der Welt werden.
Gereicht hat es dann jedoch nur für
den Journalismus. Kaum war er aber
bei der Lügenpresse, zog es ihn in die
Politik. Jetzt, da er in einer Laune Got-
tes das Amt des Premierministers der
angeblich ältesten und vielleicht des-
halb nicht mehr ganz klaren Demokra-
tie der Welt übertragen bekam, zeigt
Johnson starkes Interesse daran, als
zweiter Stalin in die Geschichte einzu-
gehen. Weil er bei der Säuberung sei-
ner Partei schon ziemlich weit kam,
sind wir natürlich gespannt, was sein
nächster Berufswunsch ist. EU-Kom-
missar? Papst? Angela Merkel?
Doch gerade wir Deutsche sollten
uns nicht über so viel Flexibilität beim
Umgang mit Lebensträumen lustig ma-
chen. Denn auch wir haben keine der
Rollen, die wir in unserer Geschichte
übernahmen, lange durchgehalten, ob-
wohl wir sie immer mit Inbrunst spiel-
ten. Weil unser Repertoire begrenzt
ist, wundert es uns auch nicht, dass
nun plötzlich so viele Zeitgenossen
und Parteien wieder bürgerlich sein
wollen, obwohl das Bürgerliche in der
deutschen Politik doch etwa 1968 den
Zenit überschritten haben dürfte, wie
Peter Altmaier vielleicht sagen würde.
Aber das Bürgerliche war einfach im-
mer schlauer, als seine vielen Feinde
glaubten. Die gutbürgerliche Küche
schlich sich schon zurück auf die Spei-
sekarten, als manche Küchenchemiker
noch Erdbeermoleküle an Trockeneis
kredenzten. Heute sind die Fernsehka-
näle voller kochender Bürger. Und wie
froh war doch mancher Deutscher, als
er endlich Mitglied einer Bürgergesell-
schaft sein konnte und nicht länger An-
gehöriger des Volkes sein musste!
Zur endgültigen Rehabilitation ver-
half dem Bürgerlichen aber erst der
Wutbürger, der die letzten Verächter
der Bourgeoisie so gnadenlos in die
Flucht trieb wie der unglaubliche Hulk
alle, die ihm auf den Keks gehen. Soll-
te es an der Farbe dieses prominenten
Strahlungsopfers gelegen haben, dass
die Grünen und viele ihrer Anhänger
jedweden Geschlechts als Erste den tie-
feren Reiz der so lange von ihnen ver-
achteten Bürgerlichkeit erkannten?
Plötzlich verwandelten sich sogar ehe-
malige Revoluzzer und Kommunarden
in bürgerliche Existenzen mit allen At-
tributen, die das bezeugen können:
Trauschein (zum Teil in mehrfacher
Ausfertigung), Reihenhaus, dreiteili-
ger Anzug. Die Regalmeter Literatur
über Verderbtheit und Untergang der
Bourgeoisie wichen Fotoalben mit den
Aufnahmen aus dem Schrebergarten
und, ein paar alte Reflexe gibt es noch,
den Rezeptesammlungen zum veganen
Kochen.
Trautes Heim, Glück allein? Von we-
gen. Kaum haben die Achtundsechzi-
ger-Flüchtlinge es sich so richtig gemüt-
lich in ihrem neuen Heim gemacht
(das nun wirklich alles andere als ver-
sifft ist), wollen da auch die Kamera-
den einziehen, die an Wand und Decke
eher Brauntöne bevorzugen. Das muss-
te natürlich Knatsch geben, nicht nur
der Frage halber, ob der Fernsehsessel
rechts oder links stehen soll. Denn wo
kämen wir denn hin, wenn plötzlich je-
der Politiker und jede Partei einfach
selbst bestimmen könnte, ob er/sie
zum bürgerlichen Lager gehört oder
nicht? Am Ende behauptet das sogar
noch die Linkspartei von sich. Und
dann müssten wir uns endgültig fra-
gen, wofür der Zores der vergangenen
zweihundertfünfzig Jahre gut gewesen
sein soll.
Nein, da stimmen wir den Grünen
absolut zu: So offen wie Deutschland
im Herbst 2015 kann und darf die offe-
ne Bürgergesellschaft nicht sein. Der
Andrang lässt es ratsam erscheinen,
eine Kommission einzurichten, die ent-
scheidet, wer die Bedingungen für die
Einbürgerung erfüllt. Angesichts der
endlosen und ohne klares Ergebnis ge-
bliebenen Debatten über den Begriff
des Bürgerlichen schlagen wir aller-
dings vor, die Prüfung auf ein Kriteri-
um zu reduzieren – ob die Kandidaten
das unumstrittene Zentralorgan des
Bürgertums lesen oder nicht. bko.
FRAKTUR
PEKING, 6. September
G
ut drei Monate ist es her, da erin-
nerte Angela Merkel sich und ihre
Zuhörer an ihre Zeit in der Dikta-
tur, mit einer Deutlichkeit, wie sie es sel-
ten tut. Ende Mai sprach sie nicht in ei-
nem autoritären Staat. Im Gegenteil. Es
war in einem Land, das sehr stolz auf sei-
ne demokratische Tradition ist und diese
gegenwärtig einem Stresstest unterzieht.
Merkel war in Boston, an der amerikani-
schen Ostküste, vor Absolventen der Har-
vard-Universität aufgetreten. Sie sprach
über die Kraft von Protesten. In Polen, Un-
garn, der Tschechoslowakei und der DDR
hätten sich einst Hunderttausende Men-
schen auf die Straße gewagt. „Die Men-
schen demonstrierten und brachten die
Mauer zu Fall.“ Mauern könnten einstür-
zen, Diktaturen könnten verschwinden,
sagte sie. Wenige Tage später protestier-
ten in Hongkong erstmals eine Million
Menschen, weil sie Angst vor dem Ein-
fluss des autoritären Chinas haben.
Nun ist Merkel, die Kanzlerin, nicht die
Festrednerin, wieder mal zu Gast in Chi-
na. Es ist Freitagvormittag, 10.50 Uhr, je-
denfalls in Peking. In Berlin, von wo aus
sie am Vortag aufgebrochen war, ist Mit-
ternacht noch nicht lange vorbei. Sie sitzt
neben dem chinesischen Ministerpräsi-
denten Li Keqiang im Hubei-Saal der Gro-
ßen Halle des Volkes in Peking. Erdge-
schoss. Die beiden wohnen einer soge-
nannten Unterzeichnungszeremonie bei,
deutsche und chinesische Manager wer-
den an einen vor Merkel und Li Keqiang
stehenden Tisch gerufen, es wird verle-
sen, welche Übereinkunft unterzeichnet
wird. Ein wichtiger Vorgang, denn China
ist eine aufstrebende Wirtschaftsmacht,
die in den Augen der Kanzlerin immer
wichtiger wird.
Die Kanzlerin applaudiert, wenn die
Manager die Stifte wieder hingelegt ha-
ben. Zwischendrin hält sie die Hände vor
das türkisfarbene Jackett in der beliebten
Raute – Fingerspitzen aneinandergeführt
- und plaudert mit Li Keqiang. Der plau-
dert mit freundlichem Gesicht zurück.
Plaudern hält wach, viel Zeit zum Schla-
fen hatte Merkel nicht im Flugzeug, und
außerdem plaudert die Kanzlerin gerne
bei solchen Gelegenheiten.
Kurz davor hatte sie im Ostsaal der wirk-
lich sehr großen Halle des Volkes geses-
sen, dieses Mal Li Keqiang gegenüber. „Ja,
danke schön“, hatte Merkel in ihrer trocke-
nen Art auf dessen Einführung geantwor-
tet. Sogleich hatte sie vom starken Ausbau
der Wirtschaftsbeziehungen beider Län-
der gesprochen, hatte das autonome Fah-
ren genannt, eines der Topthemen, über
die beide Länder in jüngster Zeit spre-
chen. Dann erwähnte die Kanzlerin die
zahlreichen Dialogformate, die beide Län-
der miteinander hätten. Sie hoffe auch,
dass im Oktober der Menschenrechtsdia-
log wieder stattfinden könne. Das alles ge-
schah am Freitag innerhalb einer Stunde.
Es war wie ein kleines Bild von Merkels ge-
samtem China-Besuch, dem zwölften als
Bundeskanzlerin: Viel Wirtschaft, ein biss-
chen Menschenrechte.
Es sind unruhige Zeiten, Amerika und
China liegen im wüsten Handelsstreit, Eu-
ropa ist uneins, und die Exportnation
Deutschland leidet. Merkel kennt alle
Zahlen, wie sich der Anteil Chinas an der
weltweiten Wirtschaftsleistung in den zu-
rückliegenden Jahren vervielfacht hat,
derjenige Amerikas etwa stabil geblie-
ben, der Europas und Deutschlands aber
zurückgegangen ist. Sie hat eine große
Wirtschaftsdelegation im Schlepptau.
Das Interesse der Vorstandsvorsitzenden
großer Unternehmen, mit der Kanzlerin
einzufliegen, ist trotz der schwierigen Be-
dingungen in China offenbar groß. Oder
gerade deswegen. Vertreten waren BASF,
Volkswagen, Daimler, BMW, Siemens,
Deutsche Bank, um nur einige zu nennen.
Kurz vor der Abreise war in Regierungs-
kreisen in Berlin noch einmal darauf hin-
gewiesen worden, dass China Deutsch-
lands größter Handelspartner sei, dass
die Investitionen deutscher Unterneh-
men in dem asiatischen Land allein von
2010 bis 2017 auf 80 Milliarden Euro ge-
wachsen seien. Der Vollständigkeit hal-
ber wurde hinzugefügt, dass die deut-
schen Investitionen in Amerika deutlich
über 300 Milliarden Euro lägen.
Das ist die weltpolitische und weltwirt-
schaftliche Situation, in der Angela Mer-
kel eine ihrer letzten Kanzlerinnen-Rei-
sen nach China unternimmt. Eine, viel-
leicht noch zwei können es werden, falls
die Legislaturperiode regulär bis zum
Herbst 2021 dauert und Merkel bis zum
Ende bleibt. In Deutschland wird viel dar-
über geredet. In Peking nicht. Da hat Mer-
kel immer noch Gewicht. Mithin auch
noch ein wenig Zeit, Einfluss auf die Din-
ge zu nehmen. Merkel überschätzt die Rol-
le einer deutschen Kanzlerin in China
nicht, aber setzt doch auf Begegnung und
Dialog. Reden lohnt sich aus ihrer Sicht.
Als wäre der Spielraum zwischen dem
aggressiv Richtung China brüllenden
amerikanischen Präsidenten Donald
Trump und der zunehmend selbstbewusst
auftretenden politischen Führung in Chi-
na nicht schon eng genug für Deutsch-
land und seine Regierungschefin, sorgt
die Protestbewegung in Hongkong nun
seit Monaten für Aufregung und Schlag-
zeilen. Auch in Deutschland, jedenfalls
ein bisschen. Kurz vor ihrer Reise war
Merkel von Hongkongs prominentestem
Aktivisten, Joshua Wong, per offenem
Brief aufgefordert worden, sich auf die
Seite der Demonstranten zu stellen.
Das tut Merkel freilich nicht. „Natür-
lich“ habe man auch „ausführlich“ über
das Thema Hongkong gesprochen, sagt
die Kanzlerin in der gemeinsamen Presse-
konferenz mit Li Keqiang. Sie habe darauf
hingewiesen, dass die Rechte und Freihei-
ten, die den Hongkongern im chinesisch-
britischen Abkommen von 1984 zugesi-
chert wurden, „natürlich auch gewährleis-
tet werden müssen“. Und sie fügt hinzu:
„Dieses Abkommen gilt weiter.“ Für Chi-
na ist genau das aber keine Selbstverständ-
lichkeit. Vor drei Jahren hatte das Außen-
ministerium in Peking verkündet, „nun,
da Hongkong seit 20 Jahren zum Mutter-
land zurückgekehrt ist“, habe der Vertrag
„für die Realität keine Bedeutung mehr“.
Seither weist Peking jeden Verweis Lon-
dons auf das Papier von 1984 barsch zu-
rück. Es ist nach dem Schiedsspruch zum
Südchinesischen Meer ein weiteres Bei-
spiel dafür, dass China sich an internatio-
nales Recht nur bedingt gebunden fühlt.
E
inen Gesichtsverlust erspart Mer-
kel den Chinesen. Sie vermerkt po-
sitiv, dass die Hongkonger Regie-
rung mit der Rücknahme des umstritte-
nen Auslieferungsgesetzes „einen wichti-
gen Schritt“ getan habe. Regierungs-
chefin Carrie Lam hatte damit am Mitt-
woch eine der fünf Kernforderungen der
Protestbewegung erfüllt. Das war eine be-
merkenswerte Kehrtwende, denn noch
am Vortag hatte das in der Sache tonange-
bende Büro für Hongkong-Angelegenhei-
ten alle fünf Forderungen harsch zurück-
gewiesen. Pekings Entscheidung, Carrie
Lam das Auslieferungsgesetz doch noch
zurückziehen zu lassen, muss also kurz
vor der Abreise Merkels getroffen worden
sein. Den erwünschten Effekt verfehlte
sie jedenfalls nicht. International wurde
der Schritt mit Erleichterung aufgenom-
men, obwohl sich keineswegs ein Ende
der Proteste in Hongkong abzeichnet und
die Fronten noch genauso verhärtet sind
wie vorher. Merkel hat es immerhin das
Leben leichter gemacht, weil ein bisschen
Druck von ihr genommen wurde, sich auf
die Seite der Protestierenden zu schlagen.
Für Peking war die Rücknahme des Ge-
setzes kein leichter Schritt. Xi Jinping
musste sich eine Blöße geben. Über Wo-
chen hatte die Propaganda Hass auf die
Hongkonger Aktivisten geschürt und sie
als Aufrührer und Terroristen verun-
glimpft. Dass sie nun für ihre Proteste be-
lohnt werden sollen, sorgte an der Heimat-
front für Irritation. Wie sehr Peking die Re-
aktion des heimischen Publikums fürch-
tet, lässt sich auch daran ablesen, dass
über Carrie Lams Kehrtwende in den Par-
teimedien fast gar nicht berichtet wurde.
Ebenso wenig berichteten Chinas Medien
am Freitag, was Li Keqiang auf der Presse-
konferenz zu Hongkong sagte, notgedrun-
gen, weil er danach gefragt wurde.
Wie sehr Peking den Deckel auf dem
Thema halten will, zeigt sich auch an dem
Hickhack, das das chinesische Protokoll
um den Zugang zu der Pressekonferenz
veranstaltete. Erstmals wurden die in Pe-
king stationierten deutschen Korrespon-
denten zunächst nicht zugelassen, auch
wenn das Verbot später wieder gelockert
wurde. Schon gar nicht dabei sein sollten
andere ausländische Korrespondenten,
etwa von der „New York Times“ oder der
AFP. Auch das ist höchst ungewöhnlich.
Zur Begründung hieß es, der Platz reiche
nicht aus, was in der Großen Halle des Vol-
kes, in der es Säle jeder Größe gibt, einiger-
maßen kurios schien. Solchen protokollari-
schen Details kommt im hochzeremoniel-
len chinesischen System Gewicht zu. Eben-
so dem Umstand, wie viele Fragen von der
Presse gestellt werden dürfen, über die im
Vorfeld jeder Merkel-Reise gerungen wird,
um dann meist einen Deutschland-Bonus
zu vergeben: nicht nur eine, wie im Fall
des französischen Präsidenten, sondern
zwei. Doch am Freitag wurde der Bonus
einkassiert: Nur eine Frage sollte es sein.
All das zeigt deutlich: Peking ist nervös.
Ob China eine militärische Interventi-
on in Hongkong ausschließen könne,
wird Li Keqiang in der Pressekonferenz
gefragt. Er weicht der Frage aus, sagt statt-
dessen, Peking unterstütze die Hongkon-
ger Regierung dabei, im Rahmen der Ge-
setze „Gewalt und Chaos zu beenden und
die öffentliche Ordnung wiederherzustel-
len“. Inhaltlich ist das nicht neu. Es ist
aber das erste Mal, dass sich die Pekinger
Führung überhaupt auf dieser Ebene zu
dem Konflikt äußert. Merkel ist die erste
westliche Regierungschefin, die seit dem
Beginn der Massenproteste Peking be-
sucht. Die Führung wusste, dass sie dem
Thema nicht würde aus dem Weg gehen
können. Vorsorglich spielte die Parteizei-
tung „Global Times“ dessen Bedeutung
schon am Donnerstag herunter. „Merkel
wird wahrscheinlich Hongkong anspre-
chen, aber sie wird das nur tun, um innen-
politischen Druck abzuwenden. Die chi-
nesische Seite muss ihre Position klar äu-
ßern, dass externe Kräfte sich nicht in
Chinas interne Angelegenheiten einmi-
schen sollen. Das war’s.“
Wichtiger ist, was die Bundeskanzlerin
Präsident Xi Jinping im kleinen Kreis
sagt. Mit dem Staatspräsidenten kann sie
einigermaßen offen reden. Das gilt selbst
beim schwierigen Thema Menschenrech-
te, auch weil die Kanzlerin es versteht,
die kommunistische Führung nicht öffent-
lich zu brüskieren. Auf diese Weise hat sie
im vergangenen Jahr erreicht, dass Liu
Xia, die Witwe des Friedensnobelpreisträ-
gers Liu Xiaobo, nach Jahren des Hausar-
restes nach Deutschland ausreisen durfte.
Trotz aller nach außen getragenen Härte
kann es auch Xi Jinping nicht ganz egal
sein, wenn sein Land wegen des Konflikts
in Hongkong international am Pranger
steht. Die Beziehungen zu Amerika sind
am Boden, da kann ein guter Draht nach
Berlin nicht schaden.
So sieht der Arbeitsalltag der Bundes-
kanzlerin Angela Merkel aus, einer Prag-
matikerin der Macht, an der Spitze einer
Mittelmacht mit großem wirtschaftli-
chem Gewicht und eingeschränkten politi-
schen Möglichkeiten. Einer Regierungs-
chefin, die nicht nach China gekommen
ist, um laute Botschaften für die innenpo-
litische Diskussion Richtung Deutsch-
land auszusenden.
In Harvard hatte eine andere Merkel
gesprochen. Eine Frau, die in höchste Hö-
hen der Politik aufgestiegen ist und die
auf die Zielgerade dieses Teils ihres Le-
bens eingebogen ist. In Boston sprach sie
über sich, über ihre Vergangenheit, die
ersten drei Lebensjahrzehnte in der
DDR, die eine „Diktatur“ gewesen sei.
Die eine Mauer „aus Beton und Stahl“ ge-
baut habe, mitten durch Berlin. Diese
Mauer habe ihre Möglichkeiten be-
grenzt, habe ihr „buchstäblich im Weg“
gestanden. Merkel hatte den Studenten
an der amerikanischen Ostküste gesagt,
sie sei damals in der DDR keine Dissiden-
tin gewesen, sei nicht gegen die Mauer an-
gerannt, habe sie aber auch nicht geleug-
net. Die Mauer habe es nicht geschafft,
ihr „innere Grenzen“ vorzugeben.
Dann hatte sie über ihre Zukunft ge-
sprochen. Wer wisse, was das Leben nach
der Politik für sie bringe, sagte sie. „Es ist
völlig offen.“ Klar sei nur, dass es etwas
anderes und Neues sein werde. Eines dürf-
te sicher sein: Angela Merkel wird dann
geringeren Zwängen ausgesetzt sein als
am Freitag in Peking.
Bürgerlich
Auf gute Geschäfte:Angela Merkel und Li Keqiang applaudieren am Freitag Wirtschaftsvertretern in der Großen Halle des Volkes in Peking. Foto AP
LONDON, 6. September. Boris Johnsons
Wunsch nach einer raschen Wahl rückt
immer weiter in die Ferne. Am Freitag ei-
nigten sich die Oppositionsparteien dar-
auf, dass sie auch den zweiten – für Mon-
tag geplanten – Antrag der Regierung ins
Leere laufen lassen werden. Der Frakti-
onschef der Schottischen Nationalisten,
Ian Blackford, sagte nach der Absprache-
Konferenz, man müsse sicherstellen, dass
eine vorgezogene Wahl keine „unbeab-
sichtigten Konsequenzen“ hat und Britan-
nien nicht ohne Deal aus der EU
„kracht“. So ähnlich hatten sich vor ihm
schon führende Labour-Politiker geäu-
ßert. „Die Möglichkeit einer vorgezoge-
nen Wahl ist natürlich sehr attraktiv, aber
wir haben eine unmittelbare Krise vor
uns, und die gilt es zuerst zu lösen“, sagte
Emily Thornberry, die als Stellvertreterin
von Labour-Chef Jeremy Corbyn in der
Fraktion fungiert. Sie fuhr fort: „Mit Blick
auf das Verhalten des Premierministers
und seiner Berater befinden wir uns lei-
der in einer Situation, in der die Wahl als
Ablenkung genutzt wird, während sie uns
mit durchtriebenen Ideen ohne Deal aus
der Europäischen Union stoßen.“
Im Ergebnis will die Opposition einer
vorgezogenen Wahl erst zustimmen,
wenn das gegen Johnsons Willen vom Par-
lament verabschiedete „No-Deal-Verhin-
derungsgesetz“ umgesetzt worden ist und
die Verlängerung der Austrittsfrist durch
die EU bewilligt oder zumindest bean-
tragt ist. Damit könnte die Wahl frühes-
tens im November, womöglich erst im De-
zember stattfinden. Der von Johnson an-
gestrebte Wahltermin am 15. Oktober er-
scheint nun unerreichbar.
Blackford machte deutlich, dass er in
der Ablehnung einer frühen Wahl auch
ein politisches Druckmittel sieht. John-
son müsse nun entweder zurücktreten
oder das Gesetz anwenden und in Brüssel
um einen Aufschub bitten, sagte er. Letz-
teres hatte Johnson in der ihm eigenen
Art ausgeschlossen: Eher liege er „tot in
einem Graben“, hatte er am Donnerstag
gesagt. Die Vorsitzende der walisischen
Plaid Cymru, Liz Saville Roberts, sagte
am Freitag in der BBC: „Wir haben jetzt
die Möglichkeit, Boris zur Strecke zu brin-
gen, Boris zu brechen und den Brexit zur
Strecke zu bringen.“
Ob Johnson einen anderen Weg einzu-
schlagen versucht, um sein Neuwahlziel
früher zu erreichen, ist ungewiss. Wegen
der von ihm selbst in die Wege geleiteten
Parlamentsbeurlaubung bliebe ihm für
solche Versuche – etwa ein Sondergesetz
oder ein Misstrauensvotum gegen sich
selbst – nur noch die erste Hälfte der kom-
menden Woche. Dass die parlamentari-
sche Zwangspause noch gerichtlich rück-
gängig gemacht wird, ist weniger wahr-
scheinlich geworden, nachdem am Frei-
tag – nach dem obersten schottischen Zi-
vilgericht – auch der High Court in Lon-
don die Rechtmäßigkeit der Maßnahme
bestätigt hat. Man werde „weiter für die
Demokratie kämpfen“, sagte die Anti-
Brexit-Aktivistin Gina Miller und drückte
ihre „tiefe Enttäuschung“ über den Rich-
terspruch aus. Sie hatte die Klage einge-
reicht, der sich später auch der frühere
konservative Premierminister John Ma-
jor angeschlossen hatte. Miller rief nach
dem Urteil den Supreme Court an, der
sich nun am 17. September mit dem Fall
befassen will.
Johnson verzichtete am Freitag dar-
auf, die Oppositionsparteien abermals
zu einer vorgezogenen Wahl aufzufor-
dern, und baute stattdessen Druck durch
Taten auf. Nachdem er schon am Vortag
einen an Wahlkampf erinnernden Auf-
tritt in Yorkshire absolviert hatte, melde-
te er sich am Freitag aus dem schotti-
schen Aberdeen zu Wort, wo er Termine
mit Fischern und Bauern wahrnahm. In
einem Interview bescheinigte er den Op-
positionsparteien einen „außerordentli-
chen politischen Fehler“ und sagte wei-
ter: „Ich habe ihnen gesagt, lasst uns eine
vorgezogene Wahl versuchen, sie haben
nein dazu gesagt, was erstaunlich ist. Sie
trauen den Bürgern nicht, wollen keine
Wahl – okay. Vielleicht glauben sie nicht,
gewinnen zu können – fein.“ Er jeden-
falls werde „nach Brüssel gehen, einen
Deal bekommen und sicherstellen, dass
wir am 31. Oktober die Europäische Uni-
on verlassen“.
Als er gefragt wurde, ob er nicht so in
die Enge getrieben sei, dass ihm nur noch
der Rücktritt bleibe, sagte Johnson: „Das
ist eine Hypothese, die ich nicht in Erwä-
gung ziehe.“ Lieber hob er noch einmal
hervor, dass die Briten den Brexit endlich
erledigt haben wollten, und stimmte das
Optimismus-Lied an: Er kritisierte die
„Negativität“, mit der über das Vereinigte
Königreich und seine Möglichkeiten so-
wie über den Brexit gesprochen werde.
„Ich freue mich auf ein Land, in dem wir
nicht mehr ständig darüber streiten, wie
wir am besten aus der Europäischen Uni-
on herauskommen. Ich möchte ein Land
führen, in dem wir eine phantastische
neue Partnerschaft mit unseren Freun-
den jenseits des Kanals bilden und Frei-
handelsverträge in der ganzen Welt ab-
schließen.“
Viel Wirtschaft und ein bisschen Menschenrechte
Trautes Heim, Glück allein:Bürgerlich
ist, wer das Zentralorgan liest.
Zeichnung Wilhelm Busch
Seid doch nicht immer alle so negativ
Die Opposition vereitelt Johnsons Ziel einer vorgezogenen Wahl – dennoch schaltet er schon mal in den Wahlkampfmodus / Von Jochen Buchsteiner
In Schottland:Boris Johnson Foto Reuters
Angela Merkel weilt in
China und pocht
darauf, Hongkongs
Freiheiten zu achten.
Doch stellt sie die
chinesische Führung
nicht bloß –wegen
der wirtschaftlichen
Beziehungen.
Von Friederike Böge
und Eckart Lohse