Die Zeit - 12.09.2019

(singke) #1

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Bis in die Siebzigerjahre, als Kühltruhen in Deutschland
noch nicht so verbreitet waren, hängten Jäger das Wild, das
sie erlegt hatten, daheim im Keller oder in der Scheune ein-
fach an die Decke. Ein paar Tage, manchmal auch länger.
Dabei veränderte sich nicht nur die Chemie im Fleisch,
sondern auch dessen Geschmack: Er wurde immer intensi-
ver und süßlicher. Irgendwann müssen die Leute geglaubt
haben, das sei eben der typische Geschmack von Wild.
Man nannte diesen eigentümlichen Geschmack Hautgout,
Französisch für »hoher Geschmack«. Hoch ist beim Haut-
gout in Wahrheit aber nur der Anteil jener Eiweiße im
Tierkörper, die in Zersetzung begriffen sind. Also der Teil
des Fleisches, der bereits vergammelt. Dank guter Kühlung
kann man heute immer frisches Wildschwein genießen.
Aber wie schmeckt es nun?
Ein Selbstversuch mit Wildschweinfleisch und aller-
lei Wildschweinprodukten. Auf den Grill kommen aus
Wildschwein-Nacken hergestellte Burger-Patties, dazu
Bratwürste. Außerdem gibt es Leberwurst, geräucherten
Schinken, Landjäger und Salami. Die Burger schmecken
dezent-würzig und kommen bei den Gästen gut an. Die
Bratwürste sind manchen zu intensiv. Die Salami rührt erst
keiner an; schneidet man sie auf, ist sie ein bisschen bröse-
lig. Die meisten finden, sie schmecke sehr kräftig, aber gut.
Der Schinken ist hart, hat aber viel Aroma. Auch das pure
Wildschweinfleisch, Nackensteaks, bei anderer Gelegen-

heit zubereitet, schmecken gut. Im Vergleich zu anderen
Wildarten ist Wildschwein sogar recht dezent. Kann man
mit kulinarischer Raffinesse noch mehr herausholen?
Dalad Kambhu, 33, beweist es. Im Berliner Stadtteil Tier-
garten führt die Thailänderin das Restaurant Kin Dee,
kürzlich wurde es mit einem Michelin-Stern ausgezeichnet.
Kambhu war früher Model in New York. Das Kochen habe
sie sich selbst beigebracht, sagt sie. Sie stellt eine Schüssel
Pad Ped auf den Tisch, ein Gericht aus dem Wok mit ro-
tem Curry – und Wildschwein. Wildschweine kenne sie
aus Thailand, sagt sie. Als sie gehört habe, dass es die Tiere
auch in Deutschland gebe, sei sofort klar gewesen, dass sie
sie in ihrem Restaurant anbieten würde. »Warum sollte ich
Hausschweine nehmen, wenn ich das viel natürlichere Pro-
dukt um die Ecke bekommen kann?«
Es ist unwahrscheinlich, dass ein Mecklenburger Wild-
schwein jemals so wundervoll geschmeckt hat wie bei Da-
lad Kambhu. Beim ersten Bissen öffnen sich die Aromen:
frische Kräuter, exotische Gewürze, Chili. Ein Hauch von
Schärfe, eine leichte Süße, mit dem butterweichen Fleisch
in öliger Cremigkeit zusammengebunden. Nur: So richtig
alltagstauglich, dass man selbst Wildschwein-Ignoranten
damit überzeugen könnte, ist es wohl nicht.
Deshalb führt die Reise am Ende auch noch in die Toska-
na. An einem lauen Abend in Cerreto Guidi, einem mittel-
alterlichen Städtchen bei Florenz, findet die Sagra del papero

Auf dem Heavy-Metal-Festival in Wacken isst man Wildschwein – immerhin
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