Frankfurter Allgemeine Zeitung - 13.09.2019

(lily) #1

SEITE 10·FREITAG, 13. SEPTEMBER 2019·NR. 213 Zeitgeschehen FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


M


itseiner ungebrochenen Leiden-
schaft erklärt Winfried Kretsch-
mann, warum er zur nächsten Land-
tagswahl noch einmal antritt. Das al-
lein wird aber nicht der Grund sein,
warum er es noch einmal wissen will.
Pflichtgefühl wird wohl auch hinzukom-
men. Denn ohne Kretschmann hätten
die Grünen Mühe, ihre nach wie vor au-
ßergewöhnliche Stärke in Baden-Würt-
temberg zu halten. Das heißt auch: Es
gibt noch niemanden in der Landespar-
tei, der ihn ersetzen könnte. Cem Özde-
mirs Entscheidung, den Fraktionsvor-
sitz in Berlin anzustreben, deutete dar-
auf hin, dass er nicht der Auserkorene
ist oder sein will. Andere Kandidaten
wie die Oberbürgermeister Boris Pal-
mer (Tübingen), Fritz Kuhn (Stuttgart)
oder Dieter Salomon (ehemals Frei-
burg) sind entweder in der Partei um-
stritten oder waren, wie Salomon, zu-
letzt auf der Verliererstraße. Kretsch-
mann dagegen ist immer noch derjeni-
ge Grüne, der den Aufschwung im
Bund vorweggenommen und dadurch
Maßstäbe gesetzt hat. Mit ihm gehen
die Grünen das geringste Risiko ein.
Mit anderen Worten: In der CDU knir-
schen sie mit den Zähnen. kum.


D


as ist eine gewaltige Dimension:
Mehrere hundert Milliarden Euro
müssten die EU-Staaten laut Europäi-
schem Rechnungshof in ihre Verteidi-
gung investieren, um sich von den Ver-
einigten Staaten unabhängig zu ma-
chen. Dass die militärischen Fähigkei-
ten vieler europäischer Länder zu wün-
schen übrig lassen, ist bekannt. Aber
ein Defizit von Hunderten Milliarden
Euro ist trauriges Ergebnis jahrelanger
budgetärer Versäumnisse und politi-
scher Illusionen. Selbst wenn der Aus-
gleich eines Defizits von der Größe jen-
seits der politischen Vorstellungskraft
liegt, so führt kein Weg daran vorbei,
dauerhaft mehr Geld für Verteidigung
auszugeben. Wer das nicht will, sollte
das von Macron geprägte Schlagwort
„europäische Souveränität“ nicht stän-
dig im Munde führen. Damit ist zwar in
erster Linie das selbstbewusste Wahr-
nehmen europäischer Interessen im po-
litischen Sinn gemeint, doch braucht
das eine feste militärische Grundlage.
Selbstbestimmt kann nur handeln, wer
viele Pfeile im Köcher hat, unabhängig
davon, ob man militärische Unabhän-
gigkeit von Amerika überhaupt für ein
erstrebenswertes Ziel hält. K.F.


E


ine Posse: Das deutsche Leistungs-
schutzrecht scheitert, weil die
Bundesregierung es seinerzeit ver-
säumt hatte, dieses Vorhaben der EU-
Kommission ordnungsgemäß zu notifi-
zieren. Auch wenn man darüber strei-
ten kann, ob das tatsächlich erforder-
lich war – man hätte es sicherheitshal-
ber machen müssen. Die Kosten tra-
gen die Zeitungsverlage. Sie tragen oh-
nehin die Kosten einer Missachtung ih-
rer Rechte durch die Internetgiganten,
die auch von Zeitungsinhalten leben.
Dagegen richtete sich das Leistungs-
schutzrecht – über das man natürlich
streiten kann, um das es aber inhalt-
lich vor dem Europäischen Gerichts-
hof nun gar nicht ging. Jetzt ist es wich-
tig, das europäische Leistungsschutz-
recht zügig in deutsches Recht zu über-
führen. Es ist ein Versuch, von Suchma-
schinengiganten einen Ausgleich für
das eigene Stück eines im Grunde
schon vereinnahmten Kuchens zu er-
halten. Im Kern geht es dabei um den
Wert von Inhalten, um die Rechte an ei-
genen Leistungen – und um die Zu-
kunft der freien Presse. Und das ist kei-
ne Posse. Mü.


Wenn sich Winfried Kretschmann im
politischen Alltag für alle Entscheidun-
gen so viel Zeit lassen würde wie für
die über seine eigene Zukunft, wäre er
wohl schon längst nicht mehr Minister-
präsident Baden-Württembergs. Nach
mehr als einem Jahr des Nachdenkens
kam er nun zu dem Ergebnis, dass er
seine Partei in zwei Jahren noch einmal
in den Wahlkampf führen möchte. Nor-
malerweise sind es die Jugendorganisa-
tionen der Parteien, die Fraktionsvorsit-
zenden oder junge, ehrgeizige Kabi-
nettsmitglieder, die zu gegebener Zeit
am Stuhl eines Ministerpräsidenten mit
Bohr- oder Sägearbeiten beginnen. Im
Fall Kretschmann ist es völlig anders:
An dem Thema hatten vor allem die
Medien und die politischen Gegner
Kretschmanns ein Interesse. Denn bei
den Grünen, einer früher streng antiau-
toritären sowie machtkritischen Partei,
ist der nach Umfragen beliebteste Mi-
nisterpräsident der Garant für den
Volksparteistatus, den die Ökopartei
im Südwesten auf einem soliden Funda-
ment erreicht hat.
Kretschmann konnte also über die
Frage, ob er sich Ende nächsten Jahres
noch einmal zum Spitzenkandidaten
wählen lässt, frei und wie ein Patriarch
entscheiden. 2011 stellte ihm seine Par-
tei ziemlich neurotisch noch ein Team
an die Seite. Das zeigt auch, dass er spä-
testens jetzt den Zenit seines politi-
schen Lebens erreicht haben dürfte.
Denn weder in den knapp achtzehn Mo-
naten bis zur Landtagswahl noch in der
darauf folgenden Legislaturperiode
dürfte seine Staatskanzlei eine Kom-
fortzone sein. Der Klimawandel, die
Transformation der Automobilindus-
trie, der Rechtspopulismus und eine
CDU, die wieder zur stärksten Partei
werden möchte, werden es dem Grü-
nen schwermachen. Es könnte aber
auch sein, dass er seine Möglichkeiten
überschätzt hat. Es gelingt ihm zwar im-
mer noch, die spröde Politik philoso-
phisch zu überhöhen und auf das auszu-
weichen, was man an der Universität
Metadiskurs nennt. Er hat es – gerade
in der Koalition mit der CDU – ge-
schafft, alle relevanten politischen Fra-
gen rechtzeitig zur Chefsache zu ma-
chen. Die dauerhaft guten Popularitäts-
werte des Ministerpräsidenten überde-
cken auch Ermüdungserscheinungen in
der grün-schwarzen Koalition und bei
einigen grünen Ministern.
Winfried Kretschmann stammt aus
einer Familie aus dem Ermland, die in
Oberschwaben nach dem Ende des
Zweiten Weltkriegs eine neue Heimat
fand. Sein Vater war Lehrer, er wuchs
in einem gebildeten, katholischen El-
ternhaus auf, studierte die Fächer Biolo-
gie, Chemie und Ethik, was bis heute
zu spüren ist, wenn er über das Arten-
sterben oder den Nationalpark refe-
riert. 1979 gehörte er zu den Grün-
dungsmitgliedern der Grünen, früh ent-
wickelte er sich zu einem eigenwilligen
Realo. Immer wieder lag er mit seiner
Partei im Streit, als früher Verfechter
schwarz-grüner Koalitionen machte er
sich unbeliebt – die gesellschaftliche
Entwicklung gab im später recht. Er ist
mit der Grundschullehrerin Gerlinde
Kretschmann verheiratet und hat drei
erwachsene Kinder. Seine knapp be-
messene Freizeit verbringt er in der
Stuttgarter Oper oder in der Holzwerk-
statt in seinem Haus in Sigmaringen-
Laiz. RÜDIGER SOLDT

Das Maß der Grünen


Winfried KRETSCHMANN Foto Imago


HAMBURG, 12. September
Als der schwedische Ministerpräsident Ste-
fan Löfven in dieser Woche das Parlament
nach der Sommerpause wiedereröffnete,
blickte er kurz in die weite Welt, um seine
Regierung im kleinen Schweden zu loben.
Zumindest indirekt. Überall auf der Welt,
sagte Löfven, würden die politischen Kräf-
te aufsteigen, die Intoleranz förderten, Iso-
lation und simple Antworten auf komple-
xe soziale Probleme. „Schweden hat einen
anderen Weg gewählt.“ Es ist eine Bot-
schaft, die Löfven schon öfter vorgetragen
hat. Sie fasst zusammen, was die vier Par-
teien zusammengeführt hat, die ihn zum
Ministerpräsidenten gemacht haben. Sie
alle einte der Wille, den rechtspopulisti-
schen Schwedendemokraten keinen Ein-
fluss auf die Regierungspolitik zu gewäh-
ren. Viele Jahre lang schon wird die Partei
im Parlament isoliert. Aber im bürgerli-
chen Lager deuten sich langsam Verände-
rungen an. Das zeigt sich gerade, da die
schwedische Politik nach Wegen sucht,
um die Banden-Kriminalität im Land zu
bekämpfen.
Überall in den Ländern des Nordens
gibt es starke rechtspopulistische Kräfte.
Und von Kopenhagen bis Helsinki haben
sie in der einen oder anderen Form in den
vergangenen Jahren Einfluss auf die Poli-
tik ausgeübt. Am stärksten in Dänemark,
wo die Dänische Volkspartei über viele
Jahre bürgerliche Regierungen gestützt
hat. In Norwegen ist die Fortschrittspartei
seit 2013 sogar Koalitionspartner, und in
Finnland waren es die Finnen, die einst
Wahre Finnen hießen, in der letzten Regie-
rung auch – bis sie sich radikalisierten und
spalteten. Nur in Schweden ist alles an-
ders. Da sind die Schwedendemokraten
2010 das erste Mal ins Parlament gekom-
men, und seitdem bei jeder Wahl stärker

geworden. Bei der Parlamentswahl vor ei-
nem Jahr kamen sie auf gut 17 Prozent. Di-
rekten Einfluss auf die Politik hatten sie
trotzdem nie. Geschadet hat es der Partei
bislang nicht.
Für die anderen Parteien aber wurde es
immer schwieriger, Mehrheiten zu finden
ohne die Schwedendemokraten. Das zeig-
te sich nach der vergangenen Wahl. Es
dauerte Monate, bis Löfven seine Mehr-
heit zusammenhatte. Zwei Parteien aus
dem bürgerlichen Lager, die Liberalen
und die Zentrumspartei, hatten sich nach
langem Zögern entschieden, seine rot-grü-
ne Koalition zu stützen. Auch weil sie es
nicht riskieren wollten, dass ein bürgerli-
cher Ministerpräsident von den Stimmen
der Schwedendemokraten abhängig sein
könnte – und diese so Einfluss gewönnen.
Die Moderaten, die größte Partei im bür-
gerlichen Block, waren empört.
Der Umgang mit den Schwedendemo-
kraten ist für die bürgerlichen Parteien ein
schwieriges Thema. Bei den Moderaten
hat einst eine Vorsitzende ihren Sturz ein-
geleitet mit dem Versuch, sich den Schwe-
dendemokraten etwas anzunähern. Im
Wahlkampf hat ihr Nachfolger, Ulf Kris-
tersson, zwar klargemacht, dass er nicht
mit den Schwedendemokraten zusammen-
arbeiten will, aber er hätte doch ihre Dul-
dung gebraucht, um nach der Wahl Minis-
terpräsident zu werden. Dazu aber kam es
nicht – weil die Liberalen und die Zen-
trumspartei im Parlament erst gegen Kris-
tersson stimmten und später Löfven als
Ministerpräsidenten passieren ließen.
Im bürgerlichen Block haben die Mona-
te nach der Wahl zu einiger Irritation ge-
führt, zu tiefen Rissen – und offensichtlich
zu neuen Gedanken zum Umgang mit den
Schwedendemokraten. Den Anfang mach-
ten die Christdemokraten, eine kleine Par-

tei. Die Parteivorsitzende Ebba Busch
Thor provozierte im Sommer Aufregung,
als sie sich mit dem Parteivorsitzenden
der Schwedendemokraten Jimmie Åkes-
son zu einem Arbeitsessen traf – so etwas
hatte es noch nicht gegeben. Busch Thor
äußerte, es gebe in einigen Punkte gute
Voraussetzungen für ein gemeinsames
Vorgehen. Sie erwähnte die Migrationspo-
litik. Das war schon ein kleines Ausrufezei-
chen. Entscheidend aber ist, wie die Mode-
raten es künftig mit den Schwedendemo-
kraten halten. Und da deutet sich bei dem
zentralen Thema der schwedischen Innen-
politik gerade ein Wandel an – dem
Kampf gegen die Gang-Kriminalität.
Schweden ist in den vergangenen Mona-
ten immer wieder erschüttert worden von
Gewalt und Verbrechen von Banden. Erst
im August war eine Frau in Malmö auf of-
fener Straße erschossen worden, sie hatte
ein Kind in ihrem Arm. Die Empörung im
Land ist groß, der Druck, etwas zu tun,
ebenso. Also lud die Regierung alle Partei-
en im Parlament zu Gesprächen ein, um
ein gemeinsames Abkommen zu beschlie-
ßen. Alle Parteien – außer den Schweden-
demokraten. Darauf reagierten die Mode-
raten entrüstet. Ulf Kristersson kritisierte
die Entscheidung der Regierung, die
Schwedendemokraten nicht einzuladen.
Seine Partei legte zudem eine Liste von
zehn recht weitgehenden Forderungen im
Kampf gegen die Banden-Kriminalität
vor. Die ersten beiden Treffen in der vori-
gen Woche und am Mittwoch fanden trotz-
dem ohne Schwedendemokraten statt.
Die Moderaten gingen aber noch einen
Schritt weiter. Johan Forssell, ihr rechtspo-
litischer Sprecher, nahm direkten Kontakt
auf. Das sorgte für Aufsehen. Er habe die
Schwedendemokraten einfach angerufen,
erzählt er, und gefragt, was sie von der Lis-

te mit den zehn Forderungen halten. Es
geht um mehr Polizisten, höhere Strafen
und zum Beispiel auch die Möglichkeit,
anonym auszusagen. Bei einzelnen Punk-
ten hätten die Schwedendemokraten sich
positiv geäußert, sagt Forssell. Auch er kri-
tisiert die Entscheidung, dass die Schwe-
dendemokraten nicht an den Gesprächen
beteiligt wurden. Wenn man es ernst mei-
ne mit einem Abkommen über Parteigren-
zen hinweg, sei es ein Fehler, die Partei
nicht einzuladen. Ob man sie nun möge
oder nicht, sie repräsentierten 17 Prozent
der schwedischen Wähler, sagt er. „Das ist
die Realität.“ Es sollte möglich sein, mit al-
len Parteien im Parlament zu reden und zu
diskutieren, sagt Forssell. Seine Partei ver-
folge diese Strategie seit der vergangenen
Wahl. Sein Anruf bei den Schwedendemo-
kraten habe diese Strategie nur hervorge-
hoben.
Die Wähler der Moderaten scheinen
den Kurs jedenfalls zu begrüßen. Einer
Umfrage zufolge, die gerade in der schwe-
dischen Zeitung „Dagens Nyheter“ veröf-
fentlicht wurde, befürworten etwa 60 Pro-
zent der Partei-Anhänger Verhandlungen
und Abkommen mit den Schwedendemo-
kraten. Als vor einem halben Jahr das letz-
te Mal danach gefragt worden ist, waren
es deutlich weniger. Es ist allerdings frag-
lich, ob diese Strategie nun beim Kampf
gegen die Banden-Kriminalität schon kon-
krete Auswirkungen haben wird. Die Ge-
spräche der übrigen Parteien gehen erst
einmal weiter. Ergebnisse gibt es aber
noch nicht. Und da man nach den ersten
zwei Treffen noch nicht einmal verhandle,
sei es schon etwas frustrierend, sagt Fors-
sell. Es gebe eine Krise, die Menschen ver-
langten nach Taten. Das nächste Treffen
soll in zwei Wochen stattfinden. Wieder
ohne die Schwedendemokraten.

PARIS, 12. September


F


ürdie Debatte über „bürgerliche“
Bündnisse zwischen AfD und CDU/
CSU verspricht ein Blick nach
Frankreich wichtige Erkenntnisse. Die
französische Schwesterpartei von CDU/
CSU, die seit 2015 den Namen Les Répu-
blicains (LR) führt, streitet seit gut zwei
Jahrzehnten über den Umgang mit einer
starken Kraft am rechten Rand. Der Ein-
wand, dass die AfD anders als der in sei-
ner Gründungsphase neofaschistisch inspi-
rierte Front National (heute: Rassemble-
ment National) andere Entstehungsmoti-
ve hatte, fällt angesichts des europäischen
Bündnisses der beiden Parteien in der
Fraktion „Identität und Demokratie“
kaum noch ins Gewicht. Unter der Füh-
rung Marine Le Pens seit 2011 hat die Par-
tei politische Salonfähigkeit erreicht und
geht strikt gegen antisemitische und
rechtsradikale Mitglieder vor. Der Fall des
Franzosen Guillaume Pradoura, der inzwi-
schen als parlamentarischer Mitarbeiter
des AfD-Europaabgeordneten Maximilian
Krah arbeitet, ist in dieser Hinsicht be-
zeichnend. Pradoura war wegen einer anti-
semitischen Entgleisung als parlamentari-
scher Mitarbeiter des RN-Europaabgeord-
neten Nicolas Bay entlassen und aus sei-
ner Partei ausgeschlossen worden, bevor
er von der AfD rehabilitiert wurde.
Die bürgerliche Rechte in Frankreich
hat seit dem Aufstieg des Front National
(FN) zu einer ernstzunehmenden Kraft
auf lokaler, regionaler und schließlich na-
tionaler Ebene unterschiedliche Phasen
durchlaufen: strikte Abgrenzung, Eindäm-
mung, Themenaneignung, das Umwer-
ben der Wähler und zuletzt den Versuch,
die Partei rechts zu überholen. Rückbli-
ckend lässt sich feststellen, dass allein die
vom damaligen Präsidenten Jacques Chi-
rac verteidigte Strategie der strikten Ab-
grenzung die Attraktivität seiner Partei
für die bürgerliche Wählerschaft sicherte.
Anders als in Deutschland stand in Frank-
reich in der Sprachwahl dabei nicht die
Bürgerlichkeit, sondern die Republik („la
République“) für den Wunsch, den Werte-
kanon der offenen Gesellschaft zu vertei-
digen.
Gegen den FN, der mit seinem Ruf
nach einer „nationalen Präferenz“ diese
Werte auszuhöhlen drohte, wurde ein

„Front républicain“ gebildet. Das war
schon zur Jahrtausendwende nicht selbst-
verständlich. Bei den Regionalwahlen
1998 hatten sich in gleich fünf Regionen
Parteifreunde des früheren Präsidenten
Valéry Giscard d’Estaing mit Stimmen
des FN an der Macht gehalten. Jean-Ma-
rie Le Pen wollte damals testen, wie ernst
es der bürgerlichen Rechten mit ihrer Zu-
rückweisungsstrategie war. In der konser-
vativen Zeitung „Le Figaro“ warb Jean
d’Ormesson dafür, den Machterhalt der
Rechten zu sichern, „indem wir den FN
aus dem politischen Getto holen“. Chirac
als starke Führungspersönlichkeit wies
seine Parteifreunde zurecht: „Wir dürfen
uns nicht kompromittieren.“ Die frühe Po-
sitionierung gestattete es ihm 2002, als
Kandidat der „republikanischen Front“
mit mehr als achtzig Prozent der Stim-
men gegen Le Pen wiedergewählt zu wer-
den.
Auch Nicolas Sarkozy hielt am Dogma
seines Vorgängers fest, keine Kooperatio-
nen mit der Partei Le Pens einzugehen.

Aber im Wahlkampf 2007 besetzte er er-
folgreich Themen wie Angst vor Über-
fremdung und unkontrollierten Einwan-
derungsströmen, vor Kriminalität und
wachsender Unsicherheit, die bis dahin
zu Le Pens Repertoire gezählt hatten. Der
Einfluss von Sarkozys Berater Patrick
Buisson, der zuvor jahrelang Le Pen zuge-
arbeitet hatte, war dabei beträchtlich. Auf
Buissons Anregung geht beispielsweise
die Idee eines Ministeriums für „Einwan-
derung, Integration und nationale Identi-
tät“ zurück, das die Kehrtwende in der Mi-
grationspolitik symbolisieren sollte. Nach
drei Jahren wurde das Ministerium für
„nationale Identität“ mangels nachweis-
barer Ergebnisse wieder aufgelöst und die
Zuständigkeit für die Einwanderungspoli-
tik von neuem beim Innenminister veror-
tet. Die Wahlkampfstrategie des „The-
menklaus“ beim FN, mit der Sarkozy die
Partei an den Urnen so erfolgreich auf
zehn Prozent gedrückt hatte, erwies sich
als kurzlebig. 2012 erschien Sarkozy trotz
eines offensichtlichen Rechtsrucks, der

auch zur Ausladung der Bundeskanzlerin
als Wahlkampfhelferin führte, nur noch
wie eine billige Kopie. Die Wähler stärk-
ten lieber das Original, das mit der neuen
Parteichefin Marine Le Pen zudem ein ge-
fälligeres Gesicht bot.
In den Vorwahlen 2016 warb allein
Alain Juppé für eine Rückkehr zu Chiracs
klarer Abgrenzungsstrategie. Das machte
ihn zur Zielscheibe einer Kampagne, in
der er als naiver Verfechter einer „glückli-
chen Identität“ in einer Multikulti-Gesell-
schaft, als Verteidiger unkontrollierter
Einwanderungsströme oder gar als „Ali“
Juppé angeprangert wurde. Die Mehrheit
der rechtsbürgerlichen Vorwähler zog in
der entscheidenden Stichwahl François
Fillon vor, der sich mit einer Streitschrift
„gegen den islamischen Totalitarismus“
empfohlen hatte. Fillons Wahlkampf
scheiterte nicht nur an Korruptionsvor-
würfen, sondern auch an seinem Glau-
ben, dass ihm die Rückbesinnung auf den
reaktionären Kern der Partei Wähler vom
rechten Rand zutreiben würde.
Die Strategie scheiterte, auch wenn Fil-
lon nach seiner Niederlage an die „repu-
blikanische Front“ erinnerte und seine
Wähler aufrief, für Emmanuel Macron
zu stimmen, um Marine Le Pen zu verhin-
dern. Laurent Wauquiez verweigerte sich
dieser Wahlempfehlung. Als Parteichef
löste er die sprachliche Abgrenzung zu
Le Pens Vokabular auf und warb für eine
Wende, „damit Frankreich Frankreich
bleibt“. „Es gab noch nie so viele Einwan-
derer“, beklagte er. Bei den Europawah-
len schickte Wauquiez den Philosophie-
lehrer François-Xavier Bellamy ins Ren-
nen, der als Gegner von Abtreibungen
und Homoehe in der Wertedebatte reak-
tionärer auftrat als Le Pen. Damit ge-
wann die Partei keinen Le-Pen-Wähler
zurück, trieb aber die rechtsbürgerlichen
Wähler massiv der Präsidentenpartei Ma-
crons in die Arme.
Bei den Europawahlen im Mai
schrumpfte LR unter die symbolische
Zehn-Prozent-Grenze auf knapp 8,5 Pro-
zent der Wählerstimmen. Wauquiez trat
vom Parteivorsitz zurück, ein Nachfolger
soll Mitte Oktober bestimmt werden. Sar-
kozy formulierte es sarkastisch: Fillon
habe das Grab seiner Partei geschaufelt,
Wauquiez nagele den Sarg zu.

Gewaltiges Defizit


Mehr als eine Posse


Immerweiter


Ausgrenzung kann helfen


Französische Erfahrungen im Umgang mit angeblich „bürgerlichen“ Rechtsradikalen / Von Michaela Wiegel


Gemeinsam gegen die Banden


Wie der Kampf gegen Kriminelle den Umgang mit den Schwedendemokraten ändern könnte / Von Matthias Wyssuwa


Es wird einsamvor dem Emblem der „Republikaner“. Foto AFP


ZWISCHEN


DEN


ZEILEN


DER F.A.Z.-KONGRESS


Mit freundlicher
Unterstützung von

Ausv e r k au f
t

Am 26. September findet der erste F.A.Z.-Kongress statt mit mehr als 30 Veranstaltungen aus Politik,
Wirtschaft, Sport, Feuilleton, Rhein-Main, FAZ.NET und aus dem F.A.Z.-Verlag.Verfolgen Sie eine Auswahl
der Veranstaltungen live auffaz.net/fazkongress.

Darunter Gespräche mit unseren Gästen:


Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin
Christian Sewing,Vorstandsvorsitzender Deutsche Bank AG
Robert Habeck, Schriftsteller, Publizist und Bundesvorsitzender
Bündnis 90/Die Grünen
Sigmar Gabriel, Mitglied des Bundestages
Volker Bouffier, Ministerpräsident des Landes Hessen

Das detaillierte Programm finden Sie unterfazkongress.de

Free download pdf