"wagemutiger Reisender". Sein Genom
verriet, was der Reisende noch draufhat
Er bewegt sich mithilfe einer Geißel fort,
nutzt einen Hohlraum im Innern seiner
stäbchenförmigen Zelle als Auftriebs
körper und orientiert sich anband von
chemischen Signalen. AufErkundungs
tour schwebt der "Wagemutige" dann
wie ein Zeppelin durch die von Wasser
durchspülten Gesteinslücken.
In Hunderten von Proben aus ande
ren Minen filterten TC Onstott und sei
ne Kollegen später das Erbgut weiterer
Rardeore-Mikroben heraus. Es war die
erste größere Untersuchung der "Tie
fen Biosphäre" in Südafrika. Sie belegte,
dass nicht nur Solisten das Erdinnere
besiedeln. Sondern auch Gemeinschaf
ten, deren Mitglieder Minerale zerset
zen und dabei sogar kooperieren. Ein
JointVenture in der Finsternis, komple
xer, als jeder gedacht hätte.
Vermutlich bevölkert sogar ein gan
zes Heer unterschiedlichster Winzwesen
die Klüfte. Denn die allermeisten der
unter Südafrika und anderswo in der
Erde aufgelesenen Gen-Schnipselias
sen sich bis jetzt keiner bestimmten Art
zuordnen, und es sind viele Schnipsel.
Manche Forscher vermuten, dass Hun
derte Stämme von Bakterien, Archaeen
und auch Viren dort unten existieren.
Sie sprechen von einer unbekannten
"Dunklen Materie" der Mikroben.
Niemand kann sich auch nur annä
hernd ausmalen, was genau in dieser
Materie vor sich geht. "Wir wissen über
den Aufbau unserer Sonne mehr als
über das Innenleben der Erde", hat der
amerikanische Physiker Richard Feyn
man einmal gesagt.
Aber schon denken Wissenschaftler
darüber nach, ob sich mithilfe der Son
derlinge neuartige Antibiotika oder an
dere medizinische Wirkstoffe herstel
len lassen könnten. Bisher beherrscht
zwar kein Labor die Zucht der exotischen
Kleinstwesen. Doch falls das eines Ta
ges gelingt, könnten sie der Menschheit
in mehrerer Hinsicht helfen. Indem sie
beispielsweise als Entsorger wirken.
Oder ihre Fähigkeiten im Bergbau aus
spielen, wo sie Gesteine zerlegen könn
ten. Vorbilder unter den oberirdischen
Verwandten gibt es bereits: Manche
GEO 09 2019
Bakterien entschärfen radioaktiv strahlende Hinterlassen
schaften. Andere lösen Schwermetall aus Erzen, konzentrie
ren seltene Erden.
D
I E MIKRO BENSCHAR der Tiefe lebt trotz all ih
rer Begabungen am Existenzminimum. Leiden die
Einzeller Hunger, fallen sie in eine Art Zombie-
Starre. Schrumpfen zusammen. Und das, obwohl
sie eh schon auf ein Dasein in Zeitlupe eingestellt sind. Vie
le der Minimalisten teilen sich nur alle tausend Jahre. Ein
gewöhnliches Kolibakterium produziert alle 20 Minuten
eine Kopie seiner selbst.
Onstott und Lau vermuten, dass sich die Mikroorganismen
an der Grenze des Lebens bewegen, kurz vor dem Status
"tote Substanz". Wann aber ist diese Linie überschritten? Ei
ner ihrer Kollegen hat das "Death-o-Meter" erschaffen, eine
Grafik, die wie ein Tachometer aussieht. Die Nadel zeigt an,
dass das Dasein eines Einzellers endet, wenn die chemischen
Reaktionen in seiner Hülle ganz zum Erliegen kommen- der
Stoffwechsel bricht ab. Wo die Grenze zwischen Leben und
Tod verläuft, bestimmt demnach pure Chemie. Und offenbar
gelingt es den Wesen aus dem Keller, über lange Zeit ihren
Stoffwechsel bei geringster Flamme in Schwung zu halten.
Niemand weiß, wie diese Sparversionen der Evolution in
die Hölle untertage geraten sind, wann das geschah und wo
her sie stammen. Eines ist bekannt: Vor zwei Milliarden Jah
ren ging 70 Kilometer von der Mine entfernt ein gigantischer
Meteorit nieder. Sein Einschlagsgebiet, der Vredefort-Kra
ter, ist noch heute aus dem All auszumachen.
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ln einer benachbarten
Mine entdeckten
Forscher den »Teufels
wurm«, einen mikro
skopisch kleinen
Räuber, der sich von
Einzellern ernährt.
Von diesen existieren
viele in der Tiefe:
Mindestens ein Zehn
tel der Biomasse des
Planeten, vermuten
Wissenschaftler,
ist in der Erdkruste
beheimatet
ln Plastikfläschchen
lässt Maggie Lau
Wasser aus einem
Bohrloch zur Analyse
ins Labor schaffen.
Bisher haben Wissen
schaftler nur wenige
Mikrobenarten in der
Tiefe entdeckt, aber
viele unterschiedliche
Bruchstücke aus
der DNA einzelliger
Lebewesen gefunden.
Was darauf hindeutet,
dass im Erdinnern
eine große Schar der
Winzlinge zu Hause ist
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