Frankfurter Allgemeine Zeitung - 13.09.2019

(lily) #1

SEITE 14·FREITAG, 13. SEPTEMBER 2019·NR. 213 Feuilleton FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


WIEN, 12. September
Warum, bei allen Dämonen, Doderer?
Weder Franz Carl Heimito („bis 10.
April 1919: Ritter von“, wie süffisant
und bezugnehmend auf die Abschaf-
fung der Adelstitel in Österreich mit
ebenjenem Tag das Lexikon anmerkt)
Doderer, geboren am 5. September
1896, gestorben am Tag vor Heilig-
abend 1966, noch eines seiner Roman-
werke beginge in diesen Tagen, in die-
sem Jahr irgendein nennenswertes
oder gar rundes Jubiläum. Heute ist er
noch unter dem selbstgewählten, we-
nig originellen Nom de Plume „Hei-
mito von Doderer“ bekannt und war ir-
gendwie verschachtelt (Urgroßneffe
mütterlicherseits) mit dem österrei-
chischen (spät)romantischen Dichter
Nikolaus Lenau verwandt. Der bislang
letzte Versuch, den spätestens seit den
1980er Jahren sanft dem Vergessen ent-
gegenschlummernden Autor Doderer
wieder ins Bewusstsein der Leseöffent-
lichkeit zu ziehen, war dem österrei-
chischen Literaturkritiker Klaus Nüch-
tern mit „Kontinent Doderer. Eine
Durchquerung“ (F.A.Z. vom 21. Dezem-
ber 2016) vorbehalten geblieben. Bis
jetzt. Nun eröffnen sowohl das Theater
in der Josefstadt als auch das Wiener
Volkstheater, noch dazu, wie beide Di-
rektionen durchaus glaubhaft versi-
chern, ohne vorherige Absprache, die
Spielzeit mit je einer Doderer-Roman-
adaption.
In der Josefstadt nimmt man sich, in
der Bearbeitung von Nicolaus Hagg, Do-
derers „Die Strudlhofstiege oder: Mel-
zer und die Tiefe der Jahre“ an. Im
Volkstheater, wo die hierbei Regie füh-
rende Direktorin Anna Badora gleich
eine Überschreibung durch Franz Ste-
fan Griebl, bekannt unter dem Aliasna-
men „Franzobel“, in Auftrag gegeben
hat, widmet man den Saisonauftakt
dem vielleicht unterhaltsamsten Wäl-
zer „Die Merowinger oder: Die totale
Familie“. Gemeinsam ist diesen beiden
Abenden die ungefähre Aufführungs-
dauer von jeweils etwa zweieinhalb
Stunden, inklusive Pause. Aber man
geht durchaus je anders an die Sache
heran.
Unter der Regie des Josefstadt-erfah-
renen Janusz Kica müht sich das Ensem-
ble, der immerhin halbwegs stringenten
Handlung mehr als den Versuch einer
Nacherzählung des in Nebenhandlun-
gen, Lokalbeschreibungen und zahlrei-
che Privatgeschichten zerfließenden Ro-
mans abzuringen. Die das Buch um-
klammernde Erzählung vom tragischen
Straßenbahnunfall einer gewissen
Mary K. – sie verliert „das rechte von
zwei sehr schönen Beinen“, das ihr
nach einem Sturz vor die Tram von die-
ser „gleich über dem Knie“ abgetrennt
wird –, die vom Titelhelden Major Mel-
zer dereinst verehrt wurde, bleibt vage
erhalten. Im Mittelpunkt steht aber
ebenjener Major Melzer, dem Doderer
einen Vornamen verweigert („jener
war einfach ,der Melzer‘, immer. Was
brauchte der einen Vornamen?“). Mel-
zer also, von Ulrich Rheinthaller stets
betroffen dreinblickend, egal, ob in k.-
u.-k.-Uniform oder Frack gekleidet, dar-
gestellt, will in dieser Bühnenadaption
eigentlich nur weg, von allem. Hält sich
dazu gleich beim ersten Auftritt einen
Revolver an die Schläfe, wird aber vom

Geist seines einstigen Offizierskamera-
den Laska erst einmal davon abgehal-
ten. Ob sich Melzer, abweichend von
der Erzählung der „Strudlhofstiege“,
am Ende doch noch erschießt – immer-
hin ahnt er, was im Buch gleichfalls
nicht thematisiert wird, dass er nach
1938 dem „Führer“ dienen wird –,
bleibt offen, ist aber sehr wahrschein-
lich. Denn es knallt, als der Vorhang
fällt.
In der Franzobel-Version im Volks-
theater wird auf Doderers behäbigen
Sprachstil nurmehr in der Person des
Schriftstellers Doktor Döblinger (der
hat in „Die Merowinger“ an sich keinen
großen Auftrag, ist aber als Doderers
Alter Ego nicht zu verkennen), als der
Sebastian Pass meist im längsgestreif-
ten Pyjama, wenngleich mit Hut, her-
umstolziert und „Watschen“, also Ohr-

feigen, verteilt, Rücksicht genommen.
Die Hauptperson, Baron Childerich III.
von Bartenbruch, hier von Peter Fa-
sching meist halb nackt und wenigstens
glaubhaft wütend angelegt, will, wie ja
der Untertitel bereits suggeriert, durch
komplizierte und waghalsige Verheira-
tungen und Adoptionen seiner selbst
zum eigenen Vater, Onkel, Cousin,
Großvater, Neffen, Schwager und was
sonst noch, mithin als Person „die tota-
le Familie“ werden.
Bereits beim Lesen kommt einem das
wie eine Schnapsidee vor. Auf der Büh-
ne geht das dann vollends schief. Man
lacht nicht einmal über die Ohrfeigenor-
gien, die etwa der Psychiater Dr. Gallus
Horn – der heillos unterforderte Tho-
mas Frank – als Antiwuttherapie auffüh-
ren lässt. Selbst die mindestens vier Um-
schreibungen Doderers für diverse Gra-
de der Prügelverabreichung von „plau-
zen“ bis „plombieren“ werden auf Letz-
teres beschränkt. Da kann auch die an
sich unnötige, aber hervorragende Blas-
musikkapelle (in Schottenröcken aus
Plastik! – Kostüme: Beatrice von Bom-
hard) nichts mehr retten.
Was immer man von Doderer halten
mag, es bleibt auch diesmal dabei –
kein Roman muss auf eine Bühne
gebracht werden. Und schon gar nicht
so. MARTIN LHOTZKY

E


in Klebekreis in Knallorange hat
sich in der Troisdorfer Burg Wis-
sem auf den Fußboden im ersten
Stock verirrt, ein ganzes Stück jen-
seits der knallgelben Skala auf Tischhöhe,
auf der die Besucher mit einem solchen
Punkt zu markieren eingeladen sind, wo
zwischen völlig normal und komplett un-
normal sie sich selbst einordnen. Nicht
nur das Verfahren und die Farbe erinnern
an das Buch „Ich so du so — alles super nor-
mal“, in dem das Frankfurter Künstlerkol-
lektiv Labor vor zwei Jahren ein Feuer-
werk an Denkanstößen, Witzen, Provoka-
tionen, Klarstellungen und eigenen Erin-
nerungen zum Themenfeld Einzigartig-
keit und Vielfalt, Diversität und gesell-
schaftlicher Normierungsdruck veröffent-
licht hat. Der ganze Raum im Bilderbuch-
museum ist diesem Buch gewidmet, fast
der ganze erste Stock einer Gruppenaus-
stellung zum zwanzigjährigen Bestehen
der Ateliergemeinschaft. Und der ausge-
büxte Punkt auf dem Fußboden passt aufs
schönste ins Bild: Wer immer ihn dort hin-
klebte, hat die Skala ein Stück erweitert –
hinter „unnormal“ ist noch Platz für eine
unkonventionelle Antwort.
Vielfalt war in „Ich so du so“ Pro-
gramm, und der Name des Buchs wie auch
das Neben- und Miteinander der unter-
schiedlichen Illustrationsstile, Tonlagen
und Flughöhen sind exemplarisch für das
künstlerische Oktett (für das Buch ergänzt
um zwei Gäste), das es geschaffen hat. Da-
bei hatten sich Anke Kuhl, Jörg Mühle,
Moni Port und Philip Waechter als Illustra-
toren und Zuni Fellehner und Kirsten Fa-
binski als Kommunikationsdesignerin-
nen-Duo von Zubinski schon einen Na-
men gemacht, bevor die ersten Bücher un-
ter Beteiligung aller veröffentlicht wurden
und bevor die Autorin Alexandra Maxei-
ner und die Illustratorin Natascha Vlaho-
vić2008 zu den anderen in die Räume in
Sachsenhausen zogen, die zuvor ein Zahn-
arztlabor beherbergten und so der Gruppe
den gemeinsamen Namen gaben.
Schon zum zehnjährigen Bestehen der
Ateliergemeinschaft, erzählt die Direkto-
rin Pauline Liesen, hatte das Bilderbuch-
museum an eine Ausstellung gedacht. Da-
mals hätte sie noch ohne Werke wie das
„Kinder Künstler Kritzelbuch“ auskom-
men müssen, ein Anregungsbuch voller
guter Ideen, die Raum bieten für noch bes-
sere. „Kritzel krakeln“, heißt es über einer
Seite im „Wilden Kinder Künstler Kritzel-
mini“, „Kraken kitzeln“ direkt daneben,
und ganz unten in der Ecke verrät irgend-
ein Puscheltier: „Macht beides Spaß“.
Glaubt man sofort. Zusammen kommt die
Reihe inzwischen auf eine Auflage von 1,
Millionen Exemplaren. Bücher wie „Alles
Familie!“ von Alexandra Maxeiner und
Anke Kuhl, „Das mutige Buch“ von Moni
Port, „Zwei für mich, einer für dich“ von
Jörg Mühle oder Philip Waechters „Toni —
und alles nur wegen Renato Flash“, Werke
also, die man sich in jedem Kinderzimmer

nur wünschen kann, sind im vergangenen
Jahrzehnt entstanden. In der Auswahlbio-
graphie, die den Ausstellungskatalog ab-
schließt, nehmen die Jahre seit 2010 dop-
pelt so viel Raum ein wie die davor.
Den Ausstellungsplatz teilen sich die
acht Künstler in bewährter Form: Es gibt
Gemeinschafts-, Einzel- und Mitmachräu-
me. Neben dem leuchtend gelben Normali-
tätstisch bietet eine Mülltonne viel Platz
für Komplexe aller Art: einfach auf einen
Zettel schreiben und einwerfen, sie wer-
den fachgerecht entsorgt. Bis über manns-
hoch ist der nächste Raum mit Kritzelein-
ladungen für Kinder-Künstler tapeziert,
notfalls muss eben auf den Schultern der
Eltern gearbeitet werden. Ein Abglanz der
Mitmachaktionen, für die das Labor be-
kannt ist.
Die Dynamik Philip Waechters, die La-
konik Anke Kuhls, die Komik Jörg Müh-
les, die so unterschiedlichen grafischen
Zugänge von Moni Port und von Zubinski,
beide mit einem besonderen Interessa an
der Form, machen klar, welches Spektrum
sich in der Mörfelder Landstraße gefun-
den und entwickelt hat. Buchumschläge
für erwachsene Leser und freie grafische
Arbeiten zeigen, dass sich der Blick und
der Witz der Laboranten nicht allein aus
dem Leben mit Kindern, den Begegnun-
gen auf Augenhöhe und dem regen Aus-
tausch in der Gemeinschaft nährt: Hier
werden dunklere Klänge angeschlagen,
wird eine formale Strenge ausprobiert
oder eine Anspielung weitergetrieben,
wie sie in den Bilder- und Kinderbüchern
kaum zu finden sind. Wiewohl auch in ih-

nen stets zu ahnen ist, dass der Horizont
dieser Künstler nicht bei den Illustratio-
nen für diese Altersgruppe endet.
Am schönsten anzusehen sind in der
Troisdorfer Ausstellung die vielen Entwür-
fe und Skizzen — und am schönsten zu le-
sen die handschriftlichen Anmerkungen,
mit denen die Illustratoren ihre Werke auf
kleinen Post-it-Notizen kommentieren.
Hier erfährt man auch, dass Jörg Mühle
seinem „Nur noch kurz die Ohren krau-
len“, einem Pappbuch, mit dem kleinste
Leser ein Hasenkind bei dessen Gute-
Nacht-Routinen begleiten, gleich laborge-
mäß eine ganze Experimentenreihe voran-
gestellt hat. „Mit diesen Heftchen habe ich
abends an unserer Tochter getestet, was
funktioniert“, heißt es auf einer Notiz in ei-
ner Vitrine. Mit einem Händeklatschen
wird dem Kind im Buch der Schlafanzug
angezogen, mit einem Simsalabim liegt
das Hasenkind im Bett, und zum Lichtaus-
machen findet sich auf der letzten Seite un-
ter der Bettdecke ein Schalter. „,Schütteln‘
funktionierte beispielsweise nicht so gut“,
steht gleich nebenan bei einer Skizzendop-
pelseite, auf der ein erschrockenes Hasen-
kind kopfüber liegt. „Weia! Das war zu
wild“, war dazu als Text vorgesehen. Dass
sich die junge Testleserin der Aufgabe des
Schüttelns mit Hingabe gewidmet und so
einen Umweg zum eigenen Einschlafen
eingeschlagen hat, kann man sich gut vor-
stellen. FRIDTJOF KÜCHEMANN
Wir gratulieren – 20 Jahre Labor Ateliergemein-
schaft. Im Bilderbuchmuseum Troisdorf;
bis zum 10. November. Der broschierte Katalog
zur Ausstellung kostet 25 Euro.

F


ür die meisten Menschen sind
Zahnärzte keine Traumfeen, die
einem die sehnlichsten Wünsche
von den Lippen ablesen. Stattdes-
sen kann man schon froh sein, wenn es
nicht so schlimm wird, sobald man den
Mund aufmacht. Bei Matteo Ferrantino
ist das ein bisschen anders. Sein Zahnarzt
ist ein Hamburger Kieferorthopäde, der
Stammgast in der „Vila Joya“ war, Dieter
Koschinas legendenumranktem Zwei-
Sterne-Lokal an der Algarve. Dort arbei-
tete Ferrantino neun Jahre lang erst als
Sous-, dann als Küchenchef, nachdem er
zuvor mit Eckart Witzigmann auf Mallor-
ca und Roland Trettl im „Hangar 7“ in
Salzburg gekocht hatte. An seinem freien
Tag bereitete er für den Stammgast einen
Seebarsch im Salzmantel zu, der ihm of-
fensichtlich so gut gelang, dass der Kiefer-
orthopäde den Koch fragte, was er als
Dank dafür haben wolle. Ein Glas Cham-
pagner, sagte dieser ganz bescheiden,
doch der Arzt insistierte: Was sein tiefster
Wunsch sei, sein Lebenstraum? Da fasste
sich Ferrantino ein Herz und gestand: ein
eigenes Restaurant. Zwei Jahre später er-
öffnete er das „Bianc“ in der Hamburger

Hafencity mit Blick auf die Elbphilharmo-
nie, das heute, wiederum zwei Jahre spä-
ter, mit einem Michelin-Stern und sech-
zehn Gault-Millau-Punkten ausgezeich-
net und zur festen Größe in der hanseati-
schen Hochgastronomie geworden ist.
Matteo Ferrantino, der schon als Neun-
jähriger in den Pizzerien seines apulischen
Heimatstädtchens Mattinata auf Holzkis-
ten am Herd stand, hat das Mittelmeer an
die Elbe gebracht. Er kocht italienisch-spa-
nisch-südfranzösisch-griechisch mit gele-
gentlichen Eskapaden an den portugiesi-
schen Atlantik und hat sich dafür den pas-
senden Rahmen geschaffen: Mitten im Re-
staurant steht ein Olivenbaum aus dem

Garten seiner Familie, die Decke aus
Pinienholz ist einer Pergola nachempfun-
den, der Steinboden sieht genauso aus wie
das Straßenpflaster in Mattinata, in den
Toiletten läuft man über das Trottoir des
Passeig de Gràcia in Barcelona. Und wenn
man sieht, mit welcher Akribie der Chef
vor dem Service jede Serviette, jedes Glas,
jeden Stuhl millimetergenau in Position
rückt, dann ahnt man, wie ernst es ihm mit
seinem hanseatisch-mediterranen Lebens-
traum ist – sehr zum Wohlgefallen der Kie-
ferorthopädenmärchenfee, die nicht nur
zu Ferrantinos Geschäftspartner und In-
vestor, sondern auch zu seinem Trauzeu-
gen und väterlichen Freund geworden ist.
Bei einem Stern soll der Traum offen-
sichtlich nicht enden, und so beginnt Fer-
rantino sein Menü mit einer spektakulä-
ren Parade aus neun Raffinessen, vom
Chef persönlich mit dem Aplomb der Ita-
lianità dargereicht auf den maritim inspi-
rierten Glasskulpturen einer Barceloneser
Designerin – drei ist die Wurzel aus neun,
ein Schelm, der dabei Böses denkt, was
niemand muss, denn die Show schmeckt
fabelhaft: Ein grüner Apfel-Meerrettich-
Gazpacho wird ins Reagenzglas gefüllt,
eine trügerisch echt aussehende Austern-
perle ist aus Austernaromen nachgebaut,

das Piri-Piri vom Huhn entpuppt sich als
Praline aus Mousse mit einem Tupfer Pi-
ment d’Espelette, und der Oktopus ruht
mit symmetrisch verschlungenen Armen
wie eine Krone auf einem Thron aus Kar-
toffelstroh. Danach gibt es das proletari-
sche Kontrastprogramm in Gestalt von
„Matteos Schulbrot“, einer Focaccia mit
reichlich Olivenöl, Rosmarin, Thymian
und Knoblauch, das in echtem Pausenbrot-
papier steckt und die letzten Zweifel dar-
an beseitigt, dass Matteo Ferrantino in
Hamburg nichts anderes tut, als seine Bio-
graphie nachzukochen.
Für eine verfeinerte Cucina casalinga,
ist der Chef des Hauses viel zu ambitio-
niert. Ihm geht es um eine hochraffinierte
Hochküche auf der Basis des Mare Nos-
trum mit hohem, manchmal exzessivem
Pinzetteneinsatz. Ein Langostino kommt
pochiert und als Tatar in einem Sud aus
Bergamotte und Tomate mit Langostino-
Kaviar und einem Croustillant im Pata-Ne-
gra-Mantel auf den Tisch und hat in diesen
Metamorphosen nichts mehr mit seinen
schlichten Brüdern zu tun, die mit Knob-
lauch in die Pfanne gehauen werden. Ein
grandioser Carabinero wird vorsichtig an-
gebraten, mit Blumenkohl als Creme, Ge-
lée, Scheibe und Raspel kombiniert und ei-
nem konzentrierten Paella-Sud nappiert,
der wie die verflüssigte Seele des valencia-
nischen Nationalgerichts schmeckt. Und
als Clou bekommt man dazu ein Dutzend
dehydrierter Safran-Reiskörner in einem
durchsichtigen Bonbon aus neutraler Kar-
toffelstärke, die sich auf der Zunge wie Ala-
dins Flaschengeist in den authentischen
Geschmack des Paella-Reises verwandeln.
„Simple and sexy“ nennt Matteo Fer-
rantino seine Küche, der wie ein Confe-
rencier durch sein Restaurant schwebt, im-
mer höchstpersönlich um das Wohlerge-

hen seiner Gäste besorgt. Bis zu diesem
Moment klingt das allerdings wie die Ko-
ketterie eines detailversessenen Fein-
motorikers, doch nun wird es tatsächlich
zum Motto des Menüs. Die Rotbarbe ist
nur kurz abgeflämmt und liegt ganz ohne
Spektakel mit einem Kartoffeltaler und
Zitrone als Zesten und Gel in einer Sauce
aus ihrer Leber und Seeigel. Die Brust
vom Maisstubenküken wird ohne Volten
und Kapriolen im Ofen gegart, das finger-
kleine Schnitzel aus ihrer Keule herrlich
knusprig paniert, die Paprika als Creme
und Praline serviert und das Ganze mit
dem Jus des Stubenkükens kombiniert –
das ist die Quintessenz der Mittelmeer-
küche, die sich vollkommen auf die Quali-
tät ihrer Grundprodukte verlassen kann,
sie ohne Zirkusakrobatik auf den Tisch
bringt und trotz dieser Einfachheit ihren
Essern Ekstase schenkt.

Beim Dessert juckt es Ferrantino dann
aber wieder in den Pinzettenfingern. Die
Caramélia-Schokolade hält sich einen Hof-
staat aus Feige, Vanille und Zimt, die ver-
spielte Gesellschaft nimmt die Gestalt von
Coulis und Gelée, Eis und Espuma an, was
schön aussieht, aber nicht unbedingt aro-
matischen Mehrwert beschert – was wie-
derum Matteo Ferrantino gern verziehen
sei. Er ist erst seit zwei Jahren sein eigener
Chef, hat in dieser kurzen Spanne das Herz
der Hamburger im Sturm erobert, mag als
Koch noch den einen oder anderen stilisti-
schen Haken schlagen, besitzt aber Talent
im Überfluss, um einer der Großen unter
seinesgleichen zu werden. Darauf trinken
wir ganz bescheiden ein Glas Champa-
gner. JAKOB STROBEL Y SERRA

Bianc,Am Sandtorkai 50, 20457 Hamburg,
Telefon: 040/18119797, http://www.bianc.de.
Menü ab 115 Euro.

Lebenstraumerfüllung mit


Elbphilharmonieblick


Abbildung „Warum heißt der Löwe Löwe“, Klett Kinderbuch 2019


Geschmackssache


Kritzel krakeln, Kraken kitzeln

Löwt! Abbildung aus Jörg Mühles jüngstem Bilderbuch


Katrin Grumeth und Peter Fasching in
Doderers „Die Merowinger“ Foto Volkstheater

Darauf ist in der Tat noch niemand ge-
kommen: Seine Bewerbung um den
Titel einer europäischen Kulturhaupt-
stadt im Jahr 2025 wird Hannover als
Roman abgeben. Damit nimmt man
die Bezeichnung „Bid Book“ für die Be-
werbung wörtlich, und mit dem ortsan-
sässigen Juan Guse hat man einen jun-
gen renommierten Autor gewonnen,
der die Sache der Stadt in einem fikti-
ven Gespräch zwischen den berühm-
ten Hannoveranern Leibniz und
Schwitters darstellen will. Ein Haken
ist aber dabei: Der bereits bekanntgege-
bene Romantitel „Hannover 2025 –
Agora of Europe“ klingt nicht verführe-
risch. apl

Jetzt schauen die beiden neuen Theater-
intendanten in München und Wien, An-
dreas Beck und Martin Kušej, natürlich
doof aus der Wäsche: Das australische
Regie-Zugpferd Simon Stone, auf das
sie beide gleichermaßen gesetzt hatten,
ist ihnen durchgegangen, hat die Leit-
planken durchbrochen und läuft stolz
auf einem anderen Parkett Schau. Wie
gestern bekannt wurde, hat Stone über-
raschend Gelder bewilligt bekommen,
um ein langgeplantes Filmprojekt mit
Lily James und Ralph Fiennes realisie-
ren zu können. Beck wollte seine erste
Saison als neuer Intendant des Resi-
denztheaters in München am 18. Okto-
ber mit einer Uraufführung von „Wir
sind hier aufgewacht“, einer Über-
schreibung von Calderóns Versgedicht
„Das Leben ist ein Traum“ und Mari-
vauxs Komödie „Der Streit“, eröffnen.
Da Stone seine Theatertexte während
der Proben gemeinsam mit dem Ensem-
ble entwickele, könne leider niemand
für die Regie einspringen, hieß es aus
München. Wenig später musste dann
auch Wien mitteilen, dass die für Febru-
ar 2020 geplante Inszenierung einer
Stone-Fassung von Maxim Gorkis „Die
Letzten“ verschoben werden müsse.
Dass die Absage eines Regisseurs den
Ablauf gleich in zwei großen Theater-
städten durcheinanderbringt, wirft die
Frage auf, ob es im Moment wirklich so
wenig Auswahl auf dem Regiemarkt
gibt, dass alle gerade den wollen müs-
sen, der selbst nicht will? stra

Wenn Watschen nicht


helfen, dann eben plauzen


In Wien beginnt die Theatersaison mit zwei


Romanadaptionen von Heimito von Doderer


Der Regisseur, Schauspieler und Thea-
terleiter Roberto Ciulli erhält den Deut-
schen Theaterpreis „Der Faust 2019“
für sein Lebenswerk. Mit Ciulli ehre
man einen Theatermacher, der es seit
fast vierzig Jahren verstehe, sein Thea-
ter an der Ruhr in Mülheim „mit Hu-
mor, Menschenkenntnis, Ernst und Lie-
be“ weiterzuentwickeln, teilte die Jury
mit. Der „Faust“-Theaterpreis wird von
der Kulturstiftung der Länder, der Deut-
schen Akademie der Darstellenden
Künste und dem Deutschen Bühnenver-
ein in Köln vergeben. In diesem Jahr
sind das Land Hessen und die Stadt Kas-
sel Partner. Mit der Auszeichnung wer-
den herausragende künstlerische Leis-
tungen in acht Kategorien geehrt. No-
miniert für weitere Preise sind unter an-
deren die Darstellerin Maja Beckmann
sowie die Choreographen Edward Clug
und Anne Teresa de Keersmaeker. Der
„Faust“-Preis ist undotiert. Die Verlei-
hung wird am 9. November im Staats-
theater Kassel stattfinden. dpa

Hannover, ein Buch
Bewerbung Kulturhauptstadt 2025

Durchgegangen
Simon Stone sagt Premieren ab

Humor und Liebe
Faust-Preis für Roberto Ciulli

Eine glückliche Schicksalsfügung hat Matteo Ferrantino von
Apulien über die Algarve in die Hamburger Hafencity verschlagen,
in der er das Mare Nostrum kunstvoll auf den Tisch bringt.

#). +3)."A3;

4/0 %32A3><3. ?:
$)3,A37 *A"@)3;

');" %9+=@@3.! &".A); (6553;<3.-

Die Illustratorenszene


ist ohne sie schwer


vorstellbar. Dass es ihre


Ateliergemeinschaft


schon zwanzig Jahre


gibt, genauso: Das


Bilderbuchmuseum


Troisdorf ehrt das


Labor aus Frankfurt.

Free download pdf