Gibt es uneigennützige
A
nna K., eine talentierte Journa
listin, schreibt für eine bekannte
Tageszeitung. Bei einem Abend
essen, zu dem eine Freundin ein
geladen hat, lernt sie Melanie R.
kennen, die Lektorin in einem
namhaften Verlag ist. Bald sind
beide in ein lebhaftes Gespräch verwickelt; sie unter
halten sich über die Universitäten, auf denen sie
gewesen sind, ihre nächsten Urlaube, ihre kleinen
Kinder und über Lieblingslektüren. Sie kommen
auf das Buch zu sprechen, das Anna gerade schreibt:
eine Reportage darüber, wie Musliminnen in Europa
über den Feminismus denken. Melanie interessiert
sich sehr für das Thema und bittet darum, einen
Blick in das Manuskript werfen zu dürfen. Noch im
selben Monat begegnen sich Anna und Melanie zu
fällig wieder auf einem Benefizkonzert für weibliche
Gewaltopfer. Sie trinken einen Kaffee zusammen,
und Anna lädt Melanie ein, sie auf eine Vernissage
zu begleiten. Bald darauf sind sie miteinander be
freundet. Sechs Monate später unterschreiben Mela
nie und Anna einen Vertrag zur Veröffentlichung
von Annas Buch.
Das ist eine ziemlich langweilige Schilderung,
wie sich zwei Frauen aus der oberen Mittelschicht
kennenlernen. Für Soziologinnen enthält diese Ge
schichte jedoch auch ein Drama: Denn die Freund
schaft der beiden dreht sich nicht nur um gegen
seitige Zuneigung, sondern auch um sozialen Status
und Eigennutz, Motive, die die meisten von uns in
ihren Intimbeziehungen für sich selbst eher bestrei
ten würden. Für Soziologen stehen persönliche Ge
fühle nicht im Widerspruch zu Eigennutz. Tatsäch
lich ist das Eigeninteresse ein unsichtbarer und leiser
Motor, der die Maschine der sozialen Beziehungen
reibungslos antreibt. Anna und Melanie finden
einander »liebenswert« nicht nur aufgrund be
stimmter Persönlichkeitsmerkmale, sondern auch
deshalb, weil sie derselben Schicht angehören, über
einen gemeinsamen Freundeskreis verfügen, kultu
relle Vorlieben teilen und zueinander passende be
rufliche Ziele verfolgen (Anna möchte ihr Buch in
einem angesehenen Verlag veröffentlichen, während
Melanie nach neuen Namen und Themen für ihr
Programm sucht). Durch ihre Freundschaft haben
sie, in der Sprache der Ökonomen gesprochen, et
was ausgetauscht.
Trotz ihrer vielen Differenzen teilen die meis
ten Wirtschaftswissenschaftler und Soziologen die
Annahme, dass die Menschen selbst bei scheinbar
so uneigennützigen Phänomenen wie Liebe,
Freundschaft oder Liebe zur Kunst grundsätzlich
auf den eigenen Vorteil bedacht sind. Der US
Ökonom Gary Becker, Wirtschaftsnobelpreisträ
ger von 1992, propagierte den Gedanken, dass al
len menschlichen Interaktionen ein eigennütziges
Element innewohnt. Für ihn waren menschliche
Beziehungen durch den Zweck motiviert, einen
bestimmten Nutzwert zu steigern: Ich habe Kin
der, weil ich möchte, dass sie sich im Alter um
mich kümmern; ich schließe Freundschaften im
Kollegenkreis, weil sie mich womöglich beruflich
weiterbringen können; ich heirate diesen Mann,
weil er gute Gene hat und sehr arbeitsfähig ist
und so weiter. Soziologinnen und Soziologen
sprechen nicht auf so grobe Weise von Nutzen,
sie glauben aber auch, dass Menschen, wenn sie
Freundschaften eingehen oder heiraten, nach Sta
tus streben, Klasseninteressen verteidigen und das
Kapital zu maximieren suchen, das ihnen ihre
sozialen Netze einbringen.
Man kann (und man sollte vielleicht auch) gegen
einen derartigen Zynismus protestieren. Kennen wir
Rede: Das Eigeninteresse treibt
auch unsere kostbarsten Empfindungen
an. Ganz natürlich VON EVA ILLOUZ
nicht alle jemanden, der sich um einen alten und kran
ken Elternteil gekümmert hat, ein Verhalten, für das es
keine erwartbare Gegenleistung geben kann? Unterschei
den wir nicht alle strikt zwischen der Freundin, die eine
Verabredung mit uns platzen lässt, weil sie von einem
»nützlichen Kollegen« eingeladen wurde, und der Freun
din, die ihr Wort hält?
Natürlich tun wir das, und trotzdem denken wir
wie die Ökonominnen und Soziologinnen, insofern
wir den Eigennutz für zügellos und allgegenwärtig
halten. Wenn wir Menschen als »Arschkriecher« oder
»Speichellecker« bezeichnen, machen wir nichts ande
res als die Soziologen: Wir vermuten, dass Eigennutz
in scheinbar freundschaftlichen und herzlichen Bezie
hungen waltet. Wir tun dies, weil Uneigennützigkeit
ein zentrales Merkmal unserer moralischen Welt ist.
In dem Film Noir Die Spinne (Black Widow) von
1954 ist die Hauptfigur eine kaltblütige Erpresserin,
die von anderen Protagonisten wiederholt als »a girl
with a purpose« bezeichnet wird, »eine, die weiß, was
sie will«, eine junge Frau, die sich mit den Leuten an
freundet, die ihr im Leben weiterhelfen werden – eine
Formulierung, die nahelegt, dass es einen an den
Rand des Unmoralischen bringt, wenn man weiß,
was man will.
Endlos ist die Zahl der historischen und aktuellen
Hollywoodfilme, in denen die – in der Regel weib
liche – Hauptfigur einen »Uneigennützigkeitstest«
absolvieren muss: Nur wenn sie am gewaltigen Ver
mögen eines Mannes wirklich kein Interesse zeigt,
kann der Zuschauer (und der Mann) ihre Gefühle
ernst nehmen. (Douglas Sirks In den Wind geschrieben
von 1956 oder der Blockbuster Pretty Woman von
1990 sind Paradebeispiele dafür). Um liebenswert zu
sein, muss ein fiktionaler oder realer Charakter den
Verdacht des Eigeninteresses ausräumen.
Nun haben es Interesselosigkeit oder Selbstlosigkeit
als moralische Norm schwer, da das Eigeninteresse
weithin als natürlich und legitim gilt – legitim, weil es
als Teil der menschlichen Natur gesehen wird. Man
vergleiche dies mit der moralischen Norm der Auf
richtigkeit: Wir glauben, Menschen sollten aufrichtig
sein, obwohl wir es nicht für »normal« oder »natürlich«
halten, dass Menschen lügen. Im Fall der Interesselosig
keit gilt das jedoch nicht. Wir haben hohe Achtung vor
ihr, halten Eigennutz aber für natürlich. Wir beenden
eine Beziehung, wenn unser Partner unsere Bedürfnisse
nicht mehr erfüllt; wir entscheiden uns für einen besser
bezahlten Beruf, statt einer sinnvolleren, aber schlech
ter bezahlten Tätigkeit nachzugehen. In vielen Berei
chen ist Eigennutz nicht nur legitim, sondern vernünf
tig, einfach das, was ein zurechnungsfähiger Mensch zu
Recht tun würde. Menschen, die ihre eigenen Interes
sen völlig aus dem Blick verlieren und ein Leben der
Selbstaufopferung führen, gelten uns als »neurotisch«,
»schwach«, »masochistisch« und alles in allem nicht
ganz glaubwürdig.
Der Eigennutz führt uns somit anscheinend zum
Kern eines tiefen kulturellen Dilemmas: Wenn das
Eigeninteresse so natürlich, legitim und beherrschend
ist, warum laufen wir dann vor Scham rot an, wenn
wir bei eigennützigem Handeln ertappt werden?
Wenn Beziehungen oft mit Interessen durchsetzt und
vermengt sind, warum bestehen wir dann darauf,
unsere emotionalen Bindungen als uneigennützig zu
bezeichnen?
Diese Fragen sind nicht ganz neu. Tatsächlich
trieben sie schon die Philosophen des 18. Jahrhun
derts um, als sie das in ihren Augen allzu einfache
Bild der menschlichen Natur kritisierten, welches
die epikureische Philosophie entworfen hatte. Für
diese bildeten körperliche Schmerz und Lustemp
findungen sowie Selbstliebe die obersten Prinzipien
Jeder strebt nach dem eigenen Vorteil und bringt das Kapital der Gefühle in seine sozialen Netze ein. Foto: Jonpaul Douglass des Handelns.
Fotos (Ausschnitte): Jonpaul Douglass (l.); Jonas Opperskalski/laif; Joel Saget/AFP/Getty Images
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Jeder kann etwas tun, es muss nicht radikal
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©JeffMermelstein
Autor
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