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Mitte der Neunzigerjahre erkannt und daraufhin die so-
genannte Zero-Tolerance-Politik praktiziert, selbst kleinste
Delikte wurden verfolgt – für Gladwell damals der einzige
Grund für die sinkende Kriminalität.
»Ich glaube, wir haben immer noch nicht durchdrungen,
wie die Kriminalitätsrate in den Neunzigern innerhalb von
zehn Jahren um 75 Prozent gesunken ist. Vermutlich gab
es zehn Gründe, die alle gemeinsam dazu geführt haben.
Ich habe mich damals dazu entschieden, die Polizei strategie
unkritisch zu beschreiben. Davon habe ich mich auch in
meinem letzten Buch distanziert.« Er lehnt sich zurück,
verschränkt jetzt die Arme. »Und dann ist da natürlich diese
Sache mit den 10.000 Stunden.«
Er spielt auf eine der griffigen Botschaften aus seinem Buch
Outliers – The Story of Success an: Jeder könne es zur Meis-
terschaft in einer Sache bringen, wenn er denn nur lange
genug daran arbeite – üben, üben, üben, 10.000 Stunden
lang. Erst wenige Tage vor unserem Treffen haben Wissen-
schaftler Malcolm Gladwell im Guardian für diese These
angegriffen, und es ist nicht das erste Mal.
»Das wurde so oft falsch verstanden«, sagt Gladwell, »es
wurde aus dem Kontext gerissen und karikiert. Wenn
ich das Buch heute noch einmal schreiben würde, würde
ich es wahrscheinlich weglassen.« Er wedelt mit den Ar-
men durch die Luft, so als wollte er die Kritik damit aus
dem Weg räumen, seine Stimme wird lauter. »Ich wurde
für etwas kritisiert, das ich nie gesagt hatte! Und es hört
nie auf!« Er seufzt. Was ihm vorgeworfen werde, sagt er,
»war nie meine Position!«. Was genau war seine Position,
inwiefern wird er missverstanden? »Mir ging es um das
Phänomen Naturtalent: Gibt es Leute, die so talentiert
sind, dass sie ohne Übung in einem komplexen Feld ex-
zellent sein können? Und die Antwort ist: Nein. Selbst die
größten Talente brauchen jede Menge Übung. Die Beatles
waren brillante Musiker, aber sie brauchten ihre Zeit in
Hamburg. Bill Gates ist ein brillanter Programmierer, aber
auch er brauchte viele, viele Jahre an Übung. Das bedeutet
aber natürlich nicht, dass ich das White Album der Beatles
komponieren kann, wenn ich nur genauso lange übe wie
die Beatles in Hamburg. Ich kann es nicht! Ich werde es
nie tun können! Und auch wenn ich 10.000 Stunden lang
Schach spiele, werde ich niemals ein Großmeister! Ich
werde es nie werden! Natürlich brauchst du Talent!«
Seine Stimme wird wieder etwas leiser. »Und das unter-
scheidet meine Position von der Position dieses Typen
namens Ericsson, der diese These ursprünglich aufgestellt
hat.« Er meint den Wissenschaftler Anders Ericsson, der
Jugendliche untersucht hatte, die Geigenunterricht ge-
nommen hatten, und 1993 zu dem Ergebnis gekommen
war, dass die Besten unter ihnen bis zu ihrem 18. Geburts-
tag mindestens 7400 Stunden geübt hatten. »Ericsson
glaubt, dass Talent keine Rolle spielt.« Gladwells Stimme
wird lauter. »Ich habe das nie geglaubt! Und auch nie ge-
schrieben!« Und wieder leiser. »Es ist wirklich frustrierend.
Ach ja, und natürlich gilt das alles nicht für Sport, da gibt
es Naturtalente, die ohne große Übung überragend sein
können. Mir geht es um komplexere Aufgaben.«
Andererseits weiß er natürlich, dass das der Fluch des eigenen
Erfolgs ist. Von Ericssons Forschungsarbeit hatte außerhalb
der Wissenschaft kaum jemand etwas mitbekommen. Erst
als Gladwell sie auf Bill Gates oder die Beatles anwendete
und ausrechnete, dass sie die runde Zahl von 10.000 Stun-
den Übung gebraucht hatten, um in ihrem Feld herausra-
gend zu werden, machte die Theorie Schlagzeilen. »Ich habe
nie gedacht, dass daraus so ein großes Ding werden würde«,
sagt er jetzt. »Mir ging es um etwas anderes. Wenn man ein-
mal verstanden hat, wie viel Zeit und Übung es braucht, um
sich zu entwickeln, dann denkt man anders über Bildung
nach.« Da ist es wieder, sein Lieblingsthema. »Wenn man
also 10.000 Stunden Übung braucht, um ein fantastischer
Schachspieler zu werden, dann geht das nur, wenn die El-
tern alles dafür tun, damit man diese Zeit bekommt. Ich
habe für meinen Podcast einmal Hikaru Nakamura inter-
viewt, einen der besten Schachspieler der Welt. Am Ende
seiner Teenagerjahre war er ein Großmeister. Ich habe ihn
gefragt, wie er das bereits in diesem Alter erreichen konn-
te. Seine Antwort war: ›Ich habe jeden Tag gespielt.‹ Ich
fragte ihn: ›Sie waren ein Teenager, Sie haben sechs Stunden
Schach gespielt, mussten Sie nicht zur Schule?‹ – ›Oh, ich
wurde zu Hause unterrichtet.‹ Pause. Ein triumphierendes
Lächeln in Gladwells Gesicht. Ja, Hikaru ist brillant. Aber
auch er brauchte diese vielen Stunden Training. Er ist in
einem Vorort von New York aufgewachsen – wie war es
ihm überhaupt möglich, mehrmals in der Woche in einem
Schachclub in Manhattan zu üben, über 40 Meilen entfernt
von seinem Elternhaus? Seine Antwort: ›Meine Mutter hat
»Ich bin kein typischer amerikanischer
Demokrat. Ich glaube sehr an den freien
Markt. Ich bin religiöser als viele Libe-
rale. Es ist eine wilde Mischung«