Frankfurter Allgemeine Zeitung - 13.09.2019

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SEITE 6·FREITAG, 13. SEPTEMBER 2019·NR. 213 Politik FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


fia.FRANKFURT, 12. September. Russi-
sche Polizeibeamte haben am Donnerstag
zahlreiche Büros und Wohnungen von Un-
terstützern des Oppositionsführers Alek-
sej Nawalnyj in ganz Russland durch-
sucht. Auf seiner Facebook-Seite schrieb
Nawalnyj am Donnerstag von 200 Orten
in 41 Städten, die durchsucht worden sei-
en in dem „größten Polizeieinsatz in der
Geschichte des modernen Russlands“.
Als offiziellen Grund für die Polizeiaktion
nannten die Behörden Ermittlungen ge-
gen Nawalnyjs Antikorruptionsstiftung
wegen angeblicher Geldwäsche. Dabei
soll es um eine Summe von einer Milliar-
de Rubel (13,7 Millionen Euro) gehen.
Der Oppositionspolitiker wies die Vorwür-
fe als absurd zurück.
Nawalnyjs Stiftung hatte immer wieder
zu Korruptionsfällen bekannter russi-
scher Politiker recherchiert, unter ande-
rem hatte sie auch über Regierungschef
Dmitrij Medwedjew berichtet. Neue Ent-
hüllungen richteten sich gegen die Mos-
kauer Stadtführung. Der Oppositionspoli-
tiker warf den Behörden in seinem Face-
book-Beitrag am Donnerstag „Hysterie“

vor und forderte dazu auf, sich gegen Pu-
tin und dessen Partei „Einiges Russland“
einzusetzen. Er teilte ein Video, in dem
Männer in schwarzen Uniformen in ein
Büro der Stiftung eindringen. Dazu
schrieb er: „Kann man eine solche Macht
unterstützen? Diejenigen, die auf den Ver-
lust einiger Abgeordneter so reagieren?“
Der Oppositionspolitiker und sein Team
hatten wegen des Ausschlusses Oppositio-
neller von den Regionalwahlen regelmä-
ßig zu Protesten in Moskau aufgerufen.
Bei den Wahlen am vergangenen Sonntag
musste die Kremlpartei „Einiges Russ-
land“ vor allem in der Hauptstadt schwe-
re Verluste hinnehmen. Die kremltreuen
Kandidaten errangen nur noch 25 von 45
Sitzen im Stadtparlament, 13 weniger als
vor fünf Jahren.
Nawalnyjs Sprecherin Kira Jarmisch
verurteilte die Durchsuchungen als „Akt
der Einschüchterung“. Sie warf den Be-
hörden vor, die Opposition mundtot ma-
chen zu wollen. „Das einzige Ziel der Poli-
zei ist es, unsere Unterlagen zu beschlag-
nahmen und unsere Arbeit lahmzulegen.
Aber wir werden nicht aufhören.“

KIEW, 12. September. Der im Mai ins
Amt gekommene Präsident der Ukraine,
Wolodymyr Selenskyj, macht sich ener-
gisch an die Arbeit. Nachdem seine junge
Partei „Diener des Volkes“ in den Parla-
mentswahlen im Juli fast sechzig Prozent
der Mandate eroberte, hat der frühere
Schauspieler und Filmproduzent großen
Spielraum, weitreichende Gesetzentwür-
fe durch die Kammer zu bringen. Seit An-
fang dieses Monats macht er von der Mög-
lichkeit Gebrauch. Die wohl wichtigste
Änderung: Das Parlament schaffte die Im-
munität der Abgeordneten ab und änder-
te damit die Verfassung.
In dieser Abstimmung hatte Selenskyj
nicht nur alle Parteifreunde auf seiner
Seite, sondern auch alle Oppositionsab-
geordneten außer der russlandfreundli-
chen „Oppositionsplattform – Für das Le-
ben“. Somit stimmten fast neunzig Pro-
zent der Volksvertreter dafür, vom 1. Ja-
nuar an wie jeder Bürger (fast) uneinge-
schränkt einer Strafverfolgung unterlie-
gen zu können, ohne dass das Parlament
eigens zustimmen müsste. Das traditions-
reiche Instrument der Immunität wurde
dafür erfunden, Abgeordnete vor einer
machtgierigen Obrigkeit zu schützen.
Dessen ungewöhnliche Aushebelung ist
vor dem Hintergrund der jüngsten ukrai-
nischen Geschichte zu sehen: Oft genug
hatten sich in Kiew reiche und einfluss-
reiche „Oligarchen“ ganz nebenbei auch
einen Parlamentssitz „besorgt“ oder sich
eine „Fraktion“ von Vertrauensleuten im
wahrsten Sinne des Wortes zusammenge-
kauft.

Die Änderung zielt also darauf, Miss-
brauch durch solche Abgeordnete ahnden
zu können. Selenskyj sagte vor der Ab-
stimmung im Parlament in der vergange-
nen Woche, die Abgeordneten würden
„nicht für ihre politischen Entscheidun-
gen, für ihr Abstimmungsverhalten, politi-
sche oder öffentliche Äußerungen zur Ver-
antwortung gezogen“ werden. Diese „My-
then und Manipulationen“ wolle er beisei-
teräumen. Freilich setzt das Funktionie-
ren der neuen Regelung voraus, dass Miss-
brauch und Käuflichkeit auch andernorts


  • etwa bei Richtern und Staatsanwälten –
    aufhören; dort ist der Reformprozess
    noch im Gange, unter anderem mit der
    kürzlich vollendeten Einrichtung eines
    Antikorruptionsgerichts.
    Eine weitere, auf den ersten Blick über-
    raschende Änderung verspricht der Ge-
    setzentwurf über die Amtsenthebung des
    Präsidenten. Er besagt, dass das Staats-
    oberhaupt, wenn es Straftaten begeht, ab-
    gesetzt werden kann. Das Verfahren müss-
    ten allerdings mindestens zwei Drittel der
    Abgeordneten einleiten, worauf ein Son-
    derausschuss die Vorwürfe zu prüfen hät-
    te. Auch Verfassungsgericht und Obers-
    tes Gericht müssten gehört werden. Die-
    ser Gesetzentwurf entspricht Aussagen
    Selenskyjs im Wahlkampf: Er werde nicht
    an der Macht kleben, seinen Platz demü-
    tig wieder räumen, wenn „das Volk“ es
    wünsche, und überhaupt nur für eine
    Amtszeit Präsident sein. Wie ernst es ihm
    damit war, ist schwer zu sagen. Der Ge-
    setzentwurf ging durch – diesmal fast aus-
    schließlich mit den Stimmen von Selen-


skyjs „Diener des Volkes“. Allerdings hat
am Mittwoch die Partei „Europäische Soli-
darität“ des früheren Präsidenten Petro
Poroschenko den weiteren Verlauf der
Verabschiedung unter Berufung auf an-
gebliche Verfahrensfehler blockiert.
Auf der Tagesordnung der neuen Mann-
schaft Selenskyjs stehen zahllose weitere
Vorhaben. Als neu ernannter General-
staatsanwalt hat Ruslan Rjaboschapka be-
reits damit begonnen, umstrittene Staats-
anwälte zu entlassen. Schwieriger dürfte
es werden, neue zu ernennen, denn hier
melden sich – wie auch im Falle der Rich-
ter an den wichtigsten Gerichten – zivilge-
sellschaftliche Organisationen zu Wort,
oft verstärkt um ausländische und des-
halb als unbefangen geltende Fachleute.
Eine Entlassungswelle soll jetzt die Zen-
trale Wahlkommission treffen, also die
oberste Behörde, die für die ordentliche
Abhaltung aller Wahlen im Land zustän-
dig ist – und damit auch die klaren Wahl-
siege Selenskyjs und seiner Partei bestä-
tigt hat.
Der Präsident hat im Parlament den An-
trag gestellt, die ganze Kommission zu
entlassen, und dies mit einigen bestimm-
te Wahlkreise oder Kandidaten betreffen-
den, angeblich merkwürdigen Entschei-
dungen der Kommission begründet. Die
Wahlkommission hat die Kritik inzwi-
schen zurückgewiesen und in einer Erklä-
rung angedeutet, bei Selenskys Manöver
handele es sich um einen „politischen
Schritt“. Der Kiewer Politologe Oleksij
Haran sieht die Maßnahme im Zusam-
menhang mit den 2020 anstehenden Kom-

munalwahlen. Die Entlassung der Kom-
mission „steht im Kontext der Versuche
der Partei, alles unter ihre Kontrolle zu
bringen, ohne Rücksicht auf das Prozede-
re. Das ist besorgniserregend, denn es ent-
steht der Eindruck, das Wichtigste sei, zu
zeigen, wer der Herr im Hause ist.“
Wer im Parlament eine solche Mehr-
heit habe, der könne es sich durchaus leis-
ten, „alles streng nach den Regeln zu ma-
chen“. Dass etwa über den Gesetzent-
wurf zur Amtsenthebung an einem Tag so-
wohl in erster wie in zweiter Lesung abge-
stimmt worden sei, sagte Haran dem Ma-
gazin „Nowoje Wremja“, sei eine „schrei-
ende Verletzung der Geschäftsordnung“
und werfe die Frage auf, was hinter dieser
Methode stecke.
Die prägende Figur der vergangenen
fünf Jahre in der Ukraine, der vom Präsi-
denten zum Abgeordneten gewordene Po-
roschenko, sieht die Entwicklung eben-
falls mit Sorge; wohl auch, weil er selbst
ins Visier von Ermittlern geraten ist. Vo-
rige Woche lud das Staatliche Ermitt-
lungsbüro ihn vor, um ihn zu einer „mög-
lichen Beeinflussung von Richtern eines
Verwaltungsgerichts“ zu befragen, sagte
Roman Truba, der Chef der Behörde. Ver-
hören auszuweichen sei „keine sehr wirk-
same Option für eine Person, die nichts
zu verbergen hat und etwas zu ihrer Ver-
teidigung vorbringen kann“, sagte Truba
weiter. „Man wird zum Verhör kommen
müssen, wenn nicht jetzt, dann von Janu-
ar an.“ Denn dann dürfte die Immunität
auch für den Abgeordneten Poroschenko
nicht mehr gelten.

Razzien gegen Nawalnyj-Anhänger


Oppositionspolitiker: Größter Polizeieinsatz der Geschichte


Wer ist der Herr im Haus?


Selenskyj schafft die Abgeordneten-Immunität ab und macht seine Amtsenthebung möglich / Von Gerhard Gnauck


ANKARA, 12. September. Über Jahre
hatte die türkischen Künstler der Mut
verlassen, die Missstände in ihrem
Land anzuprangern. Es hatte ja schon
ein Twitter-Eintrag gereicht, um zu vie-
len Jahren Haft verurteilt zu werden.
Nun aber rüttelt ein Rap-Song das
Land auf, der nichts auslässt, was in
der Türkei im Argen liegt. Angestoßen
hat das Gemeinschaftsprojekt der Rap-
per Seniser, beteiligt haben sich 17 wei-
tere türkische Rapper.
„Susamam“ heißt ihr Rap, „ich kann
nicht schweigen“. Die Zahl der Klicks,
auf Youtube sind es schon mehr als 18
Millionen, und des „Gefällt mir“-Zei-
chens lässt erahnen, dass die Rapper
den Nerv der türkischen Gesellschaft
und vor allem der Jugend getroffen ha-
ben. Zwar kontrolliert der Staat die tra-
ditionellen Medien, nicht aber die so-
zialen Medien. Die benutzt die Jugend,
und sie hört vorzugsweise Rap.
Das Bild, das die Rapper von der Tür-
kei zeichnen, ist niederschmetternd. Es
handelt von Ungerechtigkeit und einer
brutalen Staatsgewalt, von der Berei-
cherung einiger weniger auf Kosten
der vielen und von der Herrschaft der
Starken über die Schwachen, von der
Gewalt gegen Frauen und der Zerstö-
rung der Umwelt aus Profitgier. Immer
wieder erklingt der Vorwurf, dass die
Menschen schweigen und nicht ihre
Stimme erheben.
Der Rap soll nun wachrütteln. „Ich
kann nicht aufhören, ich kann nicht
still sein“, heißt es zu Beginn. „Ich
habe nie meine Stimme abgegeben.
Mein Kopf war mit Urlaub, Reisen und
meinen Schulden beschäftigt.“ Ein Feh-
ler sei das gewesen. „Die Gerechtigkeit
ist tot. Solange es mich nicht betroffen
hat, habe ich geschwiegen, und so wur-
de ich zum Mittäter. Jetzt habe ich
Angst, einen Tweet zu verschicken,
und ich habe Angst vor der Polizei mei-
nes Landes.“
Die Rapper nennen nicht ein einzi-
ges Mal den Namen von Präsident Re-
cep Tayyip Erdogan. Und doch ist er all-
gegenwärtig: „Es ist dein Werk, die Ge-
neration ohne Hoffnung. Es ist dein
Werk, die Gesellschaft, die nicht mehr
glücklich ist. (.. .) Ich weiß nicht, wes-
halb diese Menschen ohne Schuld in
den Gefängnissen verharren. Es ist
dein Werk, dieses furchtbare Bild, das
sich vor mich stellt.“ Die Abgeordne-
ten, die mit den Steuern der Armen
Yachten und Häusern kaufen, würden
noch reicher. „Sie und die korrupten
Abgeordneten, das ist dein Werk.“
Ein zentrales Thema, das sich wie
ein Cantus firmus durch den Rap zieht,
ist das Fehlen von Gerechtigkeit. „Die
Gerechtigkeit, die du an deiner Tür wal-
ten lassen solltest, sie lässt sich nicht
mehr öffnen.“ Damit stellen die Rapper
einen Bezug zu den Gezi-Protesten her,
bei denen 2013 ein Jugendlicher er-
schossen wurde: „Das Kind ist tot, der
Beamte hat es erschossen. Aber da er
Beamter war, war er im Recht. Du warst
zwei Tage lang traurig, dann trockneten
die Tränen.“ Das lange Schweigen, es
könnte sich rächen: „Was geschieht,
wenn dich jemand zu Unrecht ins Ge-
fängnis steckt? Du wirst nicht einmal ei-
nen Journalisten finden, der dies zu ei-
ner Nachricht macht, weil sie alle in
Haft sind.“ Aber auch Deutschland
wird dafür kritisiert, dass es gegenüber
den Missständen in der Türkei
schweigt. „Schau dir Deutschland an, es
ist eiskalt wie ein Greis“.
Den Nerv der Menschen trifft der
Rap-Song, weil für viele Türken die ver-
breitete Ungerechtigkeit die Wurzel al-
ler Übel ist. Sie zählen dazu den Nepo-
tismus der Regierungspartei AKP und
eine Justiz, in der die Richter Urteile
aus Furcht sprechen, strafversetzt zu
werden. Ein Thema ist auch, dass aus
den Gefängnissen freigelassen wird,
wer über gute Kontakte verfügt oder ge-
nügend Geld hat. Eine verbreitete Kri-
tik lautet, dass die Justiz nicht Recht
spreche, sondern durch abschreckende
Urteile die Macht der Herrschaft zu
schützen habe. Das alles wird in dem
Song thematisiert.
Auch wenn keine Mächtigen nament-
lich angegriffen werden, ist die Bot-
schaft klar. Ein Rapper sagte, sie hät-
ten keine Angst vor Ermittlungen, die
gegen sie eingeleitet werden könnten.
Noch ist gegen sie keine Anzeige erstat-
tet worden. Eine Kampagne der Regie-
rungsmedien hat jedoch begonnen.
Die Zeitung „Yeni Safak“ unterstellt
den Rappern, mit linksextremen Grup-
pen zusammenzuarbeiten und Bezie-
hungen zu Terrororganisationen zu un-
terhalten, also der PKK und der Gülen-
Bewegung. Vor allem wirft sie den Rap-
pern, also denen, die vorgeben, nicht
schweigen zu können, vor, dass sie be-
reits geschwiegen hätten – und zwar im
Juli 2016 zu dem gescheiterten Putsch-
versuch und auch zum Terror der PKK.
Die Gegenkampagne lautet daher „sus-
tunuz“ – „ihr habt geschwiegen“. Ver-
fangen hat diese Gegenkampagne bis-
lang nicht. Vielmehr kehrt Mut zurück.
So hat Ahmet Hakan, ein prominenter
Kolumnist der Zeitung „Hürriyet“, ge-
schrieben, die Rapper hätten ja nur ei-
nige Missstände geschildert, viele aber
ausgelassen. Der Song hätte noch viel
länger werden müssen.


PARIS, 12. September


V


onden besänftigenden Worten des
französischen Präsidenten zur ge-
planten Rentenreform haben sich
die Gewerkschaften nicht beruhigen las-
sen. An diesem Freitag droht in der Haupt-
stadt Paris der öffentliche Nahverkehr
zum Erliegen zu kommen. Zehn der 16 Me-
trolinien bleiben geschlossen, im gesam-
ten Betrieb werden wegen Arbeitsniederle-
gungen schwere Störungen erwartet. In sel-
tener Einmütigkeit haben sich die Beschäf-
tigten des Pariser Nahverkehrsunterneh-
mens RATP mit den Streikaufrufen der Ge-
werkschaften solidarisiert. Der Kampf ist
präventiv: Die Gewerkschaften wollen der
Regierung noch vor einem Kabinettsbe-
schluss signalisieren, dass sie sich geschlos-
sen gegen die geplante Abschaffung ihres
Sonderrentensystems auflehnen.
Im März 2017 hat Emmanuel Macron
das Wahlkampfversprechen abgegeben,
dass die Sonderbedingungen in der Alters-
vorsorge „schrittweise verschwinden“ wer-
den. Doch die Gewerkschaften lehnen Ab-
striche am Sonderregime ab. „Die Rente
ist heilig“, sagte Laurent Djebali von der
bei der RATP mitgliederstärksten Gewerk-
schaft UNSA. Die Streikmeldepflicht, die
noch unter Präsident Sarkozy eingeführt
wurde, hat eine voraussichtliche Beteili-
gung von 90 Prozent der Metrozugführer
ergeben. Bei den Regionalbahnzügen
RER wollen sogar alle Zugführer streiken.
Eine derartige Machtdemonstration der
Gewerkschaften hatte es zuletzt im Okto-
ber 2007 gegeben, als Sarkozy die Privile-
gien der RATP-Bediensteten in Frage stell-
te. Sarkozy zog seine Reformpläne damals
weitgehend zurück. Wenn in der Haupt-
stadt der öffentliche Nahverkehr stillge-
legt wird, hat das nicht nur symbolische
Wirkung. In vielen Unternehmen kann
nur eingeschränkt gearbeitet werden, weil
Arbeitnehmer nicht zum Arbeitsplatz ge-
langen.
Emmanuel Macron schlägt angesichts
des erwarteten „schwarzen Freitags“ sanf-
te Töne an. Er gibt sich von den zurücklie-
genden „Gelbwesten“-Protesten geläutert
und will sich bei der Reform der Rentenver-
sicherung jetzt noch mehr Zeit lassen – da-
bei hat er seinen „Hochkommissar für Ren-
ten“, Jean-Paul Delevoye, und andere Gre-
mien schon zweieinhalb Jahre lang Emp-
fehlungen ausarbeiten lassen. „Wir neh-
men uns die notwendige Zeit“, kündigte
Premierminister Edouard Philippe am
Donnerstag an. Nächste Woche soll eine
neue Beratungsrunde mit den Sozialpart-
nern anlaufen, deren voraussichtliches
Ende auf Anfang Dezember angesetzt wur-

de. Vor den landesweiten Kommunalwah-
len im März 2020 wird kein Gesetzentwurf
zur Rentenreform mehr über den Kabi-
nettstisch gehen. Macron will es sich mit
seiner Kernwählerschaft nicht verderben,
zu der Franzosen über 60 Jahre zählen.
Laut neuem Zeitplan soll das Parlament
eine neue Rentenreform erst kurz vor der
Sommerpause 2020 beschließen.

Um den erwarteten Unmut über geplan-
te Veränderungen zu kanalisieren, will die
Regierung schon Ende September eine
„große Debatte“ wie während der „Gelb-
westen“-Protestwelle anstoßen. Dieses
Mal soll es eine „Mini-Große-Debatte“
werden, wie es im Elysée-Palast heißt. Der
Präsident, der im Frühjahr stundenlang
mit seinen Landsleuten über die Zukunft
debattierte, will sich aber wieder beteili-
gen. Er habe „das Zuhören gelernt“, heißt
es aus dem Elysée.
Der Regierungschef kündigte am Don-
nerstag zudem die Schaffung eines Debat-
tenforums im Internet an, auf dem die
Franzosen ihre Sorgen und Vorschläge zur
Altersversorgung äußern können. Frank-
reich leistet sich derzeit 42 Sonderrenten-
systeme für einzelne Berufsgruppen, die
sich größtenteils nicht selbst finanzieren.
Bei der RATP etwa decken die Beiträge
nur gut ein Drittel der Ausgaben für die

Rentenempfänger, bei der Bahn ist es ähn-
lich. Die Steuerzahler bezuschussen in
Frankreich diese Sonderregime, aber die
wenigsten wissen das.
Macron hat seiner Regierung deshalb
eine aufklärerische Mission gegeben. Sein
Plan sieht ein System vor, in dem Arbeit-
nehmer ihr Berufsleben lang Punkte für
die Rente sammeln können. Wer länger ar-
beitet, bekommt mehr Punkte. Diese „Indi-
vidualisierung“ der Rentenansprüche miss-
fällt den Gewerkschaften, die sich in
Frankreich auf die Verteidigung bestimm-
ter Berufsgruppen konzentriert haben. Ge-
rade im öffentlichen Sektor, in dem die Ge-
werkschaften noch recht stark sind, dro-
hen sie über die geplante Reform ihre
Klientel zu verlieren. Macron wiederum
hat seinen Verhandlungsspielraum selbst
eingeschränkt, weil er versprochen hat,
nicht am Renteneintrittsalter zu rütteln.
Das liegt noch immer bei 62 Jahren.

bin./bub. HANNOVER/BERLIN, 12.
September. Die Evangelische Kirche in
Deutschland (EKD) will sich an der Ent-
sendung eines weiteren Schiffes zur See-
notrettung im Mittelmeer beteiligen. Der
EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-
Strohm kündigte am Donnerstag in Berlin
an, dass man dafür gemeinsam mit ande-
ren Organisationen einen Verein gründen
werde, der das Schiff kaufen und betrei-
ben solle. An dem „breiten gesellschaftli-
chen Bündnis“ können sich kirchliche Ein-
richtungen und Hilfsorganisationen, aber
auch Schulen oder Sportvereine sowie Pri-
vatleute beteiligen. „Dass Menschen ster-
ben, ist etwas, was nie jemand hinnehmen
kann – erst recht nicht Menschen, die sich
dem christlichen Glauben verpflichtet füh-
len“, sagte Bedford-Strohm. Ankauf und
Umbau des Schiffes würden Kosten im ho-
hen sechsstelligen oder niedrigen sieben-
stelligen Bereich verursachen.
Die EKD unterstützt bereits ein Aufklä-
rungsflugzeug der Organisation Sea
Watch mit jährlich 100 000 Euro. Der
Evangelische Kirchentag hatte die EKD
im Juni aufgefordert, darüber hinaus ein ei-

genes Rettungsschiff zu entsenden. Diese
Option wurde vom EKD-Rat aber verwor-
fen. „Die Kirche ist weder eine Reederei
noch eine Rettungs-NGO“, sagte Bedford-
Strohm im Juli im Gespräch mit dieser Zei-
tung. Lob kam von den Grünen. „Zivile Or-
ganisationen füllen mit ihrem Einsatz das
Vakuum, das die europäischen Regierun-
gen durch ihr Nichtstun hinterlassen ha-
ben“, erklärten die Fraktionsvorsitzende
Katrin Göring-Eckardt und die Sprecherin
für Flüchtlingspolitik, Luise Amtsberg.
Bundesinnenminister Horst Seehofer
(CSU) kündigte am Donnerstag an, kom-
mende Woche mit der neuen italienischen
Innenministerin Luciana Lamorgese über
die Seenotrettung zu sprechen. Es gehe
darum, Menschen zu retten, ohne Anreize
für Schleuser zu schaffen, sagte er. „Ich
denke, wir müssen nicht darüber diskutie-
ren, dass wir Menschen vor dem Ertrin-
ken retten, aber wir wollen ein Regelver-
fahren, das diese erbärmlichen Zustände
der letzten Monate vermeidet.“ Bei einer
Konferenz Ende September will Seehofer
mit Italien, Frankreich und Malta einen
Vorschlag für den EU-Rat erarbeiten.

Jusos für Esken/Walter-Borjans
Im Rennen um den SPD-Vorstand unter-
stützen die Jusos die Kandidaten Saskia
Esken und Norbert Walter-Borjans.
Das habe der Bundesvorstand „nach
ausführlicher Diskussion“ einstimmig
beschlossen, teilte der Vorsitzende der
SPD-Nachwuchsorganisation, Kevin
Kühnert, am Donnerstag mit. „Saskia
Esken und Norbert Walter-Borjans trau-
en wir aufgrund ihrer bisherigen politi-
schen Arbeit in besonderer Weise zu,
unsere Erwartungen zu erfüllen“, sagte
Kühnert. Mit ihrem Plädoyer für eine ge-
rechtere Verteilungspolitik wollten die
Bundestagsabgeordnete und der ehema-
lige NRW-Finanzminister einen hand-
lungsfähigen und am Gemeinwohl ori-
entierten Staat schaffen. Die Mitglieder
seien in ihrer Wahlentscheidung aber
frei, hob Kühnert hervor. (dpa)

Warnung vor Rechtsextremen
Der Präsident des hessischen Landes-
amts für Verfassungsschutz, Robert
Schäfer, hat vor einem „wachsenden
Selbstbewusstsein“ und einer „Gewalt-
orientierung innerhalb der rechtsextre-
mistischen Szene“ gewarnt. Hessen lie-
ge zwar, was die Zahl der rechtsextrem
motivierten Gewalttaten angehe, insge-
samt unterhalb des Bundesdurch-
schnitts, doch gelte es, wachsam zu blei-
ben, sagte Schäfer. Die rechtsextreme
Szene werde heterogener und versuche,
sich mit „antidemokratischen und auto-
ritären Positionen“ in den öffentlichen
Diskurs einzumischen sowie Verbin-
dungen zum nichtextremistischen Teil
der Gesellschaft zu knüpfen. In Hessen
kam es zuletzt zu mehreren Gewaltta-
ten durch Rechtsextreme. (jib.)

Facebook blockiert Netanjahu
Facebook hat den Chatbot des Profils
von Israels Ministerpräsident Benja-
min Netanjahu am Donnerstag für 24
Stunden gesperrt, nachdem dort eine
Hetzbotschaft gegen eine Linksregie-
rung und gegen arabische Israelis er-
schienen war. In Israel wird am Diens-
tag gewählt. Besucher von Netanjahus
Facebook-Seite hatten laut Medienbe-
richten eine Nachricht des automatisier-
ten Chat-Assistenten erhalten. Darin
wurde demnach dazu aufgerufen, Wäh-
ler für Netanjahus Likud-Partei zu ge-
winnen. Diese sollten gewarnt werden
vor der Gefahr einer „säkularen, links-
gerichteten, schwachen Regierung“,
die gestützt wäre auf „Araber, die uns
alle zerstören wollen – Frauen, Kinder
und Männer“. Facebook teilte mit, der
Eintrag habe die Richtlinien für Hassre-
de verletzt. Eine Sprecherin des Likud
nannte die Nachricht ein „Versehen ei-
nes Mitarbeiters“. Netanjahu distanzier-
te sich von der Nachricht. (cmei.)

Hungerstreit in Tunesien
Drei Tage vor der Präsidentenwahl in
Tunesien ist der inhaftierte Kandidat
und Medienmogul Nabil Karoui in ei-
nen Hungerstreik getreten. Damit wol-
le er gegen seine Haft während des ge-
samten Wahlkampfes protestieren,
hieß es am Donnerstag aus seinem
Umfeld. Einer seiner Verteidiger sagte
dem Radiosender Mosaique FM,
Karoui fordere seine Freilassung und
sein Recht, bei der Wahl seine Stimme
abgeben zu können. Der 56 Jahre alte
Medienunternehmer gilt als einer der
aussichtsreichsten Kandidaten. Er war
vor drei Wochen kurz vor dem Beginn
des offiziellen Wahlkampfs festgenom-
men worden. Gegen ihn wird wegen
des Verdachts auf Steuerhinterziehung
und Geldwäsche ermittelt. (dpa)

Das große Zuhören

Guntis Ulmanis 80
Dass er 1993 der erste Präsident Lett-
lands nach der Wiedererlangung der
Unabhängigkeit wurde, verdankt Gun-
tis Ulmanis auch seinem Familienna-
men: Sein Großonkel Karlis Ulmanis
war 1918 der erste Ministerpräsident
des unabhängigen Lettlands, und er
war Staatspräsident, als es 1940 von
der Sowjetunion besetzt wurde. Wäh-
rend der ersten Jahrzehnte seines Le-
bens war diese Beziehung für Guntis
Ulmanis freilich eine Belastung: 1941
wurde die ganze Verwandtschaft nach
Sibirien deportiert, wo der Vater ein
Jahr später umkam. Weil er nach der
zweiten Heirat seiner Mutter einen an-
deren Nachnamen trug, konnte Guntis
Ulmanis in den sechziger Jahren studie-
ren, in die Kommunistische Partei
eintreten und eine bescheidene Karrie-
re machen – die abrupt endete, als sei-
ne Verwandtschaftsverhältnisse aufge-
deckt wurden. Als Ende der achtziger
Jahre die Unabhängigkeitsbewegung
begann, nahm Guntis Ulmanis den al-
ten Namen an und ging in die Politik.
Nach seiner Wahl wurde der Name wie-
der eine Belastung: Der mit dem Fa-
schismus sympathisierende Großonkel
hatte seit 1934 autoritär geherrscht.
Moskau nutzte diese Namenskontinui-
tät, um Lettland ins Zwielicht zu rü-
cken. Guntis Ulmanis freilich konnte
bald jeden Verdacht ausräumen. Libe-
ral und ausgleichend zeigte er sich vor
allem in der größten Streitfrage der let-
tischen Politik der neunziger Jahre: Er
trat für eine rasche Einbürgerung der
während der sowjetischen Besatzung
nach Lettland gekommenen Russen
ein. Nach dem Ende seiner zweiten
Amtszeit 1999 zog Ulmanis sich aus
der Politik zurück, betätigte sich aber
weiter gesellschaftlich. An diesem Frei-
tag wird er 80 Jahre alt. (rve.)

EKD beteiligt sich an Seenotrettung


Verein für den Erwerb eines Schiffs soll gegründet werden


„Es ist dein


Werk“


Ein kritischer Rap-Song


rüttelt die Türkei auf


Von Rainer Hermann


Wichtiges in Kürze


Wollen sich Zeit nehmen:Frankreichs Premierminister Edouard Philippe, Gesundheitsministerin Agnès Buzyn, Regierungsspreche-
rin Sibeth Ndiaye und der Hochkommissar für die Rentenreform, Jean-Paul Delevoye, Donnerstag im Wirtschaftsausschuss Foto AFP

Personalien


InParis droht eine neue


Protestwelle gegen


Macrons Reformpläne.


Der Präsident gibt sich


mitfühlend.


Von Michaela Wiegel

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